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Flüchtlingskinder
Psychische Störungen insbesondere bei Mädchen

Viele Flüchtlinge kommen mit der ganzen Familie nach Deutschland. Die Kinder werden, wenn sie hierblieben, als Migranten aufwachsen. Der Wissenschaftliche Beirat des Bundesfamilienministeriums hat jetzt eine Studie zu Migration und Familie mit besonderem Blick auf Kinder veröffentlicht - mit alarmierendem Ergebnis.

Von Bettina Mittelstrass | 04.02.2016
    Flüchtlinge warten am 21.11.2015 an der deutsch-österreichischen Grenze nahe Wegscheid (Bayern) während eines Schneeschauers auf ihre Einreise nach Deutschland.
    Familienbindungen sind ein wesentlicher Indikator für eine gelingende Integration belegt die Studie des Bundesfamilienministeriums. (picture alliance / dpa / Armin Weigel)
    "Es geht ganz gezielt in dem Gutachten tatsächlich um die Beantwortung der Frage: Was bedeutet das, wenn ich als Kind aus einer Familie mit Migrationsgeschichte stamme? Welche Risiken bringt das für mich mit? Aber wir haben auch von Anfang an immer gesagt: Wir müssen auch schauen danach zu fragen, welche Chancen bedeutet das?"
    Professor Irene Gerlach ist die Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirates für Familienfragen beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Der 1970 gegründete unabhängige Verein äußert sich in Form von Gutachten regelmäßig zu Schwerpunktfragen in der Familienpolitik. Dass sich die Wissenschaftler jetzt der Situation von Kindern aus Familien mit einer Migrationsgeschichte seit 1945 zuwendeten, habe erst mal nichts mit der aktuellen Flüchtlingsproblematik zu tun gehabt, sagt Irene Gerlach.
    "Einmal ist es einfach ein quantitativer Grund gewesen: Die Bevölkerung mit Migrationshintergrund umfasst 20 Prozent im Durchschnitt. Sie stellt aber 31 Prozent der Familien und die stellt je nach Situation in den Bundesländern, in Ballungsgebieten, im Ruhrgebiet zum Beispiel oder in Baden-Württemberg mehr als 50 Prozent. Das heißt, es ist ein ganz gewaltiger Anteil unserer Bevölkerung mittlerweile."
    Chancen entwickeln und stabilisieren
    Rund ein Drittel der Kinder bis zu 10 Jahren stammt in Deutschland inzwischen aus Familien mit einer Migrationsgeschichte - 34 Prozent. Sie sollten längst die gleichen Chancen haben:
    "Im Prinzip steht dahinter auch ein Stück weit das Konzept einer Vertragsgemeinschaft unserer Demokratie. Das heißt auch die Frage: Inwieweit können wir sicher stellen, dass die Menschen an allen wirtschaftlichen, an allen politischen Prozessen möglichst gleich teilhaben können, um ihre Chancen zu entwickeln - aber man darf nicht vergessen: Wichtig ist es eben auch, um die Chancen unserer Bevölkerung in der Zukunft zu entwickeln und zu stabilisieren."
    Für unsere älter werdende Gesellschaft müsse es mit Blick auf den Erhalt ihrer Leistungsfähigkeit darum gehen, "kein Kind zurückzulassen", heißt es im Gutachten. Aber ist das so – werden Kinder zurückgelassen? Um die tatsächlichen Rahmenbedingungen der Kinder mit Migrationshintergrund mit Blick auf Bildung, ihre Einbettung in soziale Netze und Gesundheit zu bewerten, haben die Wissenschaftler vorhandene Sozialdaten ausgewertet und eigenen Analysen durchgeführt. Sie kommen zu zwei wichtigen Ergebnissen. Das eine ist die bedeutende Verbindung zur Familie:
    "Die größere Familien-Zentriertheit, die größere Bedeutung, die Familie, die Geschwister, die Eltern für die Kinder haben im Vergleich mit Kindern ohne Migrationshintergrund."
    Und zweitens: Die Gemeinsamkeiten zwischen Kindern aus Familien mit und ohne Migrationshintergrund sind offenbar ausgeprägter als die Unterschiede. Ob sie mehr oder weniger gebildet, sozial vernetzt oder gesund sind, ist bei genauem Hinsehen mit anderen sozialen Faktoren erklärbar. Ob sie etwa in frühkindliche Betreuungsangebote eingebunden sind oder nicht, hänge bei allen Kindern in Deutschland zum Beispiel vom Bildungsstand der Eltern oder der Erwerbstätigkeit der Mutter ab. Trotzdem gilt es an einigen Stellen nachzubessern, denn zum Beispiel:
    "Die Involviertheit in Schulleben, in Schulprozesse und so weiter ist deutlich geringer als bei Kindern ohne Migrationshintergrund. Im Hinblick auf Gesundheit gibt es deutliche Unterschiede - von der Zahngesundheit über die höhere Gefährdung durch Adipositas zum Beispiel, die geringeren Teilnahmeraten an Vorsorgeuntersuchungen."
    Unterschiede bestehen auch in Bezug auf außerschulische Angebote - wie Sport, Tanz, Musik- oder Gesangsunterricht. Kinder aus Familien mit Migrationsgeschichte nehmen an solchen Freizeitaktivitäten weniger teil, sagt die Analyse der Daten – vor allem dann weniger, wenn zuhause kein Deutsch gesprochen wird.
    "Was mich aber persönlich erschüttert hat auch, waren Anzeichen - sie waren nicht überdeutlich - aber es sind Anzeichen dafür, dass also psychische Störungen insbesondere bei Mädchen offensichtlich wahrscheinlicher sind, wenn ein Migrationshintergrund vorliegt, und dass das Ganze sogar hingeht bis zu selbstschädigenden und suizidalem Verhalten. Das ist glaube ich ein Warnzeichen, das man hören sollte insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache, dass unter den Flüchtlingskindern insbesondere Mädchen vermutlich noch mal in sehr verstärktem Maße betroffen sind von solchen Gefährdungen."
    Mädchen besonders betroffen
    Vor dem Hintergrund der Flüchtlingsproblematik interpretierten die Wissenschaftler ihre eigenen Ergebnisse erneut und der Beirat formulierte eine gesonderte Stellungnahme zu geflüchteten Familien in Deutschland. Sabine Andresen, Professorin für Sozialpädagogik und Familienforschung an der Goethe-Universität Frankfurt sagt: Der zentrale Befund, dass die Bindung zur Familie für Kinder und Jugendliche ganz wesentlich ist, lässt sich auf Flüchtlinge übertragen:
    "Mit Blick auf soziale Teilhabe, auf Bildung, auf Gesundheit und soziale Netzwerke, leiten wir ab, dass Familienbindungen ein wesentlicher Indikator für eine gelingende Integration sind und dass wir alles tun müssen, damit Familien zusammen bleiben, zusammen kommen, und damit stellt sich auch sofort die Frage nach dem Familiennachzug. Wenn wir es ernst nehmen mit der Integration, dann müssen wir genau an diesem Punkt ansetzten. Als wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen fokussieren wir natürlich genau das."
    Gutachten und Stellungnahme enthalten Empfehlungen für politisches Handeln. Um uneingeschränkte Teilhabe zu realisieren, brauche es Information über Teilhabe-Angebote in verschiedenen Sprachen und so platziert und zugeschnitten, dass sie überall ankommt. Auch müssen die anbietenden Institutionen – wie etwa Initiativen oder Vereine - ihre eigenen Abläufe und Routinen überdenken, um grundsätzliche Hürden für Kinder mit Migrationshintergrund zu identifizieren. Und es braucht: mehr Forschung:
    "Grundlagenforschung, anwendungsbezogene Forschung: Wie wirken Programme beispielsweise, Bildungsprogramme bei Kindern, die ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben - das sind Studien, die wir benötigen, und wir benötigen es mit der Blick darauf: Wie lässt sich das, was herauskommt bei der Forschung, in die Praxis übertragen?"