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Flüchtlingskrise
"Deutschland ist eine humanitäre Großmacht"

Der Hohe Repräsentant der internationalen Gemeinschaft für Bosnien und Herzegowina, Valentin Inzko, sieht keine Gefahr für militärische Auseinandersetzungen auf dem Balkan wegen der Flüchtlingssituation. Die Lage sei unter Kontrolle, sagte er im DLF. Die Hilfsbereitschaft auf dem Balkan sei groß, ähnlich "Bewundernswertes" wie Deutschland könne man allerdings nicht leisten.

Valentin Inzko im Gespräch mit Christiane Kaess | 04.11.2015
    Valentin Inzko, Hoher Repräsentant für Bosnien und Herzegowina, auf dem 66. Sudetendeutschen Tag.
    Valentin Inzko, Hoher Repräsentant für Bosnien und Herzegowina: "Die Bereitschaft zu helfen, besteht" (imago / CTK Photo)
    Christiane Kaess: Die meisten Flüchtlinge kommen im Moment über die sogenannte Balkan-Route nach Österreich und nach Deutschland. Vor allem seit Ungarn seine Grenzen mit einem Zaun dicht gemacht hat, suchen sie ihren Weg über Serbien, Kroatien und Slowenien. Die Länder winken die Massen an Menschen weitestgehend durch. Das wiederum sorgt für Ärger bei den Nachbarn. Aber vor allem unter den Balkan-Ländern selbst sind die Spannungen in den vergangenen Wochen gestiegen. Dennoch hat es viele verwundert, als Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einer CDU-Veranstaltung in Darmstadt erklärte, es könne zu militärischen Auseinandersetzungen auf dem Balkan kommen, sollte Deutschland die Grenze zu Österreich schließen. - Am Telefon ist jetzt Valentin Inzko. Er ist Hoher Repräsentant der internationalen Gemeinschaft für Bosnien und Herzegowina und wir erreichen ihn heute Morgen in Sarajewo. Guten Morgen, Herr Inzko.
    Valentin Inzko: Guten Morgen.
    Kaess: Herr Inzko, hat Bundeskanzlerin Angela Merkel mit ihrer Sorge recht?
    Inzko: Na ja. Ich glaube, sie hat bei einer CDU/CSU-Veranstaltung gesprochen. Das war mehr für ihre eigenen Wähler. Sie hat aber sicher recht, dass man immer wieder aufmerksam sein soll, was da am Balkan passiert. Wir hatten ja viele Balkan-Kriege. Wir hatten einen Ersten Weltkrieg, der gerade am Balkan begonnen hat mit den Schüssen, als Franz Ferdinand getötet wurde. Der Zweite Weltkrieg war ziemlich brutal am Balkan. Und dann der Bosnien-Krieg, dann in Kroatien. Also muss man schon auch fünf Minuten Zeit haben für den Balkan. Aber ich glaube, das war eher für lokale Zuhörer gedacht. Hier am Balkan, glaube ich, wird es zu Auseinandersetzungen nicht kommen.
    "Konfliktpotenziale gibt es immer"
    Kaess: Es wird ja vermutet, dass Angela Merkel angespielt hat auf den Streit zwischen Slowenien und Kroatien. Da ging es darum, dass Slowenien Kroatien vorgeworfen hat, nicht genügend Informationen über die Flüchtlinge, die an die Grenze kommen, wie viele es sind, weiterzugeben. So ein Streit, da sehen Sie kein Potenzial für militärischen Konflikt?
    Inzko: Ich kenne beide Premierminister. Ich glaube nicht. Aber natürlich haben die auch ein eigenes Publikum zuhause. Vor allem der kroatische Premierminister hat jetzt Wahlen in ein paar Tagen und er muss auch irgendetwas sagen. Aber da muss man vielleicht schon ergänzen: Durch Kroatien sind, glaube ich, bisher 300.000 Flüchtlinge durchgezogen, ohne größere Probleme, und die meisten Kroaten haben davon gar nichts gemerkt. Aber natürlich war die Koordination zwischen Kroatien und Slowenien nicht optimal.
    Kaess: Angela Merkel hat ja auch gesagt, sie wolle nicht schwarzmalen. Das geht ein bisschen in die Richtung, die Sie sagen. Aber Merkel sagte auch, es gehe schneller als man denkt, dass aus Streit auch Handgreiflichkeiten werden und aus Handgreiflichkeiten dann auch Dinge entstehen, die wir alle nicht wollen. Sie haben gerade in Ihrer ersten Antwort ein bisschen das Konfliktpotenzial in der Region geschildert. Sie sagen schon, es gibt diese Bedrohung nach wie vor?
    Inzko: Konfliktpotenziale gibt es immer. Wir haben auch in Slowenien Konfliktpotenziale. Wir haben gerade jetzt drei Tote gehabt hier in Bosnien-Herzegowina, als ein Ehegatte seine Frau erschossen hat und dann zwei Kinder. Aber ich glaube, es ist alles unter Kontrolle. Wir haben heute auch einen sehr guten Tag hier in Bosnien-Herzegowina: der erste Besuch der Regierung aus Serbien unter Premierminister Vucic bei der Regierung in Bosnien-Herzegowina in Sarajewo. Also es gibt auch positive Signale.
    "Hut ab vor Deutschland"
    Kaess: Militärische Auseinandersetzungen sind dann wahrscheinlich etwas zu hoch gegriffen. - Wir haben im September auf der anderen Seite gesehen, dass Kroatien im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise Serbien mit Wirtschaftssanktionen gedroht hat. So etwas wie Handelskrieg - ich nenne das jetzt einfach mal so -, ist das vorstellbar, wenn die Situation sich nicht entspannt, wenn die Länder sich weiterhin überlastet fühlen?
    Inzko: Na ja. Bei Kroatien ist es schon ein bisschen komplizierter. Kroatien ist jetzt ein Staat der Europäischen Union und es kann nur die Europäische Union Sanktionen erheben gegenüber Serbien. Kroatien kann das nicht alleine tun. Gerade im Moment ist aber Serbien ein Liebkind der internationalen Gemeinschaft und ich glaube, es wird dazu nicht kommen. Im Gegenteil: Serbien wird jetzt beginnen mit verschiedenen Kapiteln, die Verhandlungen dazu, was den Beitritt betrifft, und ich glaube, wir werden diese Auseinandersetzung nicht haben. Ich sehe dieses Konfliktpotenzial hier nicht.
    Kaess: Dann schauen wir noch ein bisschen genauer auf den Umgang mit den Flüchtlingen in der Region. Die Regierungen von Serbien und Kroatien und Mazedonien, die sagen ja so ein bisschen, hier will sowieso keiner bleiben. Kann das das Argument in dieser europäischen Flüchtlingskrise sein?
    Inzko: Zuerst einmal Hut ab vor Deutschland. Deutschland ist eine wirtschaftliche Großmacht und es ist jetzt auch eine humanitäre Großmacht. Alle Achtung! Und wirklich: Wir stehen da voller Bewunderung, was Deutschland im Moment leistet. Und ich glaube, es entsteht jetzt ein neues Deutschland-Bild nach meiner Einschätzung. Das Bild der Vergangenheit verschwindet und Deutschland ist jetzt wirklich eine humanitäre Großmacht. Zuerst einmal wollte ich das sagen. Was die anderen Länder betrifft: Natürlich könnten die mehr tun. Aber Österreich hat bisher 70.000 bis 80.000 aufgenommen. Am Balkan ist es noch eher dürftig, obwohl zum Beispiel Kroatien Gigantisches geleistet hat während des Bosnien-Krieges. Da wurden Hunderttausende aufgenommen in alte kommunistische jugoslawische Hotels. Das geht jetzt nicht mehr. Aber ich glaube, sogar in Bosnien-Herzegowina sind sie bereit,...
    Kaess: Warum geht das nicht mehr?
    Inzko: Na ja. Diese Hotels sind jetzt alle modernisiert. Die sind in Betrieb, in Dubrovnik und anderswo. Aber ich glaube, die Bereitschaft besteht zu helfen, und sogar in Bosnien-Herzegowina gibt es Kontingente, sollte es dazu kommen. Aber natürlich: Für jeden ist Deutschland das große Ideal, der Wohlstand in Deutschland und in Westeuropa, Skandinavien, Schweden und so weiter.
    Kaess: Das war jetzt viel Lob für Deutschland, das Sie da losgeworden sind.
    Inzko: Haben sie verdient, ja!
    "Auf menschlicher Ebene ist die Bereitschaft groß"
    Kaess: Dennoch kann Deutschland natürlich nicht alles alleine stemmen. Sie haben selber gerade gesagt, die Bereitschaft in den Balkan-Staaten ist bisher dürftig. Warum ist das so?
    Inzko: Na ja, die sind ja zum Teil selber arm, auch wenn sie in der EU sind. Zum Beispiel Griechenland ist in der EU und das ist ja die erste Anlaufstelle. Da wird auch nur durchgewunken. Dann haben Sie Bulgarien und dann die anderen Länder wie Bosnien-Herzegowina. Die hatten selber einen Krieg und man sieht die Folgen des Krieges noch immer auf Schritt und Tritt. Und da kann man nicht erwarten, dass die größere Mengen aufnehmen. Aber ich muss Ihnen schon sagen: Was die Menschen betrifft, auf menschlicher Ebene ist die Bereitschaft groß. Sie können sich ja noch selber erinnern, wie das war vor 20 Jahren.
    Kaess: Sie haben es gerade selber angesprochen: schwache Wirtschaft, auch hohe Korruption spielt da wahrscheinlich mit rein.
    Inzko: Ja.
    Kaess: Wieso haben denn die Aufbauprogramme der letzten Jahre die Probleme eigentlich überhaupt nicht lösen können?
    Inzko: Na ja, ich glaube, die haben zu viel auf militärische Sicherheit gesetzt, und das war ja auch wichtig. Wir hatten hier 60.000 Soldaten nach dem Krieg und das hat auch wunderbar funktioniert. Wir haben jetzt einen Friedensvertrag, den Dayton-Friedensvertrag. Der ist 20 Jahre in Kraft. Es gab keine Auseinandersetzungen, keine Toten nach diesem Friedensvertrag. Aber wir haben diese menschliche Sicherheit zu wenig beachtet, so wie zum Beispiel Deutschland und Frankreich. Da gab es ein gigantisches Versöhnungsprogramm. Wir haben auch auf Bildung zu wenig Wert gelegt. Ja, da gibt es einige Versäumnisse.
    Kaess: ... sagt Valentin Inzko. Er ist Hoher Repräsentant der internationalen Gemeinschaft für Bosnien und Herzegowina. Danke schön für dieses Gespräch heute Morgen.
    Inzko: Danke auch für den Anruf und viele Grüße.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.