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Flüchtlingscamp Moria
Ehemaliger griechischer Regierungssprecher: Das Land befürchtet einen Kontrollverlust

Die Europäische Union müsse Griechenland helfen, die Menschen aus dem abgebrannten Lager in Moria vor Ort zu versorgen, sagte der ehemalige griechische Regierungssprecher Evangelos Antonaros im Dlf. Die Menschen aufs Festland zu holen oder ausreisen zu lassen, halte die Regierung für ein zu großes Risiko.

Evangelos Antonaros im Gespräch mit Christiane Kaess | 15.09.2020
Eine Luftaufnahme zeigt neue Zelte, in denen Flüchtlinge aus dem abgebrannten Lager Moria unterkommen sollen.
Eine Luftaufnahme zeigt neue Zelte, in denen Flüchtlinge aus dem abgebrannten Lager Moria unterkommen sollen (imago)
Nach dem Brand im Flüchtlingscamp in Moria auf der griechischen Insel Lesbos leben die Menschen dort unter unwürdigen Zuständen. Griechenlands Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis (Nea Dimokratia) möchte sie auf Kriegsschiffen, Fähren und in neuen Zeltstädten unterbringen. Ausreisen solle kein einziger der Menschen. "Es besteht kein Zweifel, dass Moria von einigen hyperaktiven Flüchtlingen und Migranten verbrannt wurde, die die Regierung erpressen wollten, indem sie Moria niederbrannten und ihre sofortige Umsiedlung von der Insel forderten", sagte Mitsotakis.
Stattdessen solle Deutschland Flüchtlinge aufnehmen, deren Asylverfahren bereits abgeschlossen seien. Auch anerkannte Flüchtlinge leben in Griechenland teilweise in der Hauptstadt Athen auf der Straße, mit der Versorgung ist das Land überfordert.
Eine Frau sitzt vor ihrem Zelt an der Straße und hat den Kopf auf die rechte Hand aufgestüzt. Sie sieht nachdenklich aus.
Der Moria-Irrtum - aus Moria wird niemand nach Deutschland kommen
In Deutschland wird über die Aufnahme von Flüchtlingen aus dem abgebrannte Flüchtlingslager Moria diskutiert, doch in Griechenland lehnt man deren Ausreise ab. Europäische Hilfe vor Ort ist aber dringend gewünscht.
Überfordert sei das Land schon länger mit der Situation, sagt auch der ehemalige griechische Regierungssprecher Evangelos Antonaros. Es brauche dringend Hilfe aus Europa, neue Zeltlager dürften höchstens eine kurzfristige Notlösung sein. Alle europäischen Maßnahmen bräuchten jedoch die Zustimmung Griechenlands.
Die Menschen auf das griechische Festland zu holen, sei für die griechische Regierung keine Option. Denn man fürchte, die Kontrolle über deren Bewegung zu verlieren. "Dann weiß man nicht mehr, wo sie sind", sagte Antonaros. Er selbst befürworte diese Lösung aber.
Evangelos Antonaros
Evangelos Antonaros (dpa / picture-alliance / Karlheinz Schindler)
Denn die Ausreise aus Griechenland zu bewilligen, habe Konsequenzen: "Wenn man zu viele Menschen auf den Inseln weiterreisen lässt, dann ist das auch ein Signal an die Türkei und an die Millionen Flüchtlinge, die in der Türkei leben, weiterzukommen. Dann wird das dahingehend interpretiert, dass sie Europa doch erreichen können."
Klar sei, dass etwas passiere müsse: "Was zur Zeit auf Lesbos herrscht, das ist völlig untragbar." Man müsse jedoch auch die Perspektive der 85.000 Bewohner der Insel sehen. Diese sähen die 13.000 Menschen, die dort nun unterwegs sind, auch als Bedrohung.

Das vollständige Interview im Wortlaut:
Christiane Kaess: Herr Antonaros, bevor wir auf die Politik der griechischen Regierung schauen, möchte ich Sie gerne fragen: Wie geht es Ihnen, wenn Sie die Bilder aus Lesbos sehen?
Evangelos Antonaros: Ich finde, das ist unmöglich, was dort passiert. Ich finde, es ist unmöglich, was teilweise in Stadtteilen von Athen passiert, wo sich Menschen aus verschiedenen Ländern, aus Afrika, aus dem Nahen Osten, aus Südasien sammeln und einfach im Freien schlafen. Das geht noch in Griechenland, weil das Wetter noch sommerlich ist, aber da kann man sich vorstellen, wie das im Winter sein wird, wenn es genauso kalt wird wie in Deutschland.
Kaess: Wer trägt die Schuld an diesen Zuständen?
Antonaros: Ich würde sagen, es gibt keinen richtigen Fluss Richtung Europa, weil die Menschen, die hier illegal ins Land kommen, nach Griechenland kommen, die wollen gar nicht in Griechenland bleiben. Griechenland ist nicht deren Zielort und sie träumen von Zentraleuropa, von Nordeuropa und betrachten Griechenland als Übergangsland. Sie kommen über die Türkei, aus der Türkei, aber die Türkei ist auch ein Transitland, wo sich im Moment, wie Sie sicherlich wissen, ein paar Millionen Menschen, Flüchtlinge aufhalten und mit der Hoffnung leben, dass sie weiterreisen können.
Es gibt gewaltige Bevölkerungsströme, die wir, glaube ich, in den letzten 50, 60 Jahren noch nicht erlebt haben in Europa, und Griechenland liegt irgendwo dazwischen. Griechenland hat die Inseln, die dem türkischen Festland vorgelagert sind, und als erstes erreichen die Flüchtlinge diese Inseln, und das ist das Problem.
Andreas Geisel (SPD) steht im Berliner Abgeordnetenhaus bei einer Plenarsitzung am 20. August 2020 am Rednerpult.
Geisel (SPD): "Deutschland muss jetzt handeln"
Angesichts der humanitären Katastrophe auf Lesbos müsse man jetzt Hilfe leisten, sagte der Berliner Innensenator Andreas Geisel (SPD) im Dlf. Berlin sei bereit, 300 Kinder und Jugendliche aufzunehmen.
Kaess: Herr Antonaros, dennoch stellt sich ja die Frage, warum die griechische Regierung das Problem nicht in den Griff bekommt, wenn wir mal auf die aktuelle Lage jetzt schauen. Die griechische Regierung sagt jetzt, die Flüchtlinge haben den Brand in Moria gelegt, deshalb lassen wir niemanden aus Lesbos jetzt mehr ausreisen, denn sonst könnte dieser Fall Moria Schule machen. Ist das eine Kollektivstrafe?
Antonaros: Das ist, glaube ich, keine Kollektivbestrafung. Ganz im Gegenteil. Es geht darum, die Asylverfahren, die Asylanträge, die die meisten von diesen Flüchtlingen mittlerweile eingereicht haben, abzuwickeln. Da ist Griechenland mit Sicherheit, da sind die griechischen Behörden im Verzug. Es dürfte möglich sein, sie schneller abzuwickeln. Nur Griechenland befürchtet, wenn man diese Leute aus den verschiedenen griechischen Inseln aufs Festland lässt, dann sind sie unkontrollierbar. Dann weiß man nicht, wo sie sind. Dann könnten sie natürlich durch die löchrigen, wenn ich das so sagen darf, Grenzen zu Nordmazedonien, Bulgarien und Albanien weiterkommen und auf verschiedenen Wegen auch Europa erreichen.
"Wie viele Flüchtlinge will man überhaupt verkraften?"
Kaess: Aber wenn der griechischen Regierung das so wichtig ist – Sie sprechen davon, die griechischen Behörden sind im Verzug -, warum ist da denn jahrelang nichts vorangegangen? Diese Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln, die sollten ja Hotspots sein, wo die Asylverfahren schnell abgewickelt werden. Warum sind die griechischen Behörden da so heillos gescheitert? Kann man nicht, oder will man nicht anders handeln?
Antonaros: Ich glaube, man kann auch nicht. Die griechischen Behörden haben im Grunde genommen keine Erfahrung, wie Sie in Deutschland oder in Schweden oder in den Niederlanden oder in anderen Ländern haben, solche Anträge zu bearbeiten.
Aber da gibt es auch eine andere Schwierigkeit: Wenn man zu viele Menschen auf den Inseln weiterreisen lässt, dann ist das auch ein Signal an die Türkei und an die Millionen Flüchtlinge, die in der Türkei leben, weiterzukommen. Dann wird das dahingehend interpretiert, dass sie Europa doch erreichen können. Wollen wir das? Will Europa das? Das ist für mich eine ganz große Frage.
Wie viele Flüchtlinge will man überhaupt verkraften, ob das Wirtschaftsflüchtlinge sind oder politische Flüchtlinge? Das sind natürlich zwei große Gruppen, die muss man auch auseinanderhalten.
Kaess: Das wäre die These, wenn ich da noch mal kurz reingehen darf, die griechische Regierung braucht diese abschreckenden Bilder und deshalb lässt sie die Flüchtlinge auf den Inseln und unter diesen Zuständen, die wir sehen. Das heißt, diese These stimmt, Ihrer Ansicht nach?
Antonaros: Ich bin nicht so sicher. – Ich bin nicht so sicher, ob das alles so in dieser Form hundertprozentig stimmt. Ich würde nur sagen, das ist ein Problem, das man nicht aus den Augen verlieren darf, denn die Türkei hat natürlich die Möglichkeiten, die Schleusen aufzudrehen oder wieder zu schließen.
Ich bin dafür, dass die Flüchtlinge, die sich zurzeit auf Lesbos, auf Chios, auf Samos, auf Leros aufhalten – das sind im Grunde genommen die vier wichtigsten Inseln -, auf das Festland verteilt werden, aber das ist meine persönliche Meinung.
"Was zurzeit auf Lesbos herrscht, das ist völlig untragbar"
Kaess: Und das sieht die griechische Regierung offenbar ganz anders, Herr Antonaros. – Ich möchte Sie noch mal fragen, denn viele Leute fragen sich das wahrscheinlich auch. Die EU hat in den letzten Jahren fast drei Milliarden Euro an Griechenland überwiesen und die Regierung hat es nicht geschafft, menschenwürdige Unterkünfte für die Flüchtlinge zu schaffen. Wo bleibt dieses Geld in Griechenland?
Antonaros: Ich habe keine Ahnung. Das muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen. Ich habe keine Ahnung, ob das ganze Geld auch überwiesen worden ist. Es gibt hier in der Presse Berichte, wonach nur ein Teil, ein Bruchteil dieses Geldes überwiesen worden ist. Das ist genehmigt worden. Ob das überwiesen worden ist, das weiß ich nicht. Dieses Geld wird auch nicht direkt von der griechischen Regierung verwaltet. Es wird teilweise von Hilfsorganisationen verwaltet und da muss man auch ganz genau beziehungsweise viel genauer durchschauen können. Auf jeden Fall die Umstände und was zurzeit auf Lesbos herrscht, das ist völlig untragbar, und es ist auch verständlich, dass die Menschen auf der Insel Lesbos, wo zurzeit 85.000 Griechen leben, konfrontiert sind mit zwölf, 13.000 Flüchtlingen, die frei herumlaufen, von der Bevölkerung als eine Art Bedrohung – ich mag das Wort nicht, ich stimme dem Wort auch nicht zu, aber so werden sie von der griechischen Bevölkerung betrachtet. Und das schafft auch Spannungen, die aus der Welt geschaffen werden müssen. Sonst erleben wir in der nahen Zukunft sehr unangenehme Situationen und Zwischenfälle und das muss um jeden Fall verhindert werden.
Kaess: Aber da stellt sich wirklich die Frage, ob das Problem nicht schon in der Vergangenheit viel länger man hätte angehen müssen, denn Moria galt ja schon lange als Schande Europas, haben es viele bezeichnet. Wir kennen diese menschenunwürdigen Umstände, wir haben die Bilder gesehen. In dem Lager sind Frauen vergewaltigt worden, es sind im Winter dort Menschen erfroren. Deshalb noch mal die Frage: Warum hat die griechische Regierung, die das Problem vor der eigenen Haustür hat, warum hat sie das zugelassen?
Antonaros: Sie waren einfach überfordert. Das sage ich Ihnen ganz offen. Die Griechen sind, was Organisation betrifft, nicht Weltmeister und man hat gehofft, dass sich das alles von sich aus regeln würde. Das ist nicht der Fall gewesen. Bis vor einem Jahr, bis vor 14 Monaten hat es auf Moria nur – das ist schon ein bisschen zu viel, aber nur 5500 Flüchtlinge gegeben. Dann Ende 2019 ist die Zahl auf 19 bis 20.000 angestiegen, weil es auf einmal gewaltige Flüchtlingsströme gab.
Jetzt sind sie wieder auf zwölf bis 13.000 zurückgegangen. Viele von diesen Menschen haben ihren Asylantrag bewilligt bekommen, sie sind weitergekommen, sie sind sozusagen ausgewandert. Einige sind an die Türkei zurückgeliefert worden aufgrund des Abkommens zwischen der Europäischen Union und der Türkei. Aber das sind immerhin sehr viele Menschen und ich bin der Meinung, dass mit europäischer Hilfe, möglicherweise auch mit europäischer Aufsicht, wenn ich das sagen darf, die Situation auf der Insel normalisiert werden soll.
Dass man jetzt auf griechischer Seite versucht, mit Zelten das Problem in den Griff zu bekommen, das kann keine Dauerlösung sein, vor allem angesichts der Wintersituation nicht. Das können die Menschen nicht ertragen. Da werden sehr viele Leute das nicht überleben. Da sind sehr viele Kinder dabei, unbegleitete Minderjährige, ältere Leute, schwangere Frauen. Das muss anders organisiert werden. Deswegen muss auch in dieser Situation die Europäische Union da präsent sein, nicht unbedingt über Hilfsorganisationen, sondern mit einer, ich würde sagen, Task Force, die das beaufsichtigen soll, und das muss natürlich im Einverständnis mit der griechischen Regierung passieren.
//Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.