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Flüchtige Begegnung der dritten Art

Als ein Meister des Immateriellen erweist sich der Choreograph Tino Sehgal in London. Seine "Assoziationen" liegen im Trend, denn in den soeben in Betrieb genommenen "Tanks" will die Tate Modern Gallery vor allem Tanz und Performances anbieten.

Von Walter Bohnacker | 24.07.2012
    Wie zum Volkslauf traten sie an heute morgen – oder wie Zombies – an der Stirnseite der riesigen Turbinenhalle der Tate Modern: rund 70 Frauen und Männer, Amateure in Alltagskleidung, jung und alt.

    Die Turbine Hall der Tate: Seit zwölf Jahren ist sie Londons große Spielwiese der Künste und Britanniens "Große Halle des Volkes".

    Und dann setzten sie sich in Bewegung, die Mitglieder des – nennen wir’s mal so – "Tino Sehgal-Laienensembles": stumm zuerst und wie in Zeitlupe und dann immer schneller werdend. Alle schauten nach vorn und blieben in Formation. Dann aber scherte der eine und andere aus und steuerte einen einzelnen Besucher an, um ihn spontan in ein kurzes, intensives Gespräch zu verwickeln.

    "Interpreten" nennt Tino Sehgal seine Darsteller. Sie animierte er mit Fragen, auf die die Akteure im Verlauf der Performance assoziativ improvisierte Antworten formulierten, die sie dann an ihre zufälligen Gesprächspartner unter den Galeriegängern weitergaben.

    Tino Sehgal: "Ich stell' Fragen, zum Beispiel: Wann habt ihr so ein Gefühl von Ankunft gehabt? Und darauf antworten die. Ich weiß nicht, was haben sie Ihnen erzählt? Weil Sie wissen jetzt mehr als ich."

    Angesprochen wurde man zum Beispiel auf Politisches: Wie kann man eine Welt schaffen, in der das Fragenstellen als Grundrecht garantiert ist? Oder auf rein Privates. Oder jemand erzählte von einem Straßenfest als Gelegenheit zum Kennenlernen.

    "These Associations" betitelt Sehgal seinen Beitrag zur "Unilever Series" 2012: "Diese Assoziationen". Als dreizehnter Künstler bespielt der Deutsch-Brite bis Ende Oktober die Turbine Hall. Für seine Arbeit, sagt er, sei sie das ideale Terrain:

    "Wie kann man mit dieser Energie auch umgehen und die auch so ein bisschen gestalten? Das war sicher eine Herausforderung und auch Interesse meinerseits."

    Von der Spannung des zum Kunsttempel umgestylten Kraftwerks und von der Energie seiner Besucher ließ Sehgal sich inspirieren zu einer inszenierten, choreografischen Versuchsanordnung. Ausgehend von der Frage, was es heißt, einem Kollektiv anzugehören, geht es, wie immer bei Sehgal, auch hier um eine, wenn man so will, situationsgebundene Begegnung der dritten Art, um Wiedererkennung in einer Welt der zunehmenden Individualisierung:

    "Die Grundindee ist halt: Okay, die alten Bindungen sind aufgebrochen, ja, also die alten Bindungen von Religion, irgendwie Dorfstruktur oder sowas. Und: Kann es aber einen neuen Boden geben, ja, auf dem sozusagen die Werke der Menschen irgendwie so gedeihen können, ja, selbst im technologischen Zeitalter."

    Die Werke der Menschen: Für Sehgal sind sie so unbeständig wie die eigenen interaktiven Kunst-Werke, die er seit einem Jahrzehnt immer wieder anders arrangiert: 2002 etwa in "This is Propaganda" oder 2006 in "This is Progress" im New Yorker Guggenheim. Hier wurden Galeriegänger zu Dialogpartnern über das Thema Fortschritt.

    Die Performance der schweigenden, gehenden, rennenden und ausschwärmenden "Interpreten" mündet in eine Art Kundgebung, bei der Appelle skandiert werden – an die Menschheit! – und in einen Choral mit der Turbine Hall als Kathedrale der Humanität.

    Sehgal erweist sich in London als ein Meister des Immateriellen. Seine "Assoziationen" sind beides zugleich: politische Kritik an der Technologisierung einer Welt der permanenten Objektüberflutung und Überproduktion von Gütern; und eine ästhetische, eminent theatralische Bewegungstanz-Performance, die die Schönheit des Vergänglichen feiert.

    In der Tate liegt der Maestro der inszenierten Flüchtigkeit damit bestens im Trend. Mit den vergangene Woche in Betrieb genommenen ehemaligen Öltanks des Kraftwerks signalisierte die Galerie, wo es in den nächsten Jahren hingehen soll: zu mehr Tanz und Live-Performance, weg von Kommerz und Kunst als Marktware. Nach der Devise: Vergängliches lässt sich nicht konservieren und schon gar nicht verkaufen, sondern allenfalls immer wieder neu erfinden.

    Neu erfinden will sich auch die Tate. Das traditionelle Galeriekonzept – "mit dem Katalog in der Hand zu den Bildern an der Wand" – weicht dem Museum als Bühne für mitreißendes, anarchisches, kurzweiliges Theater.

    Dafür, meint Kuratorin Jessica Morgan, lege man jetzt den Grundstein in den Gewölben der unterirdischen Tanks und mit Sehgal in der Halle:

    "Insofern sind wir wohl tatsächlich in eine neue Dimension vorgestoßen. Im Performance-Bereich hat die Tate – man kann es ruhig sagen – Pionierarbeit geleistet, das heißt, Sie finden in unseren Sammlungen auch sehr viel Immaterielles. Eben das wollen wir weiter ausbauen. Vergängliches soll den gleichen Stellenwert haben wie unsere Dauerausstellungen."

    Informationen der Tate zu Tino Sehgal