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Flüchtlingspolitik
"Zehntausende können nicht unkontrolliert durch die EU ziehen"

Es werde noch "etliche Wochen dauern" bis die Grenzkontrollen zu Deutschland aufgehoben werden, sagte der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU). Man müsse wieder ein geordnetes Verfahren in die Flüchtlingsaufnahme bringen und für die innere Sicherheit sorgen.

Joachim Herrmann im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 15.09.2015
    Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU).
    Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU). (picture alliance / dpa / Sven Hoppe)
    "Es kann nicht sein, dass aus allen Himmelsrichtungen Leute nach Deutschland kommen", sagte der bayerische Innenminister. "Zehntausende können nicht unkontrolliert quer durch Europa ziehen", sagte er weiter. Alle 16 Bundesländer seien durch den Flüchtlingsstrom der vergangenen Tage an die Grenzen ihrer Möglichkeiten gekommen. Daher unterstrich Herrmann mehrfach, dass man wieder für "geordnete Verfahren und Abläufe sorgen" müsse. Daher brauche man jetzt Grenzkontrollen. Ferner müsse auch die menschenverachtende Schleuserkriminalität bekämpft werden.
    Herrmann begrüßt Aufnahmezentren an EU-Außengrenzen
    Die Einrichtung von Aufnahmezentren an den EU-Außengrenzen befürwortete der CSU-Politiker. An die Adresse der EU sagte er, dass Italien oder Griechenland jahrelang mit den Flüchtlingsströmen alleingelassen worden seien. Leider ist auch auf "Bundesebene die Entwicklung zum Beispiel in Italien ignoriert" worden. "Es wäre noch besser gewesen, wenn Deutschland und andere EU-Länder sich früher darum gekümmert hätten". Es sei offenkundig gewesen, dass Italien von Flüchtlingen überrannt wurde. Daher habe das Land irgendwann eine vernünftige Kontrolle eingestellt und die Leute weiterfahren lassen. Durch die neuen Zentren könne nun geprüft werden, ob es sich bei den Menschen um "echte Flüchtlinge" handele.
    Solidarität kann man nicht befehlen
    Dass sich weiterhin die osteuropäischen EU-Länder gegen eine Quotenaufnahme widersetzen, sagte Herrmann: "Solidarität muss man leben". Das gelte in Deutschland, in Europa. Es müsse insgesamt ein Verteilsystem in Europa geschaffen werden. Er zeigte sich zuversichtlich im Hinblick auf weitere Gespräche mit den anderen EU-Ländern. Immerhin gebe es unter den Innenministern inzwischen eine Mehrheit, die sich für die Verteilung der Flüchtlinge einsetze, ebenso im EU-Parlament und bei der Kommission in Brüssel. Sein Resümee zum gestrigen Sondergipfel der EU-Innenminister: "Wir sind ein gutes Stück weiter. Dafür hat die Bundesregierung stark gekämpft".

    Das Interview in voller Länge
    Dirk-Oliver Heckmann: Die Grenzkontrollen, die Thomas de Maizière am Sonntag angekündigt hat, die allein lösen das Problem nicht. Das hat der deutsche Innenminister zugegeben und deutlich gemacht, dass dieser Schritt mehrere Ziele verfolgt. Nicht zuletzt sollte damit der Druck erhöht werden auf die europäischen Partner, sich einer solidarischen Verteilung der Flüchtlinge nicht länger zu verschließen. Gestern Nachmittag kamen die EU-Innen- und Justizminister in Brüssel zusammen, um genau über diese Frage zu beraten. Ergebnis: höchstens ein Minimalkompromiss.
    Am Telefon ist jetzt Joachim Herrmann von der CSU, Innenminister Bayerns. Schönen guten Morgen, Herr Herrmann.
    Joachim Herrmann: Hallo! Guten Morgen und grüß Gott.
    Heckmann: Die Innenminister der EU, die konnten sich nicht auf eine Quote zur Verteilung der Flüchtlinge einigen. Kann man aber Solidarität befehlen?
    Herrmann: Solidarität kann man nicht befehlen, die muss man leben. Das gilt in unserem eigenen Land, das gilt in ganz Europa. Immerhin: Es gibt jetzt eine Mehrheit unter den Ländern, eine Mehrheit unter den Innenministern, die für diese Verteilung sich eingesetzt hat. Aber in dem Fall brauchen wir wohl eine übereinstimmende Entscheidung. Es gibt im Europäischen Parlament eine Mehrheit dafür, wie ich höre, in der Kommission sowieso. Also wir sind im Vergleich zur Situation von vor zwei Monaten schon einen guten Schritt weiter. Da hat die Bundesregierung jetzt auch wirklich sehr stark gekämpft. Aber wir sind noch nicht am Ziel. Ich hoffe, dass jetzt im Oktober wirklich eine Lösung gefunden wird.
    Heckmann: Aber, Herr Herrmann, Deutschland hat ja die südlichen EU-Länder jahrelang allein gelassen mit dem Flüchtlingsproblem. Jetzt fordern Sie Solidarität, wo Deutschland plötzlich betroffen ist, und Sie verlangen, dass Ungarn praktisch das Gros der Flüchtlinge übernimmt. Das ist doch klar, dass das eigentlich nicht funktionieren kann.
    "Bundesregierung hat Italiens Probleme ignoriert"
    Herrmann: Nun, es ist in der Tat richtig, dass leider auch die Bundesrepublik Deutschland, dass auf der Bundesebene schon seit einer ganzen Weile die Entwicklung in Italien zum Beispiel ignoriert worden ist, man sich darum nicht gekümmert hat. Ich habe das schon seit über einem Jahr immer wieder kritisiert, in zweierlei Hinsicht.
    Heckmann: Das heißt, die Große Koalition hat da geschlafen?
    Herrmann: Jedenfalls es war offenkundig. Italien wird natürlich von Flüchtlingen gewissermaßen überrannt, hat dann letztendlich eine vernünftige Kontrolle seiner eigenen Grenzen eingestellt und lässt dann die Leute einfach in Zügen weiterfahren nach Deutschland und Frankreich. Das habe ich vor einem Jahr schon kritisiert. Man muss darauf bestehen. Jetzt soll ja so ein Aufnahmezentrum in Italien eingerichtet werden. Dort müssen die Leute registriert werden, dort muss geprüft werden, ob es echte Flüchtlinge sind, und dann darf man in der Tat ein Land wie Italien nicht allein lassen, weil die, die da zum Beispiel über Lampedusa, über Sizilien einreisen, nicht auf Dauer alle nur in Italien bleiben können. Das eine, nämlich geordnete Verfahren, ist so wichtig wie die Solidarität bei der Aufnahme. Es ist gut, dass wir das jetzt endlich gemerkt haben. Es wäre noch besser gewesen, wenn Deutschland und andere europäische Länder sich schon früher darum gekümmert hätten. Das gilt übrigens auch für die zuständigen Gremien der Europäischen Union in Brüssel.
    Grenzkontrollen noch "etliche Wochen"
    Heckmann: Was heißt das Ganze denn jetzt für die Grenzkontrollen, die jetzt greifen? Werden die auf jeden Fall bis zum 8. Oktober, bis zum neuen Treffen der Innenminister aufrecht erhalten?
    Herrmann: Ich gehe davon aus, dass das schon noch etliche Wochen dauert, denn wir müssen insgesamt ja wieder etwas mehr Ordnung reinbringen. Da geht es um die Fragen der Schleuserbekämpfung, diese wirklich kriminellen und menschenverachtenden Methoden, die wir da erleben mussten, mit den zum Teil auch schrecklichen Erlebnissen wie mit diesen 70 Toten, die es kürzlich in diesem LKW in Österreich und Ungarn gegeben hat. Wir müssen diese Schleuserkriminalität bekämpfen, wir müssen für die innere Sicherheit sorgen und wir müssen wieder für ein geordnetes Verfahren auch beim Flüchtlingszugang sorgen. Wir wollen Menschen helfen, aber es macht keinen Sinn, dass Zehntausende, dass Hunderttausende völlig unkontrolliert quer durch Europa unterwegs sind. Das wirft auch große Fragen für die innere Sicherheit auf.
    Deshalb ja, wir brauchen jetzt diese Grenzkontrollen. Unser Ziel ist, hier wieder für geordnete Verfahren zu sorgen. Dann können wir irgendwann auf diese Kontrollen auch wieder verzichten. Und dann muss insgesamt bei der Verteilung von Flüchtlingen in Europa es auch ein klares System geben.
    "Für geordnete Verfahren und vernünftige Abläufe sorgen"
    Heckmann: Geordnete Verfahren, sagen Sie. Man fragt sich trotzdem bei diesen Grenzkontrollen, welches Problem denn eigentlich dadurch gelöst wird, denn die Flüchtlinge, die in Europa ankommen, die müssen ja untergebracht werden und versorgt werden, egal auf welcher Seite der Grenze, und Deutschland schiebt doch schon wieder das Problem zurück auf die Nachbarländer.
    Herrmann: Deutschland hat jetzt erst mal reagiert, nachdem andere Länder erst einmal sich überhaupt nicht darum gekümmert haben, und es kann doch nicht so sein, dass aus allen Himmelsrichtungen die Menschen nur nach Deutschland kommen und wir dann erlebt haben in der vergangenen Woche, dass letztendlich alle deutschen Länder sich an den Grenzen ihrer Möglichkeiten sahen und es letztendlich keine vernünftige Perspektive gab, wie man überhaupt kurzfristig diese große Zahl von Flüchtlingen bei uns vernünftig aufnehmen kann. Jetzt müssen wir für geordnete Verfahren, für vernünftige Abläufe sorgen. Es muss der Regelfall sein - das sagt einem eigentlich der gesunde Menschenverstand und so steht es im Übrigen auch in der Dublin-Verordnung innerhalb der EU völlig klar geregelt -, die Aufnahme, die Registrierung, die Prüfung der Verfahren findet in dem Land statt, wo jemand zum ersten Mal europäischen Boden betritt. Das ist in der Masse vor allen Dingen Griechenland und Italien. Deshalb müssen dort diese Zentren eingerichtet werden und dann müssen von dort diejenigen, die keine anerkannten Flüchtlinge sind, sofort wieder in ihre Heimat zurückkehren und nur die, die anerkannt werden, müssen dann nach einem fairen System in ganz Europa verteilt werden. So macht es Sinn, auch im Interesse der betroffenen Flüchtlinge, der betroffenen Menschen, und ein solches Verfahren muss jetzt durchgesetzt werden und dann können wir insgesamt wieder zu vernünftigen Abläufen kommen.
    Heckmann: Das heißt, das Konzept sieht so aus, dass das Problem immer weiter an die Außengrenzen der Europäischen Union im Prinzip wieder zurückgedrängt wird und am Ende die Außengrenzen der Europäischen Union zu Mauern ausgebaut werden, zu Zäunen mit Stacheldraht, wie wir es jetzt in Ungarn sehen?
    Herrmann: Die müssen nicht zu Mauern mit Stacheldraht ausgebaut werden, aber es muss dort die Prüfung stattfinden. Wir haben ja ein Verfahren auch in der Bundesrepublik Deutschland, aber so ist das eigentlich in ganz Europa. Wenn jemand kommt, kann er seinen Flüchtlingsantrag, seinen Asylantrag stellen. Dann wird der geprüft, dann wird entschieden, ist er ein politisch Verfolgter, ist er ein Bürgerkriegsflüchtling oder ist er das nicht, und wenn er es nicht ist, muss er unser Land, muss er Europa wieder verlassen, und wenn er anerkannt wird, dann wird er aufgenommen. So sehen das die Regeln vor, übrigens nicht neu, sondern auch in der ganzen EU schon seit Jahren geltend. Das Problem ist, dass das in den letzten Jahren nicht mehr praktiziert worden ist.
    Heckmann: Herr Herrmann, wenn ich da kurz einhaken darf. Dass die Verhältnisse in Ungarn und dort in den Lagern und die Art und Weise, wie mit den Flüchtlingen dort umgegangen wird, doch äußerst zu wünschen übrig lassen, um es mal so auszudrücken, ist das zumutbar für die Flüchtlinge, sich dort aufzuhalten und auf eine Entscheidung zu warten?
    Herrmann: Wir haben jedenfalls schon seit mehreren Jahren Zustände in den griechischen Lagern, wo das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, dass sie unzumutbar sind und dass deshalb von Deutschland niemand mehr in diese griechischen Lager zurückgeschickt werden konnte. Leider hat sich die EU da nicht wirklich drum gekümmert. Es wäre seit Jahren Aufgabe der EU gewesen, dafür zu sorgen, dass in einem EU-Mitgliedsland in jedem Flüchtlingslager Zustände herrschen, wie sie europäischen Standards letztendlich entsprechen. Deshalb muss jetzt auch in der EU über diese Standards gesprochen werden und auch da für ein vergleichbares einheitliches Verfahren gesorgt werden. Dann kann man das entsprechend auch vernünftig weitergestalten.
    Verteilsystem muss in der EU geschaffen werden
    Heckmann: Wir haben gestern in der Nacht gesehen, dass der Widerstand gegen eine feste Quote groß ist in Europa, gerade in den osteuropäischen Ländern. Denken Sie denn, dass die Quote dennoch kommt?
    Herrmann: Ich bin sehr zuversichtlich, dass es da Fortschritte gibt. Wie am Schluss diese Lösung in dieser Hinsicht aussieht, kann ich heute noch nicht sagen. Ich werde heute im Laufe des Tages sicherlich mit dem Bundesinnenminister, der bei den Verhandlungen dabei war, noch mal reden. Wir werden informiert werden im Kreis der Innenminister über die Ergebnisse oder die Zwischenergebnisse in Brüssel. Aber ich will ausdrücklich noch mal sagen, auch wenn ich mit dem jetzigen Ergebnis noch nicht zufrieden bin - kann man ja auch noch nicht -, es sind im Vergleich zur Situation vor zwei oder drei Monaten jetzt schon gewaltige Fortschritte erreicht worden, und das, denke ich, sollte man dann auch positiv wahrnehmen.
    Heckmann: Ihr Parteikollege Hans-Peter Friedrich, der ehemalige Bundesinnenminister, der hat die Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin als beispiellose politische Fehlleistung bezeichnet. Schließen Sie sich an?
    Herrmann: Es sind zweifellos durch diese Entscheidung der Bundesregierung, diese völlig überraschende Entscheidung vor zehn Tagen, schon erhebliche Probleme entstanden, was man ja an der Reaktion aller Bundesländer gemerkt hat. Aber mir kommt es jetzt darauf an, dass wir nach vorne schauen. Ich glaube, mit der Entscheidung, die ich wesentlich initiiert habe am Samstag, dass jetzt temporär erst mal diese Grenzkontrollen wieder eingeführt werden, für die sich die Bundesregierung dann klar entschieden hat, sind wir jetzt auf einem vernünftigen Weg, wieder einigermaßen geordnete Verhältnisse herzustellen und gleichzeitig auf europäischer Ebene auch eine wirksame Hilfe für die Flüchtlinge, die ja zum Teil ein fürchterliches Schicksal etwa in Syrien erlitten haben, wirklich wirksame Hilfen für diese zu organisieren. Das eine ist so wichtig wie das andere und da sind wir jetzt, glaube ich, in Deutschland wieder auf einem guten Weg.
    Heckmann: Joachim Herrmann war das (CSU), Innenminister Bayerns. Schönen Dank für das Gespräch, Herr Herrmann.
    Herrmann: Ich danke Ihnen auch! Einen schönen Tag. Alles Gute.
    Heckmann: Wünschen Wir Ihnen auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.