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Flucht über den Himalaja

China, das Riesenreich mit seinem enormen Wirtschaftswachstum, ist ein Land der Gegensätze: Der Glitzermetropole Shanghai steht das Elend der Wanderarbeiter, der Bauern und nicht zuletzt auch die Unterdrückung und Vernachlässigung ethnischer Minderheiten wie der Mongolen, der Uiguren und der Tibeter gegenüber. Allein zwei- bis dreitausend junge Tibeter fliehen deshalb jährlich über die Grenze im Süden nach Nepal.

Von Ingrid Norbu | 18.08.2007
    " Meine Verwandten haben mir erzählt, dass der Dalai Lama ein sehr bedeutender Mensch ist und dass der Ort in Indien, wo er wohnt, sehr schön sein soll. Deshalb habe ich Tibet verlassen. "

    Er nennt sich Tenzin, ist 16 Jahre jung und hat aufregende Tage hinter sich, ehe er das Flüchtlingsempfangszentrum in Nepals Hauptstadt Kathmandu erreichte.

    " Mein Freund und ich sind einfach losgelaufen, ohne unseren Familien Bescheid zu sagen. Von unserem Dorf aus waren wir zunächst einen Tag zu Fuß unterwegs. Dann ging es weiter mit dem Auto nach Dram an der nepalesischen Grenze. Weil wir keinen Pass haben, mussten wir die Straße dort meiden. Durch den Dschungel und über Berge gingen wir bis nach Nepal. Ein alter Nepalese hat uns begleitet. Um eine Brücke zu überqueren, mussten wir 500 Yuan zahlen, umgerechnet 50 Euro. Auf der anderen Flussseite trafen wir einen tibetischen Mönch, mit dessen Hilfe wir weiter nach Katmandu gegangen sind. Leider kann ich meine Fluchtgeschichte nicht so gut erzählen. "

    Grenzstation Dram an der tibetisch-nepalesischen Grenze. Die an den steilen Hang gesetzten Hotels sind umgeben von Dschungel. Unten braust der Bhote Kosi Fluss in Richtung Süden. Nepalis tragen das Gepäck der Touristen, die aus Tibet ein- oder ausreisen, über die so genannte Freundschaftsbrücke. Dort herrscht strenges Fotografierverbot. Reglos blicken Grünuniformierte auf die vorbeiziehende Schar der Touristen aus dem Westen. Nachts werden die Routen durch den nahen Dschungel von den Flüchtlingen benutzt.

    " An den Hauptstraßen sind die Sicherheitsvorkehrungen der Chinesen streng, aber in den Dschungel trauen sie sich nicht. Ich glaube aber, dass die nepalesischen Eskorten der Flüchtlinge den Chinesen auch etwas von ihrem Verdienst abgeben müssen, wie eine Steuer oder eine Art Bonus. "

    Es ist wie ein Katz- und Mausspiel, sagt Tseten Wangchuk, die sich um die Flüchtlinge kümmert, die es bis Kathmandu geschafft haben. Eine Strafe wegen illegalen Grenzübertritts muss dort zunächst an die Behörden in Nepal bezahlt werden. Nur zwei Wochen dürfen sich die Flüchtlinge im Land aufhalten, dann müssen sie nach Indien in die tibetische Exilgemeinde weiterreisen. Der Druck der Chinesen auf Nepal ist groß. Manchmal werden die Flüchtlinge von Vertretern der chinesischen Botschaft in Kathmandu und der nepalesischen Polizei an die Grenze zurückgebracht. In Tibet erwartet sie oft eine Haftstrafe. Ist die abgesessen, versuchen einige wieder, nach Nepal zu kommen, sagt Tseten Wangchuk.

    " Wer überhaupt noch in Tibet bleibt, dem fehlt das Geld, denn es ist teuer, über die Grenze zu flüchten. Eine Eskorte über die Himalajapfade kostet umgerechnet 800 bis tausend Euro. Das ist sehr viel für Tibeter. Ich arbeite hier seit sieben Jahren im Empfangszentrum als Lehrerin. Wir befragen die Kinder und Jugendlichen, die kommen. Sie sagen uns immer wieder dasselbe: Nicht genug Jobs in Tibet, keine Bildungsmöglichkeiten, keine Freiheit. Deshalb verlassen sie ihr Land. "

    Tibet? Das sind vor allem Sand und Steine. Ab und zu Nomadenzelte, Yaks oder Schafe in nahezu graslosen Ebenen. Am Horizont schneebedeckte Berge. Auf den holprigen Pisten kommt man selbst mit Allradfahrzeugen nur langsam voran. Seit 50 Jahren soll Tibet, der Westen Chinas, wirtschaftlich erschlossen werden. Das Gebiet hat viel zu bieten: Erdöl, Naturgas, Wind- und Wasserkraft, Kupfer, Uran, Gold. Doch Infrastrukturprojekte wie Straßen und Eisenbahnbau oder Flughäfen in einer Höhe zwischen vier und fünftausend Metern sind nicht einfach zu realisieren. Extreme Hitze und Kälte, Sand- und Schneestürme erschweren die Arbeit nicht nur, sie können sie auch schnell wieder zunichte machen.

    Vermummt gegen Hitze und Staub schleppen Straßenarbeiter Steine. Unter ihnen sind auch viele junge Frauen. Mehr als umgerechnet zwei Euro am Tag bekommen sie nicht für ihre Knochenarbeit. Nicht nur die Ingenieure, sondern auch das Heer der Hilfsarbeiter kommt zunehmend aus China. Während national-strategische Projekte wie der Abbau von Bodenschätzen direkt von der Zentrale in Peking gelenkt werden, sind Bildung und Entwicklung in Tibet eher eine lokale Angelegenheit. Nicht alle Tibeter sind arm und ungebildet. Viele lernen Chinesisch und kooperieren mit den Besatzern, in der Hoffung auf ein besseres Leben.

    " Um die reichen Tibeter in den Städten kümmern sich die Chinesen schon, aber in entlegenen Gebieten gibt es weder Schulen, noch Krankenhäuser. In den Klöstern leben zwar Mönche, aber die dürfen arme Kinder nicht mehr unterrichten. Die leiden auch selbst unter ihrer Rechtlosigkeit und der fehlenden Religionsfreiheit. Viele Mönche fliehen deshalb nach Indien, um in einem guten Kloster alles über den Buddhismus oder auch Englisch zu lernen. Und auch alles über ihr eigenes Land, über Tibet. "

    Tibetische Geschichte wird seit 50 Jahren im Sinne Chinas umgeschrieben und ideologisch verbrämt. Durch die Unterschiede zwischen den beiden Sprachen werden tibetische Orts- und Personennamen chinesisch ausgesprochen und bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Seit Mitte der 80er Jahre ist Tibetisch zwar die Unterrichtssprache in der Grundschule, doch in den weiterführenden Schulen hilft nur noch Chinesisch weiter. Im Exil in Indien ist es ganz anders. Hier entdecken die jungen Flüchtlinge eine neue Welt, die bis nach Tibet hineinstrahlt. Nyima Samkhar ist selbst Flüchtling aus Tibet. Allerdings lebt er schon seit fast 50 Jahren im Exil und kümmert sich heute um die Neuankömmlinge in Kathmandu.

    " Die Tibeter, die sagen können, mein Kind studiert in Indien unter der Schirmherrschaft des Dalai Lama, genießen Ruhm und Prestige in Tibet. Deshalb bereiten immer mehr ihre Kinder auf die Flucht vor, auch weil die Bildungssituation in Tibet so miserabel ist. Nur im Exil bekommen sie wirkliche Bildung. Dort fühlen sie sich akzeptiert und wohl, denn in Tibet sind sie nicht glücklich. Niemand weiß, was in ein paar Monaten oder Jahren geschehen wird. Die chinesische Politik ist wie eine Wolke, niemand weiß in welche Richtung sie zieht. Sie kann sich auflösen, aber sie kann sich auch verdunkeln. Es verunsichert die Menschen, wenn sie nicht wissen, was sie in Zukunft zu erwarten haben. "

    Ob Tenzin, der 16-jährige Flüchtling im Empfangszentrum in Kathmandu, irgendwann wieder zu seinen Eltern zurückkehrt? Nein, sagt er. Bald wird er mit seinem Freund weiter nach Indien reisen. Nach einer Ausbildung im Exil sehen sich aber doch viele gezwungen, zurück nach Tibet zu gehen, denn auch in Indien wachsen die Bäume nicht in den Himmel, jedenfalls nicht für junge Tibeter.