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Flüchtlinge
"Dublin-Regeln vollkommen gescheitert"

Die Dublin-Regeln zum Umgang mit Flüchtlingen in der Europäischen Union sei "vollkommen gescheitert", sagte die Grünen-Europaabgeordnete Barbara Lochbihler im DLF. Wenn man wie vorgesehen alle Menschen in das Land ihrer EU-Einreise zurückschicken würde, dann wären Griechenland, Italien und Ungarn völlig überfordert.

Barbara Lochbihler im Gespräch mit Mario Dobovisek | 02.09.2015
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    Mit der europäischen Solidarität sei es, wenn sie wie im Fall der Flüchtlinge auf Freiwilligkeit beruhe, nicht weit her, sagte Lochbihler. Das EU-Parlament sei schon früher immer wieder davor zurückgeschreckt, sich verbindlich zu verpflichten, gemeinsame Lösungen zu finden. "Es wird da gemeinsam gehandelt, wo es darum geht, Europa abzuschotten gegen die Flüchtlinge", sagte Lochbihler. Dass nun EU-Kommissionspräsident Juncker Ländern wie Ungarn mit Strafverfahren drohe, zeige immerhin, dass er seine Rolle als Hüter der europäischen Verträge ernst nehme.

    Das Interview in voller Länge:
    Mario Dobovisek: In der Nacht sind noch einmal 150 Flüchtlinge am Münchener Hauptbahnhof angekommen, deutlich weniger als an den Tagen zuvor, als die Schleusen in Budapest sprichwörtlich geöffnet wurden und über 3000 Flüchtlinge ungehindert mit dem Zug weiter nach Österreich und Deutschland reisen konnten. Inzwischen hat die ungarische Polizei den Bahnhof von Budapest wieder abgesperrt. Dennoch bleibt die Frage offen, wie wir künftig mit dem anhaltenden Flüchtlingsstrom umgehen sollen. Die SPD beharrt auf ihrer Forderung nach einem Einwanderungsgesetz in Deutschland, während CDU-Mann Bosbach jene Länder bestrafen möchte, die sich nicht an die Regeln halten.
    Am Telefon begrüße ich Barbara Lochbihler. Sie war Chefin der deutschen Sektion von Amnesty International und ist außen- und menschenrechtspolitische Sprecherin der Grünen im Europäischen Parlament. Guten Tag, Frau Lochbihler.
    Barbara Lochbihler: Guten Tag.
    Dobovisek: Strafen für jene, die sich nicht an die Dublin-Verordnung halten und Flüchtlinge unregistriert weiterschicken. Ist das der richtige Weg?
    Das kann bis zum Vertragsverletzungsverfahren gehen
    Lochbihler: Nun, das ist jetzt der Weg, den der Kommissar Juncker gegangen ist. Er hat ja an verschiedene Staaten geschrieben. Es ist schon mal gut, wenn die Kommission reagiert. Aber Dublin selber ist eigentlich vollkommen gescheitert. Das weiß eigentlich hier jeder, der sich damit auseinandersetzt. Und jetzt die gerade deshalb zu registrieren, ist einfach zu kurz gefasst. Es zeigt aber auch, dass Juncker das schon als Hüter der Verträge das ernst nimmt, was es für Regeln gibt, und er könnte sich ja auch überlegen, die Kommission, dass man droht, wenn jetzt andere Dinge von Ungarn nicht erledigt werden, dass die Asylbewerber zum Beispiel auch nicht geschützt werden, oder bei den Verteilungsquoten, dass nicht nur Ungarn, auch andere Staaten die nicht aufnehmen, dann kann man auch androhen zum Beispiel Stimmentzug, oder man kann eigentlich bis zu einem Vertragsverletzungsverfahren gehen. Aber das wurde in der Vergangenheit nicht gemacht. Und wenn jetzt der Herr Bosbach von der CDU sehr schneidig sagt, die müssen dann bestraft werden, wenn sie das nicht machen; Deutschland hat bis Kurzem sich auch immer gewehrt gegen verbindliche Verteilungsschlüssel oder verbindliche Zusagen, Flüchtlinge aufzunehmen. Es ist gut, dass sich das geändert hat, und ich hoffe sehr, dass durch den politischen Druck, den die deutsche Regierung hier in Brüssel auch auf andere Mitgliedsstaaten ausüben kann, dass der jetzt deutlich spürbar wird, und ich hoffe,...
    Dobovisek: Aber wir haben ja gesehen, Frau Lochbihler, wie das ausgegangen ist bei den letzten großen Gipfeln, als es um die verbindliche Verteilungsquote ging. Da wollte niemand so richtig mitmachen. Was sagt uns das über die europäische Solidarität?
    Bei der Abschottung ist man sich schnell einig
    Lochbihler: Solidarität, die auf Freiwilligkeit beruht in diesem Fall, die ist nicht weit her. Ich bin seit 2009 jetzt im Parlament und es ist immer wieder davor zurückgeschreckt worden, dass man sich verbindlich verpflichtet, gemeinsame Lösungen zu finden. Es wird da gemeinsam gehandelt, wo es darum geht, Europa abzuschotten gegen die Flüchtlinge, aber eigentlich wird nicht gemeinsam gehandelt im Sinne, den Flüchtlingen Schutz zu geben. Zum Beispiel im Mai hat ja Kommissionspräsident Juncker einen Plan vorgelegt, was man tun kann, um Flüchtlingen und auch Migranten, die an unseren Grenzen stehen, wie können wir die aufnehmen als neuer Ansatz. Und wenn man das genau liest, gibt es einzelne neue Ansätze, aber es wird immer wieder doch auf Abschottung gesetzt und hier war man schnell solidarisch und schnell einig, die Außengrenzen sicherer zu machen. Oder was jetzt angekündigt wird, dass man im Oktober auf EU-Seite sich überlegt, die Phase II der Schleuserbekämpfung einzuläuten - das geht hin zu einer Militarisierung der Außengrenzen und dieses Kampfes -, dann gehen wir hier nicht den richtigen Weg. Aber hier scheint man sich schneller einig zu werden.
    Dobovisek: Solidarität auf Basis der Freiwilligkeit funktioniert nicht, sagen Sie. Das haben wir auch jetzt mehrfach beobachten müssen. Muss der Geldhahn dann doch zugedreht werden, um im Bild zu bleiben?
    Lochbihler: Ich denke, es wäre ein gutes Signal, das auch so zu sagen, dass in einer Gemeinschaft das Verständnis, dass man Teil ist einer gemeinsamen Politik, das kann nicht nur sein, wenn man Geld beantragt und sonst nichts tut. Ich glaube, man muss da auch kommunizieren, dass man den Mitgliedsstaaten klarmachen muss, dass es keine Bestrafung ist, Flüchtlinge aufzunehmen, sondern etwas, was eigentlich selbstverständlich ist und durchaus auch in den jeweiligen Ländern verstanden wird, wenn man es von der politischen Führung aus richtig kommuniziert.
    Auch finanzielle Anreize reichen nicht aus
    Dobovisek: Wäre es dann vielleicht sinnvoller, nicht über einen Malus, sondern einen Bonus zu sprechen für jene, die Flüchtlinge aufnehmen?
    Lochbihler: Es gibt zum Beispiel ein Programm, Umsiedlungsprogramme heißt das, Resettlement-Programme, wo die EU jeden Flüchtling, der zum Beispiel in einem Flüchtlingslager ist außerhalb Syriens, aber in den Nachbarstaaten, wenn so ein Staat sagen würde, sie würden Flüchtlinge aus diesem Programm aufnehmen, würde sogar die EU das bezuschussen. Wieweit machen sie das? Man hat sich vereinbart, 60.000 Menschen solidarisch zu verteilen. Das sind A 40.000 Flüchtlinge, die in Italien sind, die umverteilt werden sollen, und 20.000 Personen, die neu in dieses Resettlement-Programm kommen können. Und man hat nicht mal diese 60.000 erreicht und ist jetzt ungefähr bei 50.000, und da ist Norwegen und die Schweiz dabei. Auch wenn man es positiv verstärkt mit finanziellen Zuwendungen, reicht es nicht aus.
    Dobovisek: Dann kommen wir doch noch mal zurück auf die alten Regeln, die Dublin-Regeln. Die besagen, dass ein Flüchtling dort registriert werden müsste, wo er das erste Mal europäischen EU-Boden betreten hat. Sie sagen, das ist gescheitert. Was muss stattdessen implementiert werden?
    Lochbihler: Dublin sagt ja auch, dass man die Menschen immer in dieses Land zurückschicken soll, wo die Registrierung stattfindet, und das ist absolut unmöglich, weil dann wäre wieder Griechenland, Italien oder vielleicht dann auch jetzt Ungarn über die Landesgrenzen vollkommen überfordert.
    Dobovisek: Aber Angela Merkel beharrt und besteht auf Dublin.
    Asylzentren etwa in Afrika "lehne ich absolut ab"
    Lochbihler: Ja, aber ich denke, sie muss ja auch doch die Fakten sehen. Wenn etwas nicht funktioniert, dann sollte man es nicht so weiterführen. Es gibt jetzt die Idee, solche Hotspots einzurichten. Das ist noch etwas sehr Grobes, aber dass man versucht, nach europäischen Standards zum Beispiel in Italien oder in Griechenland Stellen einzurichten, wo nach EU-Standards durchaus auch mit Beamten aus anderen EU-Staaten Registrierungen durchgeführt werden können. So kann man zum Beispiel sich das überlegen.
    Dobovisek: Also eine gemeinsame Hilfe aller EU-Staaten in den Staaten, wo die meisten Flüchtlinge ankommen, wie zum Beispiel Griechenland und Italien?
    Lochbihler: Genau. Das ist schon ein besserer Vorschlag als der andere Vorschlag, der leider auch immer noch auf dem Tisch ist und von konservativer Seite hier im Parlament immer propagiert wird, dass man außerhalb der EU Asylzentren einrichtet und dann in Staaten wie Marokko oder sogar Niger dort Registrierungen macht oder dort versucht, sogar Asylanträge entgegenzunehmen und zu prüfen. Wenn man sich dann dort anschaut, welche rechtsstaatlichen Verhältnisse es dort gibt, oder teilweise haben die Länder ja noch nicht mal die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet, das lehne ich absolut ab, weil da würde der Flüchtling zu seinem Recht auf Schutz überhaupt nicht kommen.
    Dobovisek: Aber ob nun die Zentren außerhalb der EU sind oder zum Beispiel in Italien oder Griechenland, dem Flüchtling, der nach Deutschland möchte, ist damit nicht geholfen.
    Lochbihler: Nein. Ich denke, der Flüchtling - - Angenommen es gäbe Quoten und Verteilungsregelungen in den verschiedenen Staaten, die sollte man nicht so starr sehen. Wenn zum Beispiel ein Flüchtling, der hier Verwandte hat, hier herkommt, weil er hier dann auch sich leichter integriert, dann sollte man das natürlich zulassen und es nicht so starr und schematisch lösen.
    Dobovisek: Barbara Lochbihler von den Grünen im Europäischen Parlament. Ich danke Ihnen.
    Lochbihler: Ich danke auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.