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Flüchtig wie die Nacht. Bekenntnisse eines New Yorkers

Fangen wir so an: Raymond Carver ist karger und weniger direkt. Philip Roth ist witziger. Scott F. Fitzgerald ist gebildeter und eleganter, Salinger war für seine Zeit radikaler und Charles Bukowski ist auf geschicktere Weise ordinär.

Antje Ravic Strubel | 24.04.2002
    Was bleibt, ist Jonathan Ames. Jonathan Ames hat ein Buch mit dem romantischen Titel "Flüchtig wie die Nacht" geschrieben, das mit allen soeben aufgezählten Größen der amerikanischen Literatur verglichen worden ist. Bret Easton Ellis nennt seinen Autor gar einen schüchternen Exhibitionisten, der es versteht, das Vulgäre vornehm erscheinen zu lassen. So viel Vorschußlorbeeren können es dem Autor schwerer machen, als er es verdient hätte, denn sie verstellen den Zugang zum Buch. Unter Umständen liest man es gar nicht. Dabei ist es eine lohnenswerte Lektüre, wenn man nicht erwartet, Ähnlichkeiten zu Carver oder so gelungene Sätze wie bei Fitzgerald zu entdecken.

    Denn Ames ist in erster Linie Kolumnist, er arbeitet für die New York Press. Und das merkt man den Episoden des Büchleins auch an, die eher locker untereinander verbunden sind. Zusammengehalten werden sie durch die Figur des 24jährigen Alexander Vine, der als Doorman in einem New Yorker In-Restaurant arbeitet. An drei Tagen der Woche ist es sein Job, Autotüren zu öffnen und Taxis heranzupfeifen. Ansonsten treibt er sich in den Straßenschluchten und den Bars herum, gibt sein Geld für blow-jobs bei Prostituierten aus oder lässt sich von Männern aufreißen; das aber nur im betrunkenen Zustand. Seine nostalgische Vorliebe für Penner verdankt er einem seiner liebsten Spiele aus der Kindheit. Sich richtig dreckig zu machen und nichts zu tun, hieß: Penner spielen. Die Folie der Großstadt, vor der die Handlung angelegt ist, ermöglicht es dem Autor, schlaglichtartig Episoden zu erhellen, die so zufällig oder nicht zufällig sind wie die Begegnungen der Menschen selbst. Dabei spielt die jüdische Herkunft Ames´, pardon: seiner Ich-Figur Vine, eine ebenso rein episodische Rolle wie das Thema Aids oder die ersten körperlichen Annäherungsversuche zweier pubertierender Jungs und ihr Scheitern. Schön kühl ist das alles erzählt, wobei Ames immer die Kürze der Erzählung im Auge hat, die in kolumnistischer Manier einzelne Beobachtungen zu anschaulichen Schilderungen bündelt.

    Aber so handfest da auch der Sex verhandelt werden mag, so angeblich unmoralisch und gleichzeitig verklemmt der Held sich durch die Nächte vögelt und vögeln lässt, so schön, wie da Inzest vorgestellt und selbst Nekrophilie noch angedeutet wird, erschrecken kann das alles nicht. Anders als sein Kollege Bred Easton Ellis, der in "American Psycho" sachliche Sexschilderungen an ebenso sachliche und darum schockierende Gewaltszenen knüpft, spricht Ames nicht von der Oberflächenhörigkeit der westlichen Konsumgesellschaft sondern von ihrer Prüderie. Dieser Prüderie ist auch der Selbstekel des Protagonisten geschuldet, als er entdeckt, dass er seine Freundin Joy gar nicht liebt, sondern sie benutzt wie ein beliebiges Sexspielzeug. Aber dieser Prüderie ist auch das Gelingen des Buches geschuldet. Denn das Angenehme daran ist gerade, dass es nicht schockiert, sondern eigentlich im traditionellen Sinne psychologisch verfährt. Und dazu bietet sich ein Protagonist an, der - unschuldig erwachsen und ein unbeschriebenes Blatt - ehrlich zu sich und der Welt sein will, im Grunde seines Herzens nach Gerechtigkeit verlangt, und so auch ehrliche Wut produziert und ohne geglätteten Blick auskommt.

    Mit Vines Blick zeichnet Ames hinter der eigentlichen Freizügigkeit seismografisch die Hemmschwellen der Großstadtgesellschaft der 90er Jahre nach, die ihren deutlichsten Ausdruck in der alles überlagernden Angst vor Aids finden. Auf seinen Helden hat diese Angst einen ebenso starken wie unterschiedslosen Einfluss, wie die inzwischen ins Groteske gesteigerten Ängste seines jüdischen Elternhauses. Die Eltern befürchten, jederzeit von der Straße weggeholt und abtransportiert zu werden. Eine Tante warnt ihn davor, nicht zu nah am Bordstein zu laufen, weil er sonst jeden Moment heruntergeschubst werden könnte. Zu guter Letzt trägt er auch noch unbeirrbar eine verpfuschte, homoerotische Jugendfreundschaft und den Selbstmord eines Bekannten mit sich herum. Für Vine ist das alles eins: aufgemischte Geschichten, die kennzeichnend sind für die Paranoia der Großstadt.

    Die Stärke des Amesschen Erzählens besteht darin, das alles in eine flüchtige, teilweise komische Atmosphäre zu bannen, der jeder Problematisierungseifer fern liegt. Manchmal gelingt ihm dabei eine ergreifende Kälte, die treffend und ohne Anstrengung psychologische und soziale Hintergründe der Szene zu beleuchten weiß. Ebensogut mißlingt es allerdings auch. Da werden dann plötzlich Beobachtungen gestemmt wie Gewichte, um sie aus ihrer Belanglosigkeit zu retten, wodurch man nachgerade von ihnen erschlagen wird.

    Sehr verwunderlich an diesem Buch ist auch, dass Ames nicht zu bemerken scheint, dass wir und natürlich auch er selbst das alles schon irgendwo mal gelesen haben. Selbst wenn man hier exemplarisch eine neue Erzählweise propagieren wollte, die mit Unbefangenheit und gewollter Naivität auf die Postmoderne reagiert, stiefelt Ames doch in dieser Hinsicht ziemlich unreflektiert mit seinem Protagonisten durch New Yorks Straßen und erzählt uns ein altes Märchen auf alte Weise noch einmal. Noch komischer ist allerdings, dass offenbar keinem der des Lobes vollen Kritiker das aufgefallen ist.