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Flüchtlingsaufnahme nach Brand in Moria
"Ganz ernsthaft: 400 Kinder, zehn Länder!?"

Nach dem Großbrand im griechischen Flüchtlingscamp Moria wollen zehn EU-Staaten zusammen 400 unbegleitete Minderjährige aufnehmen. Das sei eine sehr ernüchternde Zahl, so der Freiburger Oberbürgermeister Martin Horn im Dlf. Neben dem Schicksal der Menschen gehe es doch auch um europäische Solidarität.

Martin Horn im Gespräch mit Jasper Barenberg | 11.09.2020
Kinder spielen Karten am Straßenrand in der Nähe des ausgebrannten Flüchtlingslagers Moria
Ein Feuer hat das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos vernichtet (picture alliance/dpa/Socrates Baltagiannis)
Was soll aus den Tausenden obdachlosen Migranten auf Lesbos werden? Nach dem Brand im Flüchtlingslager Moria sind viele auf sich gestellt. Bis Einbruch des Winters könnte es eine europäische Lösung geben. So hat es am Donnerstag Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ausgedrückt. Bis auf weiteres will die Kanzlerin zusammen mit Frankreich die Aufnahme von 400 unbegleiteten Kindern und Jugendlichen organisieren. Für viele aber reicht das bei weitem nicht. Kirchen, Wohlfahrtsverbände, Flüchtlingsorganisationen, Bundesländer – sie alle fordern, sofort zu handeln und mehr zu tun.
"Wir sind bereit, Menschen aus Moria aufzunehmen, um die humanitäre Katastrophe zu entschärfen." Das schreiben die Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeister von zehn Großstädten in einem Brief an Angela Merkel und an Innenminister Horst Seehofer. Zu diesen Städten gehören unter anderem Hannover und Köln, Potsdam und Bielefeld, Düsseldorf und Oldenburg. Unterschrieben hat auch Martin Horn, der Oberbürgermeister von Freiburg. Mit ihm haben wir gesprochen.
Jasper Barenberg: Herr Horn, warum dieser Appell? Warum das Angebot zu diesem Zeitpunkt?
Martin Horn: Es ist ja nicht der erste gemeinsame Appell. Wir waren eigentlich vor einem halben Jahr schon weiter. Wir hatten ursprünglich mit der Perspektive "Termin im Februar mit Innenminister Seehofer" bereits schon Verhandlungen geführt, weil wir sagen, dass es einfach ernüchternd ist. Es ist erschreckend, dass Europa in dieser Frage komplett scheitert, und das schon seit vielen Jahren, und dass wir an der Stelle dringenden Handlungsbedarf haben.
Jetzt fokussiert sich alles auf Moria, aber Moria steht ja nur stellvertretend für viele andere Lager und für die Gesamtsituation. Aber gleichzeitig ist die Situation auf der Insel so dramatisch, dass wir doch jetzt handeln müssen aus europäischer und aus humanistischer Verantwortung.
Der Freiburger Oberbürgermeister Martin Horn (parteilos).
Der Freiburger Oberbürgermeister Martin Horn (parteilos). (pa/dpa/Seeger)
Barenberg: Sie kennen die Gegenargumente. Sprechen wir darüber. Eines lautet ja: Ein deutscher Alleingang macht gar keinen Sinn. Europa muss zwingend gemeinsam handeln. – Warum überzeugt Sie das nicht?
Horn: Zum einen, weil das jetzt nach Jahren des Stillstands für eine europäische Lösung ein Stück weit als Ausrede klingt. Wir reden über eine EU, über eine Europäische Union, die den Friedensnobelpreis bekommen hat. Wir müssen doch hier klarer handeln!
Natürlich ist es nicht möglich, alle 27 beziehungsweise 28 Mitgliedsstaaten vielleicht zu überzeugen, aber brechen wir das doch mal runter. Wir reden über 12.000 Geflüchtete auf Moria aktuell. Wir haben rund 200 Kommunen – ich glaube, 175 – in Deutschland, die das klar benannt haben. Wenn wir nur eine Hand voll von anderen europäischen Ländern finden würden, dann könnten wir ganz Moria auf vielleicht 20 Geflüchtete pro Stadt aufteilen. Das sind jetzt keine katastrophalen oder dramatischen Zahlen, sondern es wäre ein klares Bekenntnis für ein direktes Handeln. Dafür würde auch eine Hand voll von europäischen Mitgliedsstaaten reichen mit vielen engagierten Kommunen.
Mein Kollege in Innsbruck beispielsweise, Georg Willi – Freiburgs Partnerstadt in Österreich -, hat dasselbe angeboten und hat sich an Wien gewandt, und so gibt es in vielen Ländern auch engagierte Kommunen, die das anbieten.
Migranten fliehen vor neu ausgebrochenen Feuern mit ihren Habseligkeiten aus dem Flüchtlingslager Moria.
Migrationsexperte zur Lage der Flüchtlinge auf Lesbos - "Statisten in einem Abschreckungsdrama"
Dass die griechische Regierung nach dem Brand im Flüchtlingscamp Moria keine Hilfe von außen angefordert habe, zeige, dass die schlechten Bedingungen gewollt seien, sagte der Migrationsexperte Gerald Knaus im Dlf. "Das ist eine Politik der Abschreckung."
"Mache bei weitem kein Politik-Bashing in Richtung Bundesregierung"
Barenberg: Nun haben wir ja gerade in dem Bericht aus unserem Hauptstadtstudio von Horst Seehofer, vom Bundesinnenminister gehört, dass jetzt 400 minderjährige Kinder und Jugendliche in einem ersten Schritt kommen sollen, dass sich auch schon zehn EU-Staaten bereitgefunden haben, es hoffentlich noch mehr werden. Was sagen Sie dazu? Ist das zumindest ein Schritt in die richtige Richtung?
Horn: Ich bin parteilos und ich mache bei weitem kein Politik-Bashing in Richtung Bundesregierung, sondern ich bin der Bundesregierung für viele Bereiche überaus dankbar, das ganze Corona-Management etcetera. Aber ganz ernsthaft: 400 Kinder, zehn Länder, und es sollen jetzt noch mehr Länder gefunden werden? 400 durch zehn – das finde ich eine sehr ernüchternde Zahl. Und was mich wirklich ärgert daran ist auch: Natürlich geht es um das Schicksal dieser Menschen vor Ort. Es geht um Menschenleben und um Perspektiven für junge Geflüchtete, für Familien, für Frauen wie auch für Männer. Aber es geht doch auch um europäische Solidarität.
Ich habe unter anderem auch für den Europarat gearbeitet in meinem Vorjob und war 2016 mehrfach auf der Insel Samos. Das waren erschreckende Szenen dort. An dem ersten Tag, wo ich auf der Insel Samos angekommen bin, sind elf Geflüchtete ertrunken, wenige Meter von der Küste entfernt, mit diesen gefälschten Schwimmwesten. Wir sehen dieses Leid jetzt schon seit vielen Jahren und unsere Reaktionen sind, 400 Kinder in zehn Ländern aufzunehmen? Das ist sehr wenig überzeugend, und das ist sehr positiv ausgedrückt.
Barenberg: Seit dieser Brand geschehen ist, seit das Lager weitgehend zerstört wurde, wird ja auch viel darüber gesprochen in den letzten Tagen, ob Absicht dahinter steckt, ob es abschreckende Verhältnisse sind, die geradezu gewollt sind. Teilen Sie diese These?
Horn: Über die Brandursachen kann ich in der Tat nichts sagen. Das sind ja alles mutmaßliche Überlegungen. Klar ist aber, dass dieser Brand dafür gesorgt hat, dass Moria natürlich jetzt im europäischen, vielleicht sogar weltweiten Fokus steht, und dass die Geflüchteten dort jetzt zeitnah verlegt werden müssen.
Das Foto zeigt Migranten im abgebrannten Lager von Moria.
Migranten sitzen im abgebrannten Lager von Moria (AFP / Anthi Pazianou)
Barenberg: Herr Horn, ich meinte auch gar nicht die Brandursache oder die Hintergründe dieser Brände, sondern ich meinte die Verhältnisse an sich in Moria, die schon seit Monaten, seit Jahren im Grunde genommen kritisiert werden, und in den letzten Tagen hört man immer häufiger das Argument, da steckt System dahinter, mit voller Absicht sind die Verhältnisse so dort gelassen worden, um Flüchtlinge abzuschrecken, weiterhin zu kommen.
Horn: Furchtbarerweise hört sich das ein Stück weit nach einer plausiblen Überlegung an. Ich habe schon erwähnt: Ich war mehrfach auf der Insel Samos und die Zustände dort haben mich wirklich nach wie vor geschockt. Ich bin nach wie vor erschrocken über diese Zustände auf dieser Insel.
Jetzt war ich persönlich noch nie auf Lesbos und noch nie in Moria, sondern wie gesagt nur auf einer Nachbarinsel. Das ist natürlich ein Stück weit auch europäische Politik an der Stelle. Wir reden über Pull- und Push-Faktoren, immer wieder politisch, und da ist jetzt die Frage. Zum einen gibt es schon auch radikale Stimmen, die sagen: Super, jetzt stecken die Flüchtlinge ihre Lager an und dann dürfen sie nach Europa einreisen. Oder auf der anderen Seite: Super, jetzt gibt es gleich die zweite Welle. Aber das darf doch nicht die Grundlage der Diskussion sein. Wir reden doch über eine EU mit einer Menschenrechts-Charta und mit einem humanistischen Selbstbild, und daran sind wir nach meinem Verständnis jetzt gescheitert.
Katrin Göring-Eckardt, Fraktionsvorsitzende von Bündnis90/Die Grünen im Bundestag, aufgenommen bei der Klausur der Grünen-Bundestagsfraktion
Göring Eckardt (Grüne) zu Flüchtlingsaufnahme - "Eine europäische Lösung kommt mir wie eine große Ausrede vor"
Katrin Göring-Eckardt, Fraktionschefin der Grünen im Bundestag, hat sich im Dlf entsetzt gezeigt über die Zustände auf der griechischen Insel Lesbos nach dem Brand im Flüchtlingscamp Moria. Sie forderte die Bundesregierung auf, mit gutem Beispiel voranzugehen und geflüchtete Menschen aufzunehmen.
"Wir sind eine sehr weltoffene, liberale Stadt"
Barenberg: Bleibt aber die Frage jedenfalls längerfristig, ob Europa ohne Ordnung in dieser Frage auskommt, ob es reicht, wenn dann ad hoc einzelne Staaten Flüchtlinge aufnehmen und sich andere auf Dauer weigern. Kann das die Lösung sein?
Horn: Nein, auf keinen Fall, weil genau dann kommen wir zu diesem Aktionismus. In Freiburg haben wir einen extrem engagierten Gemeinderat. Wir sind eine sehr weltoffene, liberale Stadt. Auch bei fast allen Seenot-Aktionen bekomme ich Briefe von Fraktionen. Es darf nicht immer nur nach diesem Einzelmotto sein, ein Stück weit eines humanistischen Aktionismusses, sondern natürlich brauchen wir eine europäische Lösung, ganz klar. Aber an der Stelle, wenn wir über Jahre hinweg scheitern, dann gilt das doch trotzdem. Wir können jetzt nicht sagen: Nein, wir brauchen eine europäische Lösung, und deswegen warten wir jetzt noch mal zehn Jahre. Sondern wir müssen jetzt handeln und dadurch aber den Druck auch auf die Nachbarn erhöhen. Das können wir nur gemeinsam schultern und Deutschland hat einiges geschultert, aber Deutschland als größtes Land in der EU muss auch der Verantwortung gerecht werden.
Barenberg: Wenn jetzt Horst Seehofer morgen bei Ihnen anruft – im Moment sieht es nicht so aus, aber nehmen wir an, er ruft an und sagt, okay, wir nehmen das Angebot an, Sie können Flüchtlinge nehmen -, wie stellen Sie sich das vor, wie soll das funktionieren?
Horn: Zum einen ist es so: Wir haben eine Erstaufnahme bei uns in Freiburg. Das heißt, wir haben aktuell Kapazitäten. Freiburg ist eine sehr offene Gesellschaft. Wir haben ein Leitbild für Migration und Integration, das wir gerade intensiv diskutieren. Das heißt, wir brauchen natürlich eine Verteilung. Ich als Kommunalpolitiker – das ist überhaupt nicht mein Bereich -, wir haben keinen Durchschlag. Es gibt auch einen Appell nach dem Motto, wir sollen als Stadt direkt Geflüchtete aufnehmen. Das ist rechtlich gar nicht zulässig. Das geht nur über das Innenministerium. Aber wir sind als Freiburg nicht alleine, sondern wenn wir diese 200 Städte nehmen und wenn diese 200 Städte an der Stelle jede Stadt 20, 30 Geflüchtete aufnehmen würden, dann würden wir schon ein deutliches Zeichen der Veränderung setzen.
Hier liegt der Antrag vor bei mir im Rathaus, dass wir 100 Geflüchtete in Freiburg aufnehmen würden. Wir haben insgesamt 5.000 Geflüchtete in der Stadt. Das heißt, eine Zahl von 100 Geflüchteten würde sich in dem Maße ganz schnell auch relativieren. Das heißt, Freiburg steht zu seinem Wort, genauso wie das meine Oberbürgermeister-Kolleginnen und Kollegen machen.
Der Großbrand im Flüchtlingslager Moria mit hell lodernden Flammen (© Eurokinissi via ZUMA Wire)
EU-Abgeordneter zu Moria - "Frage mich, warum man Menschen über Jahre entwürdigt"
Ursache für das Feuer im Flüchtlingscamp Moria in Griechenland sei wahrscheinlich Brandstiftung, sagte der Grünen-EU-Abgeordnete Erik Marquardt im Dlf. Es reiche aber nicht, jetzt Schuldige zu finden. Die Politik habe ihre Verantwortung dort seit Jahren nicht wahrgenommen und müsse endlich für humanitäre Hilfe sorgen.
"Natürlich gibt es auch kritische Stimmen"
Barenberg: Wenn Sie sagen, Freiburg steht zu seinem Wort – das heißt auch, Sie sind sich sicher, dass Sie die Unterstützung in der Bevölkerung haben, etwa jetzt ganz konkret Flüchtlinge auch aus Moria aufzunehmen?
Horn: Das Thema polarisiert, ganz klar. Das heißt, es gibt in unserer Freiburger Stadtgesellschaft nicht nur Menschen, die das ausdrücklich unterstützen, sondern natürlich gibt es auch kritische Stimmen. Ich kriege bereits jetzt die ersten bösen, zum Teil auch drohenden Briefe und E-Mails oder Anrufe, nur durch die Berichterstattung des heutigen Tages, und ich vermute, es wird meinen Kolleginnen und Kollegen genauso gehen. Das heißt, es gibt auch viel Hass und viel Hetze. Aber gleichzeitig hat sich Freiburg in diesem gesamten Bereich auch durch unglaublich dramatische Rückschläge, auch durch zwei Kapitalverbrechen niemals zurückschrecken lassen an dieser Stelle und hat immer ein klares Rückgrat, einen klaren Wertekompass bewiesen. Das heißt, wir hatten gerade gestern zum Beispiel eine spontane Demonstration wieder in der Stadt.
Um das noch mal zu untermauern, was Freiburg will: Wir wollen ja vor allen Dingen eine Lösung, eine menschliche Lösung. Es geht überhaupt nicht darum, dass wir uns jetzt als Stadt irgendwie in den Vordergrund drängen wollen, sondern es geht darum, dass wir mit anderen kommunalen Partnern an der Stelle Druck auf die Bundesregierung ausüben, weil wir sagen, wir müssen ein Zeichen setzen, und es ist jetzt die Zeit zu handeln. Der Brand in Moria hat das, was eigentlich uns allen vor Augen ganz bewusst ist, noch mal so anschaulich gemacht, dass wir keine Zeit für weitere Ausreden und auch keine für große europäische Verhandlungen haben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.