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Flüchtlingsforschung
"Es werden nicht alle versuchen zu kommen"

Schlepper werden als Kriminelle dargestellt, die Fluchtursachen aber ignoriert. Diese Rhetorik verlagere die Probleme, warnt die Marburger Flüchtlingsforscherin Ulrike Krause im Deutschlandfunk. Europa könnte viel mehr für Flüchtlinge tun.

Ulrike Krause im Gespräch mit Christoph Schmitz | 23.04.2015
    Eritreische Flüchtlinge warten vor einem UN-Flüchtlingslager in Sana, Jemen, auf Hilfe.
    Die meisten Flüchtlinge bleiben in ihrer Herkunftsregion. (dpa / picture-alliance / Yahya Arhab)
    Christoph Schmitz: Rund 51 Millionen Zwangsmigranten sind weltweit unterwegs, Kriegsflüchtlinge, Binnenvertriebene, Asylsuchende. 22 Millionen Menschen sind auf der Flucht vor Umweltkatastrophen, zehn Millionen Staatenlose soll es geben - Zahlen des UN-Flüchtlingskommissariats -, 83 Millionen sind es insgesamt, 1,14 Prozent der Weltbevölkerung. Die größte Aufmerksamkeit bekommt derzeit die Katastrophe auf dem Mittelmeer. Wir sind sprachlos, empört, rätseln darüber, wie reagiert werden müsste, um Menschenleben zu retten, Schlepperbanden das Handwerk zu legen, eine angemessene Asylpolitik zu installieren und die Ursachen der Migration zu beheben. Die wissenschaftliche Erforschung der Migration allgemein hat schon eine gewisse Tradition in Deutschland, die Flüchtlingsforschung kaum. Dr. Ulrike Krause ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg und betreibt das, was man als Flüchtlingsforschung bezeichnet. Was sagen Sie zu den aktuellen Fällen?
    Ulrike Krause: Leider scheint die Tendenz, die wir in den vergangenen Jahren schon gesehen haben, sich weiter fortzuführen: eine ganz, ganz starke Nord-Süd-Polarisierung. Während das vor Jahren noch ganz vereinfacht dargestellt der globale Norden war, reiche industrialisierte Länder waren die Geberländer, und die südlichen Länder, häufig in Afrika, waren die Aufnahmeländer, die die Flüchtlinge hatten. Dadurch wurde ein regionalisierter Hilfsansatz umgesetzt, die Geberländer haben finanziert, die Nehmerländer hatten Flüchtlinge, ganz vereinfacht dargestellt.
    Jetzt zeigen sich diese ganzen Governance-Fragen und Herausforderungen aber noch viel, viel stärker, weil es direkt vor den Toren Europas passiert. Aber anstelle von adäquaten Hilfsansätzen und die humane Sicherheit, die menschliche Sicherheit der Flüchtlinge in den Mittelpunkt zu setzen, werden die Schlepper quasi versicherheitlicht und als nationalstaatlich europäische Probleme dargestellt, sodass wir ganz stark eine Rhetorik sehen, die die Probleme verlagert.
    Die Schlepper werden unter dem Deckmantel des Menschenhandels als Kriminelle dargestellt, aber die Fluchtursachen, die Fluchtgründe, die Motive der einzelnen Menschen werden dabei nicht oder ganz wenig berücksichtigt, sodass die internationale Gemeinschaft ganz offensichtlich vor einem Scheideweg steht, jetzt zu entscheiden, entweder geht es zur staatlichen Sicherheit weiter oder dazu, dass tatsächlich die humanitären Gründe berücksichtigt werden.
    "Die durchschnittliche Dauer von Flüchtlingssituationen sind 20 Jahre"
    Schmitz: Die kennt man aber doch. Das sind Kriege, das sind regionale Konflikte, das sind scheiternde Staaten, das sind Korruption, Gewalt. Was können die Europäer denn da tun?
    Krause: Die Europäer können ganz vielfältige Sachen tun. Sie können nicht nur Zugangswege nach Europa, selbstverständlich legale Zugangswege bereitstellen, sondern auch die Art und Weise, wie in Erstasylländern - hauptsächlich in Afrika und im Nahen und Mittleren Osten - unterstützt wird, umdenken.
    So ist die Flüchtlingsarbeit nach wie vor eine humanitäre Arbeit, die kurzfristig ist, und Hilfsorganisationen stehen sehr häufig vor der Herausforderung, mittelfristig tatsächlich zu unterstützen, weil die Gelder nur auf Jahresbasis oder auf kurzfristiger Basis kommen, sodass da das gesamte System, das Flüchtlingsschutzsystem vor der Herausforderung steht, wie gehen wir mit der Tendenz der Langfristigkeit von Flüchtlingssituationen um. Und die durchschnittliche Dauer von Flüchtlingssituationen sind 20 Jahre. Das ist keine humanitäre Not- und Soforthilfesituation mehr, sondern das geht in andere Entwicklungen über.
    "Es werden nicht alle kommen und es werden nicht alle versuchen zu kommen"
    Schmitz: Die Flüchtlingsströme bleiben, die Situation in den Lagern, die Sie geschildert haben. Was bleibt? Die Tore öffnen und die Menschen, die in ihren Heimatregionen keine Bleibe mehr haben können, nach Europa lassen, alle?
    Krause: Es werden nicht alle kommen und es werden nicht alle versuchen zu kommen. Wenn wir uns das internationale System angucken, bleiben die meisten Flüchtlinge in ihrer Herkunftsregion und haben durchaus auch das Ziel, irgendwann zurückzugehen. Nur die Grundlagen werden ihnen gar nicht gegeben, weil die Konflikte so lange weitergehen. Zum einen: Eine vollkommene Öffnung der Grenzen in die EU wird nicht stattfinden. Dafür ist das System in der EU viel zu restriktiv. Aber es können vielfältige andere Mittel und Wege etabliert werden, und da können die unterschiedlichen wissenschaftlichen Felder auch unterschiedliche Antworten bieten.
    Schmitz: Sie engagieren sich in einem Netzwerk von Flüchtlingsforschern und sind aktiv im Flüchtlings- und Menschenrechtsbereich für internationale Organisationen. Was sagen sie zur aktuellen Diskussion?
    Krause: Die aktuelle Diskussion ist definitiv mit ganz vielen vor allem menschenrechtlichen Herausforderungen konfrontiert. So werden Flüchtlinge ganz häufig entweder als homogene Massen ohne jedwede Identitäten wahrgenommen oder sie werden als Kriminelle dargestellt oder sie werden vor allem in der deutschen Debatte immer wieder vor dem Hintergrund dessen, dass wir ja gut ausgebildete Einwanderer brauchen, dargestellt.
    Aber alle drei Aspekte missachten die humanitäre und soziale Natur all dessen, warum Menschen fliehen, und die Schutzverantwortung der Staaten werden nicht berücksichtigt oder meiner Meinung nach zu wenig berücksichtigt.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.