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Flüchtlinge in Europa
Politikwissenschaftler: EU-Staaten müssen Lasten gerechter verteilen

Der Politikwissenschaftler Wichard Woyke hat eine Reform des Dublin-Übereinkommens für Asylverfahren angemahnt. Das Abkommen habe Staaten wie Griechenland und Italien benachteiligt, während sich Deutschland aus der Affäre gezogen habe, indem es "alle Staaten um uns herum als sichere Drittstaaten erklärt" hätte.

Wichard Woyke im Gespräch mit Jochen Spengler | 02.09.2015
    Bundeskanzlerin Merkel und der spanische Ministerpräsident Rajoy bei einer Pressekonferenz in Berlin.
    Der Umgang mit Flüchtlingen bestimmte auch das Treffen zwischen Bundeskanzlerin Merkel und dem spanischen Ministerpräsidenten Rajoy. (TOBIAS SCHWARZ / AFP)
    Jochen Spengler: Am Telefon ist nun der Politikwissenschaftler Wichard Woyke, lange Jahre Professor an der Universität Münster. Guten Abend, Herr Woyke.
    Wichard Woyke: Guten Abend.
    Spengler: War nicht, wie wir alle dachten, der Euro die eigentliche Bewährungsprobe für die EU, sondern ist das womöglich die jetzige Flüchtlingskrise?
    Woyke: Da haben Sie recht! Wir dachten, dass der Euro tatsächlich die Bewährungsprobe war, und er ist sie ja auch noch. Aber es ist eine neue Bewährungsprobe hinzugekommen, und das ist die Flüchtlingsdramatik. Ich würde nicht von einer Krise sprechen, sondern davon, dass mehrere Hunderttausende, ja Millionen von Flüchtlingen aus Krisengebieten rund um Europa jetzt nach Europa streben.
    Dublin-Abkommen benachteiligt Erstaufnahmeländer
    Spengler: In Italien, in Griechenland, in Ungarn, in diesen Ländern kommen sie zuerst an, aber sie werden dort ja schon lange nicht mehr, so wie es das Dubliner Abkommen eigentlich vorsieht, registriert und aufgenommen. Man kann sagen, das Dubliner Abkommen ist im Grunde tot. Was sollte denn an seine Stelle treten?
    Woyke: Ja, es muss irgendwas an seine Stelle treten, das die Lasten zwischen den 28 Staaten der Europäischen Union gerechter verteilt. Denn das Dublin-Abkommen hat ja nun sehr klar auch die Staaten benachteiligt, die Sie gerade aufgezählt haben, und wir haben mit unserem Einwanderungsgesetz Ende der 90er-Jahre, Anfang der Nuller-Jahre uns geschickt aus der Affäre gezogen, indem wir alle Staaten um uns herum als sichere Drittstaaten erklärt hatten und damit den Weg nach Deutschland erschwert haben.
    Spengler: Ist Deutschland jetzt auch mit schuld hier an der Lage, weil wir jetzt gerade auch missverständliche Signale senden? Wir haben ja einerseits die Kanzlerin, die sagt, es bleibt beim Dubliner Abkommen, und andererseits kündigen deutsche Behörden an, dass zum Beispiel die syrischen Flüchtlinge nicht wieder in das Land zurückgeschickt werden, wo sie eigentlich zuerst hätten sich registrieren lassen müssen.
    Woyke: Das ist richtig, das könnte man daraus schließen. Aber ich glaube, das ist der Tatsache geschuldet, dass auf einmal so viele Flüchtlinge kommen und dass man letztendlich das doch rein praktisch gar nicht machen kann, wenn sie es denn bis Deutschland geschafft haben und sich dann in Deutschland registrieren lassen müssen.
    "Der Druck wird so groß werden, dass wir zu einem Ergebnis kommen werden"
    Ich denke, das Dubliner Abkommen wird nach wie vor bestehen, aber man muss Lösungen finden, innerhalb der Europäischen Union dann zu einer gerechteren Verteilung der Flüchtlinge zu kommen. Und Sie sehen ja, der Besuch von Rajoy gestern Abend in Berlin hat das ja deutlich gezeigt: Jeder bringt Kriterien auf den Tisch, die für ihn günstig sind, und dann kommen wir natürlich zu keinem Ergebnis. Aber der Druck wird so groß werden, dass wir zu einem Ergebnis kommen werden.
    Spengler: Glauben Sie das, dass die EU sich tatsächlich einigen wird? Die Grünen-Politikerin Claudia Roth hat heute gesagt, es kann nicht sein, dass sich einige EU-Staaten vor der Aufnahme der Flüchtlinge drücken, aber Tatsache ist, dass sie sich drücken, weil ...
    Woyke: Ja natürlich! Das wird auch noch eine Zeit lang so laufen. Aber ich denke, Juncker hat ja schon ins Spiel gebracht, dass man das dann auch kompensieren müsste mit ökonomischen Fakten. Das heißt, dass die Staaten, die sich weigern, mehr Flüchtlinge aufzunehmen, als sie eigentlich müssten, dass die ökonomischen Zugeständnisse, die sie von der Europäischen Union bekommen, dann geringer ausfallen und die Zugeständnisse finanzieller Art, wenn die für die Staaten dann nicht mehr da sind, ich glaube, das zeigt Wirkung.
    Großbritannien nicht das große Problem
    Spengler: Den Geldhahn zudrehen für Länder, die nicht solidarisch sind, die nicht Dublin anwenden. Ist so eine Forderung, so eine Drohung eigentlich realistisch, wenn ich jetzt zum Beispiel an Großbritannien denke? Glauben Sie, dass sich Mr. Cameron davon beeindrucken lässt?
    Woyke: Nun ist ja Großbritannien ein Nettozahler und von daher wird es für Großbritannien schwierig sein. Aber ich glaube, dass Großbritannien auch nicht so das ganz große Problem ist, sondern das Problem sind andere Staaten mehr in Mitteleuropa, die, wenn Sie das auf die Einwohnerzahl hochrechnen, doch eine geringe Zahl von Flüchtlingen aufnehmen, und an die wird man sich wenden. Und Großbritannien, da müssen die Verhandlungen stärker geführt werden auf bi- und trilateraler Ebene, um ihnen klarzumachen, dass auch Großbritannien eine gewisse Solidarität in diesem Bereich hat.
    Grenzkontrollen trotz Schengen-Abkommen
    Spengler: Wie weit sind wir denn davon entfernt, Professor Woyke, das Schengen-System der offenen Grenzen aufzuheben, also wieder zu geschlossenen Grenzen zurückzukehren?
    Woyke: Sie sehen ja, dass wir im Augenblick erste Versuche haben, dass am Brenner seit heute wohl wieder Italien stichprobenartig kontrolliert und dass somit das Schengen-Abkommen ich würde nicht sagen ausgehebelt wird, denn das ist ja im Schengen-Abkommen durchaus vorgesehen, dass man auch durchaus Grenzkontrollen zeitweise wieder einführen kann, aber das widerspricht natürlich dem Geist.
    Aber es ist natürlich vollkommen klar: Stellen Sie sich die Extremsituation vor, wir kriegen noch mehr Krisenherde um Europa herum, Kriege, und es kommen noch viel mehr Flüchtlinge, die nach Europa drängen. Dann ist das für die Europäische Union, für die Länder der Europäischen Union nicht verkraftbar und dann muss man irgendwie zu einer Regelung kommen, die eventuell dann auch wieder auf die stärkere Kontrolle an den Grenzen zurückgreift.
    Spengler: Das bringt mich auf eine Äußerung, die Ungarns Ministerpräsident Orbán, der ja vielen als Buhmann gilt, nicht nur wegen seines Stacheldrahtzauns, die er gegenüber der "FAZ" von morgen gemacht hat. Er sagt nämlich, es sei ziemlich deprimierend, dass außer den Ungarn oder den Spaniern niemand die Grenzen Europas beschützen wolle. Die "Flut" müsse aber aufgehalten werden, und er sagt wörtlich "die Flut". Hat er damit recht?
    Woyke: Nein, damit hat er sicherlich nicht recht, denn es gibt ja nun auch andere Länder, die die Grenzen Europas schützen. Ich denke mal an die baltischen Länder, wenn Sie auf die Kurische Nehrung fahren und diese wunderbaren Schutzanimationen dort sehen, oder auch in Polen. Da tun andere Länder auch schon was. Es ist nicht nur Ungarn. Und von einer Flut würde ich auch nicht sprechen.
    "Verkraftbar für die europäischen Staaten"
    Aber wir haben es im Augenblick mit einer Krise zu tun, in der Hunderttausende kommen, aber das ist verkraftbar für die europäischen Staaten und auch für Deutschland. Da hat die Kanzlerin recht. Denn wenn Sie sich angucken, was der Libanon leistet, wenn Sie sich angucken, was Jordanien leistet, und auch, was die Türkei leistet, mit einem Bruttosozialprodukt, das weit entfernt ist von dem Durchschnittssozialprodukt der Europäischen Unionsländer, dann haben wir durchaus die Möglichkeit, hier noch einige aufzunehmen.
    Spengler: Herr Professor Woyke, im Jahr 1998 haben Sie eines Ihrer zahlreichen Bücher veröffentlicht, das lautete: "Europäische Union - erfolgreiche Krisengemeinschaft". Würden Sie einen solchen Titel heute noch mal verwenden?
    Woyke: Ja, sofort. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass wir ja 60 Jahre wunderbaren Fortschritt gehabt hatten, sowohl in der Ökonomie als auch in den persönlichen Freiheiten, als auch in der Öffnung der Grenzen, als in der gewaltigen Vergrößerung des gemeinsamen Marktes, in Freiheiten und Demokratie, von der wir ja heute leben und die gerade uns Deutschen so viele Vorteile gebracht haben. Dazu stehe ich auch heute noch.
    Spengler: Es ist schön, mit einem europäischen Optimisten in diesen Tagen zu sprechen. Herr Professor Woyke, danke für das Gespräch.
    Woyke: Gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.