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Flüchtlinge in Deutschland
"Das kann retraumatisierend wirken"

Viele Flüchtlinge haben traumatische Erlebnisse auf dem Weg nach Europa erlebt, sagte die Psychotherapeutin Mechthild Wenk-Ansohn im DLF. Proteste wie im sächsischen Clausnitz könnten sich verheerend auf die Psyche der Neuankömmlinge auswirken sowie schwere Depressionen und Suizidgedanken auslösen.

Mechthild Wenk-Ansohn im Gespräch mit Jochen Spengler | 24.02.2016
    Mechthild Wenk-Ansohn, Leiterin der Ambulanz des Behandlungszentrums für Folteropfer Berlin (bzfo)
    Mechthild Wenk-Ansohn, Leiterin der Ambulanz des Behandlungszentrums für Folteropfer Berlin (bzfo) (dpa / picture-alliance / Bernd von Jutrczenka)
    Konkrete Todesangst, Angehörige, die vor den eigenen Augen umkommen oder Folter: All das seien Erlebnisse, mit denen Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Deutschland konfrontiert worden seien, so Wenk-Ansohn. Viele hielten diesem psychischen Druck während der Flucht noch stand und klammerten sich an die Hoffnung, in Deutschland ein besseres Leben führen zu können, sagte die Psychotherapeutin, die am Behandlungszentrum für Folteropfer Berlin tätig ist. Das Gute sei zudem, dass nicht alle eine posttraumatische Störung entwickelten.
    Fühlten sich Flüchtlinge dann aber hier ebenfalls einer großen Unsicherheit ausgesetzt, etwa wegen eines unklaren Aufenthaltstitels oder Protesten wie denen in Clausnitz, könnte so etwas retraumatisierend wirken. Solche Situationen könnten "ganz tief greifende Wirkungen" haben und schwere Depressionen oder Suizidalität als Folge haben, so Wenk-Ansohn.

    Das Interview in voller Länge:
    Jochen Spengler: Es fällt schwer, die wackligen Aufnahmen des Handys zu vergessen, die einige der 20 Flüchtlinge im Bus mit der Leuchtschrift "Reisegenuss" zeigten. Verängstigt durch die krakeelenden Schreihälse im sächsischen Clausnitz. Ein kleiner Junge weint, der Jugendliche, der unter dem Grölen der Menge von einem Polizisten im Schwitzkasten gewaltsam aus dem Bus ins Flüchtlingsheim gezerrt wird. Welche Folgen haben solche negativen Erfahrungen am Zufluchtsort für Menschen, die ja schon oft Schreckliches und eine Art Odyssee hinter sich haben? Diese Frage wollen wir Mechthild Wenk-Ansohn stellen. Sie ist Ärztin im Berliner Behandlungszentrum für Folteropfer und dort Chefin der ambulanten Abteilung. Guten Morgen.
    Mechthild Wenk-Ansohn: Guten Morgen!
    Spengler: Was schätzen Sie, Frau Wenk-Ansohn? Wie viel Prozent der Menschen, die nach der oft langen und aufreibenden Flucht hier ankommen, benötigen überhaupt eine psychologische Betreuung? Ist das die Hälfte, ist das jeder, ein Drittel, was meinen Sie?
    Wenk-Ansohn: Ich denke, es ist vielleicht ein Viertel dieser Menschen, die sofort psychologische, psychotherapeutische, psychiatrische Betreuung benötigen. Aber man muss davon ausgehen, dass fast alle diese Menschen, sehr viele Menschen potenziell traumatische Erlebnisse hatten, mehrere Erlebnisse oft, die mit Todesbedrohung einhergehen. Sie haben gesehen, wie Angehörige vor ihren Augen umgekommen sind. Sie haben Folter erlebt. Es ist sehr viel, was sie erlebt haben, und das Gute ist, dass nicht alle dann eine posttraumatische Belastungsstörung oder andere Störungen entwickeln und dann medizinische und psychologische Hilfe brauchen.
    "Das kann schwere Depressionen auslösen"
    Spengler: Sie haben ja gerade erwähnt, dass die Erfahrungen durchaus unterschiedlich sind. Gibt es dennoch etwas, was allen Flüchtlingen gemein ist?
    Wenk-Ansohn: Allen Flüchtlingen gemein ist vielleicht, dass sie mit einer Hoffnung hier herkommen, hier Sicherheit zu finden.
    Spengler: Wie äußert sich das? Ist das eine riesige Erleichterung, dass die Flucht in Deutschland erst einmal ein Ende hat?
    Wenk-Ansohn: Ja, es könnte eine Erleichterung sein. Das erlebe ich auch häufig, zum Beispiel, wenn Kontingentflüchtlinge hier herkommen, also die, die dann sofort einen gesicherten Aufenthalt haben und hier ihr Leben starten können. Ja, eine große Erleichterung auch, wenn das Erlebte dann erst verarbeitet werden muss. Aber die Menschen, die hier ankommen und große Unsicherheit und schwierige erneute Situationen erleben, die brechen dann oft zusammen, und dann sind es viele, die Hilfe brauchen.
    Spengler: Um jetzt mal den Vorfall in Sachsen anzusprechen mit den 20 Asylbewerbern im Bus und der grölenden Menschenmenge, die da eingeschüchtert wurden. Welche Rolle spielt so ein Vorfall überhaupt, angesichts der ja ungleich viel schlimmeren Erfahrungen vor und auf der Flucht?
    Wenk-Ansohn: Ja, das ist genau der Punkt, wenn ich ankomme. Diese Hoffnung, die dann zerstört wird, die Angst, die dann wieder auftritt. Es ist oft so, dass diese Menschen in den anhaltenden Stresssituationen der Flucht sich aufrecht erhalten und das durchhalten. Und wenn dann in dem Moment, wo sie denken, jetzt ist Sicherheit erreicht, so etwas passiert, dann hat das ganz tief greifende Wirkungen. Dann kann das retraumatisierend wirken und ganz schwere Depressionen auslösen bis hin zu Suizidalität.
    Spengler: Dann müssen die Psychologen gewissermaßen noch mal von vorn anfangen?
    Wenk-Ansohn: Ja, mehr als von vorn. Genau! Das ist ganz traurig, dass das dann so ist.
    Kritik an Neuregelung zum Familiennachzug
    Spengler: Wenn dann einer im Bus - der wurde ja dann gebrandmarkt als einer, der provoziert hätte - in seiner Not einen Stinkefinger zeigt, ist das nicht jemand, um den Sie sich weniger kümmern müssen, der vielleicht noch am wenigsten Ihre Hilfe braucht, weil er nämlich zeigt, dass er sich nicht völlig einschüchtern lässt?
    Wenk-Ansohn: Na ja, manchmal. Genau, wenn Menschen sich noch irgendwie zur Wehr setzen, irgendetwas sagen können, aktiv sind, ist das ein Schritt, der ihnen helfen kann, nicht in die Depression zu verfallen, während die Menschen, die dann gar nicht mehr reagieren, wie gelähmt reagieren, die sind dann oft gar nicht mehr aktiv.
    Spengler: Gehen wir noch mal weg von den Vorfällen in Sachsen, machen es etwas allgemeiner zur Situation der Flüchtlinge generell. Worunter vor allem leiden denn die Flüchtlinge? Sind es ihre Erinnerungen?
    Wenk-Ansohn: Ja, das sind ihre Erinnerungen an das, was sie erlebt haben, die Albträume, die Flashbacks, dass sie plötzlich bei irgendeinem Geräusch, zum Beispiel Hubschrauber, hier wieder denken, sie sind in Syrien, die Bomben fallen, und dann wie gelähmt sind. Aber es ist auch ganz viel diese Angst um die Angehörigen, die noch im Heimatland sind, und die Trauer um Verlorenes, um verlorene Menschen, und das ist ja was, was oft nicht aufhört und was leider im Moment durch die neuen Gesetze, die durchkommen werden, sich noch verschlechtern wird. Denn so viele Familien zum Beispiel jetzt in Aleppo sind in Gefahr, und das ist für die Menschen, die hier ankommen, ganz, ganz schwierig, vor allen Dingen, wenn sie dann ihre Familien nicht nachholen können.
    Spengler: Haben die dann, die es geschafft haben, auch ein schlechtes Gewissen oder Schuldgefühle?
    Wenk-Ansohn: Ja, ganz große Schuldgefühle. Manche denken, ich muss jetzt zurückgehen nach Syrien, und manche machen Suizidversuche, weil sie haben das Gefühl, ich kann nicht helfen, ich bin völlig unnütz auf dieser Welt.
    "Die meisten hoffen, dass das Leben hier stattfinden kann"
    Spengler: Reagieren eigentlich Kinder und Erwachsene unterschiedlich?
    Wenk-Ansohn: Ja. Ich meine, beide, Kinder und Erwachsene haben Albträume. Kinder wiederholen oft das Erlebte im Malen, im Spielen. Kinder ziehen sich zurück und sprechen nicht darüber. Auch Erwachsene tun das nicht. Aber Erwachsenen fällt es vielleicht leichter, dann sich Hilfe zu suchen, zum Beispiel zu uns zu kommen und über das Erlebte zu sprechen, während Kinder sehr lange dafür brauchen, sich dann mitzuteilen.
    Spengler: Wie kann man denn helfen? Wie helfen Sie konkret?
    Wenk-Ansohn: Ja, wir sind hier. Wir hören die Menschen und wir versuchen, sie darin zu unterstützen, hier erst mal anzukommen, neue Wege zu finden, zum Beispiel in einen Deutschkurs zu gehen. Wir hören das, was sie erlebt haben, setzen das mit ihnen zusammen, ihre Lebensgeschichte, und versuchen zu finden, wo haben sie Ressourcen, was können sie tun, um wieder aktiver in diesem Leben teilzuhaben. Das sind Prozesse, die dauern Monate, manchmal Jahre.
    Spengler: Bei den meisten, empfinden sie denn, dass das Leben jetzt hier stattfinden muss, oder wollen die zurück?
    Wenk-Ansohn: Die meisten hoffen, dass das Leben hier stattfinden kann. Die meisten sind durch diese lang anhaltenden Konflikte, Kriege in ihren Heimatländern sehr skeptisch, wie das weitergehen kann, denn sie haben Afghanistan vor Augen, sie haben den Irak vor Augen und sie glauben, dass das sehr lange dauert. Und wir haben ja hier gerade ganz viele Menschen. Wenn ich hier rausgucke: Ich sehe auf die zentrale Aufnahmestelle in Berlin. Die ist ja bei uns auf dem Gelände. Da sehe ich hier junge Männer aus Syrien, Afghanistan unterwegs, die sich hier anmelden wollen, und die sagen, ja, ich will was lernen, ich habe mein Abitur gemacht, ich möchte gerne studieren oder eine Lehre machen, Kfz-Mechaniker werden, so was, und ich möchte gerne ein Leben hier neu anfangen und ich möchte gerne etwas auch für die Gesellschaft tun, die mich aufnimmt.
    Spengler: Das ist eine Mehrheitsmeinung?
    Wenk-Ansohn: Mehrheitsmeinung der Menschen, mit denen ich hier zu tun habe, ja.
    "Wir sind viel zu wenige"
    Spengler: Sind Sie eigentlich genügend Leute, die helfen können? Sie haben am Anfang des Gesprächs gesagt, etwa ein Viertel der Menschen, würden Sie grob gesagt schätzen, brauchen unmittelbar Hilfe wahrscheinlich. Irgendwie sind es letztlich viel mehr. Haben Sie da genügend Betreuer, Psychologen, Psychiater, die das schaffen, die diesem Viertel der Menschen helfen können?
    Wenk-Ansohn: Nein. Wir sind sehr viel zu wenige. Das liegt an der Finanzierung, an den finanziellen Schwierigkeiten dieser Zentren, der Behandlungseinrichtungen, psychosozialen Zentren bundesweit.
    Spengler: Von wem werden die denn finanziert?
    Wenk-Ansohn: Die werden oft zu ganz geringen Teilen nur von den Ländern oder vom Bund finanziert, ein wenig auch über die gesundheitliche Regelversorgung, aber viel über Projektmittel, zum Beispiel aus der EU, und das reicht nicht aus, weil diese Komplexleistungen, die wir hier haben, soziale Arbeit, integriert in psychotherapeutische Prozesse, psychiatrische Behandlung, medizinische Untersuchung zum Beispiel von Folterspuren, das ist was, was in diesen psychosozialen und Behandlungszentren möglich ist, und da ist viel zu wenig da. Wir versuchen eine Öffnung des Gesundheitswesens für interkulturelle Behandlung, dass Psychiater und Psychotherapeuten lernen, mit diesen Menschen zu arbeiten und auch mit Dolmetschern zu arbeiten. Das ist alles ein längerer Weg und da ist noch sehr viel mehr notwendig. Nicht zu vergessen ist gleichzeitig, dass eine therapeutische Behandlung wirklich nur greifen kann, dass das verarbeitet werden kann, was passiert ist, wenn auch die sozialen und materiellen Bedingungen so sind, dass die Menschen ankommen können und zur Ruhe kommen können. Erst dann ist wirklich Verarbeitung möglich und insofern muss das Hand in Hand gehen, das, was wir hier als Aufnahmegesellschaft tun, und da sind viele Menschen hier sehr aktiv und das ist wunderbar, und das, was im Gesundheitswesen und in den Zentren möglich ist an Betreuung.
    Spengler: Frau Wenk-Ansohn, wenn ich eine gute Fee wäre und Sie einen Wunsch frei hätten, welcher wäre das?
    Wenk-Ansohn: Ja, dass noch mehr gespendet würde hier für diese Zentren, aber auch vor allen Dingen, dass die Konflikte irgendwann mal bitte aufhören, dass die Menschen sich nicht mehr gegenseitig ständig bekriegen, foltern und abwehren.
    Spengler: Danke schön. - Mechthild Wenk-Ansohn, Ärztin im Berliner Behandlungszentrum für Folteropfer. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch und wünsche Ihnen einen schönen Tag.
    Wenk-Ansohn: Ja gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.