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Flüchtlingspolitik
"Die Erstaufnahmestellen sind überfüllt"

Die Bevölkerung stehe der Aufnahme von Flüchtlingen positiv gegenüber, die Politik hingegen habe nur "sehr wenige Konzepte" erarbeitet, bemängelt der stellvertretende Geschäftsführer von Pro Asyl Bernd Mesovic im Deutschlandfunk. Es gebe einen Verfahrensrückstau von 140.000 Fällen, deshalb müsse dringend gehandelt werden.

Bernd Mesovic im Gespräch mit Gerd Breker | 24.10.2014
    Ein Kleinkind steht am 21.11.2013 in Eisenberg (Thüringen) auf dem Gelände der Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge und Asylbewerber vor Wohncontainern. Die Suche nach einer neuen Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge in Thüringen gestaltet sich weiterhin schwierig. Es sei noch keine Entscheidung gefallen, sagte ein Sprecher des Innenministeriums der Nachrichtenagentur dpa in Erfurt.
    Ein Kleinkind vor einer Erstaufnahmestelle für Asylbewerber in Thüringen (Marc Tirl/dpa)
    Gerd Breker: Bei Kanzleramtsminister Altmaier trafen sich gestern Vertreter der Bundesländer, um über die wachsende Zahl der Bürgerkriegsflüchtlinge und Asylsuchenden zu reden. Zwischen Januar und September haben 116.659 Menschen in Deutschland einen Antrag auf Asyl gestellt; das ist ein Anstieg gegenüber dem Vorjahr um 57 Prozent. Das Treffen gestern fasst die „Süddeutsche Zeitung" zusammen: Man sei sich einig, bald einig zu sein. Noch in diesem Jahr will man die Kosten der Aufnahme von Flüchtlingen zwischen Bund und Ländern neu verteilen. - Wir sind nun am Telefon verbunden mit Bernd Mesovic. Er ist stellvertretender Geschäftsführer von Pro Asyl. Guten Tag, Herr Mesovic.
    Bernd Mesovic: Ja! Ich grüße Sie.
    Breker: Herr Mesovic, der Andrang ist groß. Aber kann das überhaupt überraschen, angesichts der Kriege in allen Ecken der Welt?
    Mesovic: Das kann nicht überraschen, das konnte nicht überraschen, denn wer die Medienmeldungen schon vor zwei, drei Jahren verfolgt hat, musste sich sagen, dass die große Zahl der Flüchtlinge im Nahen Osten letztendlich zum Teil in Europa, in der EU ankommen wird. Das ist mit der bei Flüchtlingsströmen üblichen Zeitverzögerung geschehen, obwohl die Hauptzahl der Flüchtlinge immer noch in den Nachbarstaaten des Iraks und Syriens festsitzt.
    Breker: Darauf zu reagieren, da ist die Politik spät drauf gekommen. Gestern das Treffen, nächste Woche soll es ein weiteres geben. Was genau muss getan werden?
    "... dann brauchen wir am Ende auch Wohnungsbau."
    Mesovic: Sie hatten ja schon vorausgesagt, es werde lediglich eine Art Finanzierungsgipfel geben, und das greift aus unserer Sicht zu kurz. So ist es dann leider gestern Abend auch gekommen und wir meinen, es ist Zeit zu erkennen, dass es nicht nur um Finanzen geht, sondern die Aufnahme von Flüchtlingen ist weit mehr als die bloße Unterbringung und da muss man wirklich jetzt von den kleinen Karos auch wegkommen. Wir brauchen mittelfristige Konzepte. Zum Beispiel, wenn wir sehen, dass mindestens jeder zweite der im Moment ankommenden Flüchtlinge mit Fug und Recht bleiben wird und bleiben darf, dann brauchen wir am Ende auch zum Beispiel Wohnungsbau. Wir haben Vorlaufzeiten bei allen diesen Dingen, die jetzt dringend zu beschließen wären. Ich höre, die Zahl der Entscheider beim Bundesamt soll drastisch aufgestockt werden. Wenn das geschieht, wenn der Beschluss da ist, müssen wir mit sechs bis neun Monaten rechnen, bis überhaupt die Menschen eingearbeitet sind, tätig werden können. Wir haben es im Moment mit einem Verfahrensrückstau von 140.000 Fällen zu tun. Es muss gehandelt werden! Der Zwang zur Einigung betrifft auch alles, was da jetzt mit den Flüchtlingen zu tun ist. Da müssen wirklich andere Konzepte gefahren werden.
    Breker: Lassen Sie uns beim Anfang anfangen, Herr Mesovic. Als Erstes muss ein Asylantrag gestellt werden. Die Bürokratie ist darauf gar nicht vorbereitet, auf diesen Andrang. Wie sieht es in der Wirklichkeit konkret aus?
    Mesovic: Die Erstaufnahmestellen sind überfüllt. Dort muss man nicht nur Unterkünfte vermehren, Außenstellen des Bundesamtes schaffen; man muss auch das entsprechende Personal dort hinbekommen. Ich hoffe, dass das geschieht. Das heißt, auch hier ist die Frage mehr als die des Daches über dem Kopf für die ersten Wochen des Verfahrens, sondern um das Asylverfahren am Laufen halten zu können, müssen die Leute ja registriert und angehört werden. Das ist die Voraussetzung für künftige, hoffentlich wieder zeitnähere Asylentscheidungen.
    "Es gibt sehr wenige Konzepte"
    Breker: Das heißt, Herr Mesovic, im Moment, um es konkret zu machen - die Koalition hat sich vorgenommen, Asylanträge binnen drei Monate zu entscheiden; das ist Illusion; im Moment dauert es deutlich länger?
    Mesovic: Im Moment dauert es nach den amtlich festgestellten Durchschnittszahlen noch mehr als ein halbes Jahr. Aber selbst dieser Durchschnittswert ist Illusion, weil es gibt zwei Gruppen, über die schnell entschieden wird, positiv über die Asylverfahren von Syrern mit einer sehr hohen Anerkennungsquote, fast ausnahmslos negativ über die Asylverfahren von Roma aus den westlichen Balkan-Staaten, und ich sage mal, für die anderen Asylsuchenden, sozusagen den asylrechtlichen Durchschnittsfall, den man sich genau anschauen muss, bei dem dauert es weit über ein Jahr, und das ist natürlich auch der Kern der Proteste schon in der Vergangenheit, die von Flüchtlingen kamen, gewesen, dass man ein, anderthalb Jahre auf eine Erstentscheidung wartet, dann unter diesen unzuträglichen Bedingungen in Unterkünften leben muss, in der Regel ohne Sprachkurse, ohne die Möglichkeit zu sehen, wie es weitergeht, und da sind wir leider immer noch in einer problematischen Situation.
    Breker: Herr Mesovic, Sie haben es auch schon angedeutet: Es ist natürlich so, dass man weiß, etwa bei Bürgerkriegsflüchtlingen aus Syrien, der Krieg wird so schnell nicht zu Ende sein, der wird bleiben wollen, und darauf sind wir gar nicht vorbereitet, dafür gibt es in dieser Republik überhaupt keine Konzepte.
    Mesovic: Es gibt sehr wenige Konzepte, wobei man anerkennen muss, dass in einigen Bundesländern durchaus sowohl über die Unterbringung als auch über die Versorgung noch konstruktiv geredet wird. Man versucht, zum Beispiel Wohnungen zur Verfügung zu stellen. Nicht in allen Bundesländern haben wir nach der Erstaufnahme-Phase so was wie einen Unterbringungsnotstand. Das muss man anerkennen. Es gibt auch übrigens sehr viel Hilfsbereitschaft von privater Seite, sehr viel ehrenamtliches Engagement, und ich möchte eigentlich die Politiker aufrufen, sich da ermutigt zu fühlen und zu sagen, das was die öffentliche Hand schaffen kann, nämlich Wohnungsbau und Unterstützung für solche Sachen, muss sie schaffen, aber sie kann eigentlich auf eine sehr hohe Aufnahmebereitschaft in der Bevölkerung bauen.
    Breker: Der stellvertretende Geschäftsführer von Pro Asyl, Bernd Mesovic, war das im Deutschlandfunk. Herr Mesovic, ich danke Ihnen.
    Mesovic: Ich danke Ihnen auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.