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Flüchtlingslager in Griechenland
Warum der EU-Türkei Deal nicht funktioniert

Mehr als 40.000 Geflüchtete leben in den Lagern der griechischen Ägäis-Inseln - obwohl nur Platz für rund 7.500 Menschen ist. Die katastrophale Lage zeigt vor allem eins: Der EU-Türkei-Deal ist gescheitert. Und auch die EU-Staaten selbst sind von einer gemeinsamen Flüchtlingspolitik noch weit entfernt.

Von Alexander Göbel | 24.12.2019
Flüchtlinge im Aufnahmelager Moria auf der griechischen Insel Lesbos
Flüchtlinge im Aufnahmelager Moria auf der griechischen Insel Lesbos (AFP / Aris MESSINIS)
Seit langem ringt die Europäische Union um ein Asylsystem. Doch der gordische Knoten ist bis jetzt nicht zerschlagen, und die politische Realität in vielen Mitgliedsstaaten und den Anrainern macht gemeinsame Lösungen immer komplizierter. Die EU verbeißt sich 2019 beim Thema Seenotrettung - obwohl die Zahl der Ankünfte über das zentrale Mittelmeer stark abgenommen hat. Und dabei spielt sich das noch größere Drama weiter östlich ab.
Beispiel: Griechenland. Die Lage in den völlig überfüllten Hotspots, den Registrierlagern auf den Inseln der Ägäis, gerät zunehmend außer Kontrolle. In und um das Lager von Moria auf der Insel Lesbos leben mehr als 18.000 Menschen, bei einer Aufnahmekapazität von knapp 3000. Inzwischen harren in den Camps der Inseln mehr als 41.000 Menschen aus. Das ist die höchste Zahl seit Inkrafttreten des EU-Türkei-Flüchtlingspaktes im März 2016.
"Der Hotspot-Ansatz hat in den letzten vier Jahren bewiesen, dass er auf ganzer Linie gescheitert ist", sagt Christos Christou, internationaler Direktor von "Ärzte ohne Grenzen". Er vergleicht die katastrophalen Zustände in den Lagern mit Kriegsgebieten. "Es geht ja nicht nur um Zahlen, sondern um Menschenleben. Diese Lager sind nichts als eine absichtliche, kollektive Bestrafung von Menschen, die einfach nur sicher leben wollen."
Kaum Rückführungen in die Türkei
Der sogenannte Türkei-Deal, der diese Hotspots erst notwendig gemacht habe, sei praktisch tot, erklärt Birgit Sippel, innenpolitische Sprecherin der SPD im Europaparlament. Der Verwaltungsstau und die schleppenden Asylprüfungen auf Lesbos und den anderen Inseln führten dazu, dass kaum Rückführungen in die Türkei stattfänden. Ganz zu schweigen von einer Verteilung asylberechtigter Menschen in die EU-Mitgliedsstaaten – und einer humanen Behandlung auch derjenigen, die keine Aussicht auf Asyl hätten.
"Und jetzt bricht das System natürlich wieder zusammen, die Türkei hart kein großes Interesse mehr, auch innenpolitisch nicht. Griechenland ist überfordert, und wir haben Zeit damit verschwendet, uns in die Tasche zu lügen, ja morgen kommt ja keiner mehr. Es werden mittelfristig Flüchtlinge zu uns kommen, und wir müssen uns damit auseinandersetzen."
Mehr Lastenteilung fordert auch Griechenlands Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis – doch vor allem die Visegrad-Staaten – Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei – stellen sich quer.
Deutschlands Innenminister Seehofer ist das sehr bewusst: "Das ist ja eine bekannte Position der osteuropäischen Staaten, aber man kann nicht auf der einen Seite von Europa Unterstützung wollen, und auf der anderen Seite keine Solidarität zeigen, wenn es um die Aufnahme von Flüchtlingen geht – das muss erneut diskutiert und gelöst werden."
Seehofers Agenturplan wirft Fragen auf
Denn eine Lösung ist die Voraussetzung für seinen Plan, der eigentlich nicht neu ist, nun aber Fahrt aufnehmen soll. Seehofer schlägt vor, dass eine Art Europäische Asylagentur Migranten und Flüchtlinge an der EU-Außengrenze registriert – was auch in geschlossenen Einrichtungen geschehen könnte. Die Agentur soll Schutzansprüche prüfen, dann sollen die Menschen EU-Staaten zugeteilt werden. Es bleiben große Fragen: Was passiert, wenn die osteuropäischen Staaten sich weiter weigern, Menschen aufzunehmen? Wer würde wohl geschlossene Auffanglager tatsächlich auf seinem Staatsgebiet wollen? Was passiert mit den Menschen, die kein Asyl bekommen?
Erik Marquardt, Migrationsexperte der Grünen im EU-Parlament hat dazu eine klare Haltung. "Es hilft ja auch niemandem, die Leute in andere Länder in die Perspektivlosigkeit zu entlassen, oder – was jetzt droht – sie in geschlossenen Lagern festzuhalten. Da züchtet man sich ja wirklich Probleme an den Außengrenzen."
Ylva Johansson, neue EU-Kommissarin für Inneres, erwartet sich dagegen viel von Horst Seehofers Initiative – und von Deutschland, das im zweiten Halbjahr 2020 die Ratspräsidentschaft übernimmt. "Wir müssen die Migration besser managen und kontrollieren. Wir müssen bei den Rückführungen besser werden – und wir müssen endlich diese Blockade bei den Mitgliedsstaaten lösen."
Neuer Anlauf für Asylreform
Das will auch die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Sie plant einen neuen Anlauf in der festgefahrenen Asylreform und will dazu im Februar oder März Vorschläge machen. "Wir arbeiten mit Hochdruck daran, diese Balance hinzubekommen zwischen Solidarität und Verantwortung", erklärt Margaritis Schinas, der neue EU-Kommissar für die sogenannte Förderung des Europäischen Lebensstils. Europa hat viel getan in diesem Thema, aber nicht genug. Und wir wollen jetzt alles tun, um es diesmal richtig zu machen.
Richtig für wen?, fragt sich Christos Christou von "Ärzte ohne Grenzen", mit Blick auf die Zustände auf den griechischen Inseln. Und hofft, dass die EU diese Frage richtig beantwortet. "Als Mensch, als Familienvater, kehre ich erschüttert von den Inseln zurück. Als Mediziner tut es mir leid - um die Menschen, aber auch um mein erschöpftes Team. Und als europäischer Bürger muss ich sagen: Solche Zustände werde ich in meinem Europa niemals akzeptieren."