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Flüchtlingspolitik
Was erlaubt und was geboten ist

Vier Rechtsprofessoren von der Universität München haben die Flüchtlingspolitik in ihrer Kompliziertheit dargestellt und analysiert. Ihr Buch "Die Flüchtlingspolitik, der Staat und das Recht", herausgegeben von Christian Walter und Martin Burgi, versucht zudem, aus der Perspektive der Rechtswissenschaft Gestaltung zu entwickeln.

Von Annette Wilmes | 13.11.2017
    Flüchtlinge stehen an der Reeling eines Rettungsschiffs.
    Flüchtlinge stehen an der Reeling eines Rettungsschiffs. (imago / Pacific Press Agency)
    Die Zahl der Flüchtlinge ist bei Weitem nicht mehr so hoch wie vor zwei Jahren. Ein guter weil ruhigerer Zeitpunkt, um sich mit den Herausforderungen der Flüchtlingspolitik zu befassen. Denn die Diskussion über die richtige Vorgehensweise ist nicht immer von Sachwissen geprägt. Umso besser, dass sich jetzt vier Rechtsprofessoren von der Universität München daran gemacht haben, die Flüchtlingspolitik in ihrer Gesamtheit und Kompliziertheit darzustellen und zu analysieren. Und mehr noch: Aus der Perspektive der Rechtswissenschaft versuchen sie, Möglichkeiten der Gestaltung zu entwickeln. Christian Walter:
    "Nach Gestaltungsspielräumen zu fragen, heißt ja auch, wo gibt es Möglichkeiten, das geltende Recht zu ändern, welche Grenzen sind gleichwohl gezogen, zum Beispiel aus dem internationalen Menschenrechtsschutz oder auch aus dem internationalen Flüchtlingsrecht. Innerhalb dieser Grenzen kann man dann vielleicht auch durch Rechtsänderungen neue Gestaltungsformen möglich machen. Zum Beispiel eben über die Zukunft des bestehenden Systems nachzudenken, was ja derzeit alle Fragen an die Außengrenzen verlagert. Das ist sehr komfortabel für die Mitgliedsstaaten, die keine Außengrenze haben. Wie zum Beispiel Deutschland."
    Das ist das Besondere an dem Buch - auch wenn stellenweise vom Scheitern der Politik geredet wird, kommt es nicht zu dem allseits bekannten Lamento über das Versagen der staatlichen Institutionen. Hier wird vielmehr der Blick in die Zukunft gewagt - für Juristen eher untypisch - und gefragt, was ist möglich innerhalb der rechtlichen Gegebenheiten.
    Die verschiedenen rechtlichen Ebenen
    Flüchtlingspolitik ist auch deswegen so kompliziert, weil sie auf mehreren rechtlichen Ebenen stattfindet. Den völkerrechtlichen Rahmen steckt Christian Walter im ersten Kapitel ab, indem er zunächst über die Entstehungsgeschichte der Genfer Flüchtlingskonvention schreibt und über den engen Flüchtlingsbegriff der Konvention.
    "In der Genfer Flüchtlingskonvention wird vorausgesetzt zum einen Verfolgung, das ist ein Begriff, über den man schon viel streiten kann, der der Auslegung bedarf. Aber selbst, wenn man sich einig ist, dass jedenfalls besonders schwere Menschenrechtsverletzungen als Verfolgung gelten, dann tritt als weiteres Erfordernis hinzu, dass die Verfolgung aus bestimmten Gründen wegen der Rasse, wegen der Religion, wegen einer politischen Überzeugung stattfinden muss. Und wenn man sich die Ursachen der Flüchtlingskrisen der letzten Jahre ansieht, dann fällt auf, dass viele Flüchtlinge eben diesen Flüchtlingsbegriff gar nicht erfüllen. Wenn jemand sein Land verlässt, weil durch Krieg oder Bürgerkrieg die Situation unerträglich geworden ist, dann ist das eben nicht notwendig eine Verfolgung wegen der genannten Gründe."
    Dasselbe trifft auf Wirtschaftsflüchtlinge oder Klimaflüchtlinge zu. Sie genießen keinen Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Dennoch verbietet sich in vielen Fällen ihre Zurückweisung oder Abschiebung. Es seien die Menschenrechte, die gewissermaßen den Flüchtlingsschutz erweitern, sagt Christian Walter und nennt das Konzept des "subsidiären Schutzes" der Europäischen Menschenrechtskonvention. Mit dieser zweiten Ebene befasst sich das nächste Kapitel des Buches.
    Die Lücken und Chancen im Asylrecht
    Unter der Überschrift "Die Zukunft des europäischen und deutschen Asylrechts" schreibt Ulrich Becker über die Schutzbedürftigkeit der fliehenden Menschen:
    "Man mag Wirtschaftsflüchtlingen kein Asylrecht zugestehen wollen, wenn sie nur kommen, um ihre Erwerbsmöglichkeiten zu verbessern. Aber soll dasselbe gelten, wenn sie im Heimatland mangels materieller Existenzgrundlage gar kein menschenwürdiges Leben führen können? Dass diese Menschen in ihrer Existenz bedroht und damit schutzbedürftig sind, ist nicht zu bezweifeln."
    Dennoch gehe es beim Asylrecht immer auch um Grenzen, schreibt Ulrich Becker. Er stellt die Frage, wie diese Grenzen gezogen werden und wie weit sie für Schutzsuchende offen stehen sollen. Um die Fragen zu beantworten, hält er eine Bestandsaufnahme der rechtlichen Grundlagen für notwendig. Becker plädiert dafür, der EU eine stärkere Rolle in der Asylpolitik zu geben.
    "Bei allen Schwierigkeiten liegt darin eine Chance zur Bewährung, jedenfalls wenn der Sinn der europäischen Integration nicht nur in der Realisierung kurzfristiger ökonomischer Vorteile für jeden Mitgliedsstaat liegen soll, sondern auch in der gemeinsamen Bewahrung von Verfassungsgrundlagen, namentlich der Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der Menschenrechte."
    Im dritten Kapitel schreibt der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier über "Asyl und Migration als Herausforderung für Staat und EU". Er erläutert die Voraussetzungen des Verfassungsrechts und plädiert für den Erhalt der "handlungsfähigen und stabilen Rechts- und Verfassungsstaaten", ohne die nationale und supranationale Menschenrechtsverbürgungen nichts wert seien.
    Was Behörden dürfen und sollen
    Im vierten Kapitel schließlich widmet sich Martin Burgi dem Verwaltungsrecht und dem Entstehen eines speziellen Integrationsverwaltungsrechts. Er beschreibt den interessanten Doppelauftrag: Einmal gilt es, Staatsgewalt zu disziplinieren, also darüber zu wachen, was die Ausländerbehörden dürfen oder nicht dürfen, zum Beispiel ausweisen und abschieben. Auf der anderen Seite geht es um die nicht minder wichtigen Integrationsaufgaben, die in der Regel von den Kommunen zu erledigen sind. Dazu gehören Angebote in den Bereichen Bildung, Arbeit, Wohnung, Gesundheit, Kultur und Medien.
    Völkerrecht - Europarecht - Verfassungsrecht - Verwaltungsrecht, das ist der große Bogen, der in dem gehaltvollen Band gespannt wird. Die vier Professoren haben keine gemeinsame inhaltliche Position zur Flüchtlingspolitik. Das eröffnet jedoch weitere unterschiedliche Perspektiven auf die schwierige Thematik. Die wohltuend sachliche Herangehensweise zieht sich durch alle vier Beiträge, die zwar wissenschaftlich fundiert, aber auch für Laien verständlich geschrieben sind. Christian Walter ist wichtig:
    "Dass es eben nicht nur ein Fachpublikum sein soll, dass es nicht nur in Bibliotheken stehen soll. Selbst wenn es einfach nur die Diskussion in der breiteren Öffentlichkeit ein Stück weit befruchtet, dann wäre das auch schon wenigstens eines der Ziele, die wir mit dem Buch verfolgen."
    "Abschiebung - Aufnahmerichtlinie - Dublin-System - Fluchtalternativen - Obergrenze - Souveränität - Umverteilung" - das sind nur einige wenige der Fachbegriffe, die in dem Buch erklärt und interpretiert werden. Ein Index hilft dabei, die Stellen wiederzufinden, wenn man etwas noch einmal nachlesen will.
    Die Jura-Professoren haben den rechtlichen Rahmen abgesteckt und Gestaltungsmöglichkeiten für eine bessere Flüchtlingspolitik aufgezeigt. Was daraus folgt, ist Sache der Politik.
    Christian Walter und Martin Burgi (Hrsg.): "Die Flüchtlingspolitik, der Staat und das Recht"
    Verlag Mohr Siebeck, 180 Seiten, 19 Euro.