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Flüchtlingspolitik
"So wird das Klima vergiftet und Ressentiments geschürt"

Das politische Klima in Deutschland drohe zu kippen, sollten die Bedürfnisse der Kommunen in der Flüchtlingskrise nicht ernst genommen werden, sagte die neue Vorsitzende der Linksfraktions, Sahra Wagenknecht, im DLF. Sie forderte unter anderem mehr Geld für die Städte und Gemeinden vom Bund - notfalls auch mit neuen Schulden. Denn: Mehrkosten für die Unterbringung von Flüchtlingen dürften nicht zu Kürzungen an anderer Stelle führen, die dann auch die Bürger zu spüren bekämen.

Sahra Wagenknecht im Gespräch mit Dirk Müller | 15.10.2015
    Die neue Doppelspitze der Linksfraktion: Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch
    Gemeinsam mit Dietmar Bartsch die neue Vorsitzende der Linksfraktion: Sahra Wagenknecht. (picture alliance/dpa/Kay Nietfeld)
    Aus Sicht von Wagenknecht befindet sich Deutschland in einer Notsituation, in der man Schulden aufnehme müsse, um den Kommunen zu helfen. "Das, was bisher an Bundesmitteln fließt, ist völlig unzureichend", sagte Wagenknecht. Sie forderte, dass der Haushaltsüberschuss im ersten Halbjahr dieses Jahres an die Städte und Gemeinden fließen solle.
    Ohne die Hilfe würden Mehrkosten für die Unterbringung von Flüchtlingen zu Kürzungen an anderer Stelle führen, die dann auch die Bürger zu spüren bekämen. "So wird das Klima vergiftet und so werden Ressentiments geschürt", warnte Wagenknecht.
    Im Zusammenhang mit den geplanten Transitzonen sprach Wagenknecht von "Internierungslagern", die den Flüchtlingen kein freundliches Gesicht zeigten. Auf die Frage, ob sie wegen der steigenden Flüchtlingszahlen für oder gegen eine Grenzschließung sei, wich Wagenknecht aus. Sie unterstrich das Grundrecht auf Asyl. Aber man müsse natürlich sehen, "dass das Problem beherrschbar bleibt".

    Das komplette Interview zum Nachlesen:
    Dirk Müller: Die Flüchtlinge besser, gerechter verteilen, das ist ein Punkt beim EU-Gipfel heute und morgen in Brüssel. Wo bleibt das Geld aus den Hauptstädten für die Aufnahmelager beispielsweise im Nahen Osten, dies ist der andere Aspekt. Zuvor muss der Bundestag entscheiden, pro und contra neues Asylrecht. Ein verschärftes Asylgesetz, das die Menschenwürde infrage stellt, sagen die Kritiker. Ein effektives, belastbares Asylgesetz, das notwendig ist, um die Krise zu meistern, das sagt Thomas de Maizière und mit ihm fast alle in der Großen Koalition. Worum geht's? Drei weitere sichere Herkunftsländer auf dem Balkan kommen hinzu. Mehr Sachleistungen statt Geld soll es geben. Und längere Aufenthalte in Erstaufnahmelagern. Zudem sollen die Verfahren insgesamt viel schneller werden. Die Kanzlerin wirbt für Zustimmung. Es geht schließlich um das Gemeinwohl, sagt sie, um unsere gemeinsame Zukunft.
    - Unsere Gesprächspartnerin wird aber mit Nein stimmen wie so oft, Sahra Wagenknecht, neue Fraktionschefin der Linken im Bundestag. Guten Morgen nach Berlin!
    Sahra Wagenknecht: Guten Morgen.
    Müller: Frau Wagenknecht, können Sie nicht auch einmal Ja sagen?
    Wagenknecht: Ach, ich würde gerne Ja sagen. Ich würde zum Beispiel sofort Ja sagen, wenn die Bundesregierung ihren Haushaltsüberschuss von immerhin 21 Milliarden, der im ersten Halbjahr diesen Jahres aufgelaufen ist, wenn sie den an die Kommunen weitergeben würde, an die Städte und Gemeinden, die zurzeit wirklich extreme Probleme haben aufgrund der vielen Flüchtlinge. Wo sie jetzt sich um winterfeste Unterbringung kümmern müssen und vieles mehr. Das Problem ist ja, dass wir sie weitgehend alleine lassen und dass so natürlich Überforderung und Spannungen entstehen.
    Müller: Wird für viele jetzt schwierig sein, am Morgen so früh um 7:17 Uhr das nachzuvollziehen. Wieso lassen wir die Flüchtlinge und die Kommunen alleine?
    Wagenknecht: Ja, weil das, was bisher an Bundesmitteln fließt, völlig unzureichend ist. Wir haben doch in Deutschland die Situation, dass die Kommunen durch die Steuerpolitik der letzten 15 Jahre, also durch Senkung des Spitzensteuersatzes, Senkung der Unternehmenssteuern, finanziell ausgehungert wurden. Es gibt natürlich Kommunen, denen es sehr gut geht, aber es gibt sehr, sehr viele Kommunen, die schon vorher im Haushaltsnotstand waren. Und für die stellt sich jetzt ganz akut die Frage, wenn sie Mehrkosten für Flüchtlinge haben, dass sie andernorts kürzen. Und das betrifft dann natürlich Bürgerinnen und Bürger. Und so wird das Klima vergiftet, so werden natürlich auch Ressentiments geschürt. Und ich finde, das müsste nicht sein in einem reichen Land.
    Müller: Das heißt, wir hätten Milliarden vorhalten sollen für die Zukunft?
    Wagenknecht: Was heißt vorhalten? Die sind ja da. Der Überschuss im ersten Halbjahr von 21 Milliarden ist ja ein Überschuss im Bundeshaushalt.
    Müller: So lange haben wir ja noch keinen Überschuss, Frau Wagenknecht.
    Wagenknecht: Wie gesagt, das sind ja Gelder, die eingegangen sind. Schäuble betet seine schwarze Null an. Natürlich könnte man sagen, das ist jetzt eine Notsituation, wo man auch durchaus Schulden aufnehmen muss. Und das Zweite, was ich auf jeden Fall für wichtig halte, längerfristig: Es kann nicht sein, dass in einem Land wie Deutschland auf der einen Seite riesiger privater Reichtum existiert, auf der anderen Seite viele Städte und Gemeinden tatsächlich abwägen müssen, ob sie Schwimmbäder noch finanzieren können, ob sie Bibliotheken noch finanzieren können, oder ob sie jetzt das Geld für die Flüchtlingsintegration brauchen. Ich nenne nur eine Zahl: Die 500 reichsten Familien in Deutschland haben alleine ein Privatvermögen von 500 Milliarden Euro. Und in so einer Situation nicht endlich mal darüber nachzudenken, dass wir eine ordentliche Vermögenssteuer brauchen, dass wir eine stärkere Besteuerung von Kapitalerträgen brauchen, die ja zurzeit eine Luxusbesteuerung haben, viel, viel geringer als Arbeitseinkommen, das halte ich wirklich für verwerflich.
    Müller: Da hat Wolfgang Schäuble vielleicht im Moment keinen Kopf für, keine Zeit für, sich über die Reform des Steuersystems Gedanken zu machen.
    Wagenknecht: Er sollte vielleicht einen Kopf dafür haben, weil es geht natürlich auch um Geld. Wir haben ja in Deutschland jetzt vermutlich über eine Million Menschen, die in diesem Land dazugekommen sind. Wir haben seit Jahren ein Wohnungsproblem. Gerade Menschen, die kein dickes Portemonnaie haben, haben es schon heute schwer, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Und natürlich werden die Flüchtlinge nicht im Segment der superteuren Wohnungen suchen, sondern sie werden genau in diesem Segment suchen, wo der bezahlbare Wohnraum ist. Weitere Mietsteigerungen sind programmiert. Deswegen brauchen wir ein öffentliches Wohnungsbauprogramm. Das brauchen wir schon seit vielen Jahren, nicht nur wegen den Flüchtlingen.
    Müller: Für Sie ist das ganz klar: Es gibt weitere oder noch mehr soziale Spannungen in Zukunft aufgrund der Verteilungskämpfe?
    Wagenknecht: Ja, das spüren wir doch schon. Das zweite Problem ist das Bildungssystem. Deutschland ist eines der Länder im OECD-Vergleich, die relativ wenig für Bildung ausgeben. Das war auch schon in den letzten Jahren so. Es wurden Lehrerstellen abgebaut, weil die Länder unter der Schuldenbremse den öffentlichen Dienst reduziert haben. Es fallen Stunden aus. Das ist ja alles schon jetzt Situation an den Schulen. Jetzt kommen schätzungsweise 300.000 Kinder mit den Flüchtlingen nach Deutschland, die zusätzlich natürlich schulische Bildung brauchen. Und wenn man da nicht endlich darüber nachdenkt, dass man hier auch mehr Lehrerstellen glaubt. Zu glauben, dass das alles über ehrenamtliches Engagement abzudecken ist. Es ist bewundernswert, wie viel schon jetzt in den letzten Wochen ehrenamtlich und durch Hilfe der Bevölkerung tatsächlich passiert ist. Aber das ist doch unverantwortlich für die Politik, dass sie sich darauf verlässt. Hier müssen doch tatsächlich endlich Ressourcen bereitgestellt werden, um mit dem Problem klarzukommen.
    Müller: Frau Wagenknecht, wenn wir vor ein, zwei und vor fünf Jahren ein Interview dazu geführt hätten - haben wir beide auch gemacht -, dann hörte sich das ähnlich an. Wir wollen jetzt noch einmal ganz konkret auf die aktuelle Situation eingehen. Flüchtlinge, Asylgesetz, unser Thema heute im Bundestag, morgen im Bundesrat. An der Mehrheit zumindest heute besteht so gut wie kein Zweifel. Sie stimmen dagegen, das haben Sie eben ja auch noch einmal klargemacht, das haben wir auch alle erwartet. Sind Sie gegen eine Begrenzung der Flüchtlingszahlen?
    Wagenknecht: Zunächst mal stimmen wir heute gar nicht über eine Begrenzung in dem Sinne ab, dass man jetzt Obergrenzen einführt.
    Müller: Aber das war meine Frage. Sind Sie gegen die Begrenzung von Flüchtlingszahlen?
    Wagenknecht: Das Asylrecht ist ein Grundrecht und Grundrechte kann man nicht begrenzen. Das ist überhaupt nicht mit unserer Verfassung vereinbar.
    Müller: Stimmen Sie also der Kanzlerin zu?
    Wagenknecht: Nur man muss natürlich sehen, dass das Problem beherrschbar bleibt. Es hat ja auch keinen Sinn, wenn Menschen jetzt in den Kommunen in Zelten sind, wo sie irgendwie den Winter nicht überstehen oder zumindest nicht gesund überstehen. Und es hat auch keinen Sinn, wenn man in Dörfer, wo 300 Menschen leben, versucht, tausend Flüchtlinge zu integrieren. Wir müssen natürlich mit dem Problem so umgehen, dass es nicht noch mehr Spannungen erzeugt, dass nicht das politische Klima vergiftet wird, weil Menschen das Gefühl haben und vor allem die, denen es schlecht geht, dass sie durch die Flüchtlinge weitere Verschlechterung haben. Das ist die Verantwortung der Politik.
    Ich nenne noch ein Beispiel: Das ist der Arbeitsmarkt. Es wird jetzt immer lauter gefordert, dass man den Mindestlohn noch mehr aufweicht, dass man dort Möglichkeiten schafft, Flüchtlinge unterhalb des Mindestlohns zu beschäftigen. Ja das bedeutet, dass im Grunde die Flüchtlinge benutzt werden für weiteres Lohndumping. Und natürlich ist das wirklich ein absoluter Angriff auf das politische Klima, wenn Menschen Angst haben, ihren Job zu verlieren oder noch schlechter bezahlt zu werden, weil es einen Arbeitnehmer gibt, der aus den Reihen der Flüchtlinge kommt. So etwas darf die Politik nicht zulassen, weil das ist nicht Schuld der Flüchtlinge, sondern Schuld einer falschen politischen Weichenstellung.
    Müller: Frau Wagenknecht, vielleicht braucht die Kanzlerin, wenn das in der CDU so weitergeht, demnächst Ihre Unterstützung. Deswegen will ich auch noch mal fragen: Sie sind weiterhin für offene Grenzen?
    Wagenknecht: Na gut. Ob die Kanzlerin so weit geht, dass sie tatsächlich auf unsere Unterstützung zählt und am Ende mit uns Mehrheiten organisieren will, ...
    Müller: Oder vielleicht Sigmar Gabriel. Kann ja auch sein. Sie machen ja vielleicht sogar mit.
    Wagenknecht: Ich meine, da muss sie natürlich erst mal sehen: Sie hat auf der einen Seite ja sehr oft gesagt - und das finde ich sympathisch -, dass sie Menschen in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen will. Auf der anderen Seite reden wir jetzt zum Beispiel darüber, dass es Internierungslager im Grenzbereich geben soll, was bestimmt nicht gerade mit einem freundlichen Gesicht vereinbar ist.
    Müller: Transitzonen meinen Sie.
    Wagenknecht: Aber auch hier ist die Frage: Wenn die Menschen hier im Land nicht das Gefühl haben, dass es auch bei ihrer Notsituation ein freundliches Gesicht gibt, dass die Kanzlerin sich auch darum kümmert, wenn Menschen in Dauerbefristungen sind, wenn sie Not haben, Wohnraum zu finden, wenn sie von ihrer Rente nicht leben können, wenn das alles politisch keine Rolle mehr spielt oder zumindest auch von der Kanzlerin ja nie politisch prioritär auf die Agenda gesetzt wurde, dann ist natürlich das Klima sehr, sehr schwierig.
    Müller: Offene Grenzen war die Frage, Frau Wagenknecht. Sind Sie weiterhin für offene Grenzen?
    Wagenknecht: Wir haben ja keine unbeschränkt offenen Grenzen. Wir haben ein Asylrecht. Es gibt bestimmte Bedingungen, dass man Asyl beantragen kann. Ich bin dafür, dass es legale Fluchtwege gibt, damit Menschen nicht überhaupt ihr Leben riskieren müssen, so wie das ja zurzeit ist. Das ist ja ein lebensgefährlicher Weg, den diejenigen hinter sich haben, die nach Deutschland kommen. Und insoweit bin ich für ein Grundrecht auf Asyl. Ich glaube, dass wir das aufgrund unserer deutschen Geschichte auch überhaupt nicht rechtfertigen können, das einzuschränken. Aber wir müssen natürlich sehen: Es gibt Situationen, die man nicht mehr bewältigen kann, und wenn man dafür die Ressourcen nicht bereitstellt, ...
    Müller: Also könnte es doch zu Restriktionen kommen?
    Wagenknecht: Nein. Ich finde, wir müssen auch stärker in Europa natürlich darüber sprechen, welche Länder nehmen Flüchtlinge auf und welche nicht. Früher gehörte auch Deutschland zu den Ländern, die sich zurückgelehnt haben und das Problem auf andere abgewälzt haben, vor allen Dingen Italien, Griechenland, wo natürlich ein Großteil der Flüchtlinge ankommt. Wir brauchen schon eine bessere solidarische Aufteilung. Wir brauchen einen solidarischen Umgang in Europa. Den sehe ich überhaupt nicht.
    Müller: Aber grundsätzlich: Jeder der kommen will soll auch kommen, darf kommen?
    Wagenknecht: Nein. Wie gesagt, ich bin für ein Grundrecht auf Asyl.
    Müller: Das ist damit verbunden.
    Wagenknecht: Ich meine, wir haben weltweit zurzeit 60 Millionen Menschen, die sich auf der Flucht befinden. Die meisten von ihnen fliehen vor Bürgerkrieg, vor Krieg, vor Terror. Und natürlich können wir nicht 60 Millionen Menschen in die EU oder nach Deutschland holen. Aber dann, finde ich, sollte man endlich auch mal eine Debatte auch auf EU-Ebene darüber führen, wovor fliehen diese Menschen. Und das sind natürlich Kriege, die oftmals auch unter europäischer Beteiligung geführt wurden. Und deren Konsequenzen wiederum sind Terrorgruppen und sind Bürgerkriege. Nehmen wir den IS: Ohne den Irak-Krieg hätte es den Islamischen Staat nie gegeben, der jetzt in Syrien wütet.
    Müller: Vielen Dank nach Berlin für dieses Interview. Sahra Wagenknecht, Fraktionschefin der Linken im Bundestag.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.