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Flüchtlingsregulierung
"Das ist ja nur die Spitze des Eisbergs"

Die kleinteilige Diskussion über Transitzonen und Abschiebezahlen ärgere ihn, sagte der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius (SDP) im DLF. Viel wichtiger sei es, die Abwicklung der Verfahren zu beschleunigen und Integration zu gewährleisten - und die Frage, wie man die Zahl der Flüchtlinge reduzieren könne.

Boris Pistorius im Gespräch mit Gerd Breker | 02.11.2015
    Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD)
    Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) (dpa / Holger Hollemann)
    Gerd Breker: Und wieder einmal: Der Berg kreist und na ja, immerhin gab es so etwas wie die Annäherung zwischen CSU und CDU. Ansonsten aber lässt sich der mit Ultimatum belegte Dreiergipfel der Koalition reduzieren auf einen Gegensatz zwischen Transitzonen versus Einreisezentren, wobei in beiden Fällen gar nicht mal ganz klar ist, wie die denn konkret aussehen sollen. Schon seltsam: Wir werden von einer Großen Koalition regiert, was angesichts der großen Herausforderung, die die Flüchtlingsbewegung darstellt, eigentlich von Vorteil sein sollte, und gestritten wird über marginale Symbole.
    Am Telefon sind wir nun verbunden mit dem Innenminister des Landes Niedersachsen, mit Boris Pistorius von der SPD. Guten Tag, Herr Pistorius.
    Boris Pistorius: Schönen guten Tag, Herr Breker.
    Breker: Man hat sich sozusagen vertagt auf den Donnerstag. Da trifft man sich dann mit den Ministerpräsidenten der Länder. Was hat sich denn da in der Sache geändert?
    Pistorius: Ja, das ist eine gute Frage. Es gibt im Grunde genommen zwei Positionen, die auf den ersten Blick diametral sich gegenüberzustehen scheinen, das aber eigentlich nur in Teilen tun. Die Transitzonen sind, so wie sie vorgeschlagen werden, etwas, was wenig hilft, aber viel Aufwand bedeutet, und unsere Einreisezentren - der Vorschlag kam ja unter anderem aus Niedersachsen -, dieser Vorschlag sieht deutlich weitergehende und vor allen Dingen grundsätzlichere Änderungen vor, die das Verfahren insgesamt besser ordnen. Ich bin nach wie vor optimistisch, dass man sich da wird annähern können, weil es einfach schlicht darum geht, weniger zu glauben, dass mit einem dieser beiden Modelle das Problem des Zuzugs reguliert werden kann, aber dass dieser geordnet ablaufen kann, und darauf kommt es im ersten Schritt vor allem an.
    "Einreisezentren gelten für alle Migranten"
    Breker: Was ist denn konkret der Unterschied?
    Pistorius: Bei den Einreisezentren geht es vor allen Dingen darum, dass alle über diese Einreisezentren einreisen müssen, und zwar ganz egal, ob als Asylbewerber, ob sie geltend machen, Bürgerkriegsflüchtling zu sein, ob sie Arbeitsmigranten sind oder wer auch immer. Jeder muss. Erinnern Sie sich vielleicht an Ellis Island, die Insel vor New York, dass man durch eine Einrichtung gehen muss, um gewissermaßen erst einmal erfasst zu werden, Fingerabdrücke, Identitätsüberprüfung, meinetwegen auch die erste Gesundheitsuntersuchung. Dann wird gesagt, was ist Dein Begehren, was möchtest Du. Dann sagt der eine, ich möchte Asyl, ich komme aus Afghanistan. Da haben wir eine Anerkennungsquote von 40 Prozent. Dann gibt man denen ein Verfahren so wie heute auch.

    Und dann gibt es diejenigen, die aus sicheren Herkunftsländern kommen. Denen sagt man, Du hast die Möglichkeit, entweder gleich wieder auszureisen, aber nicht weiter einzureisen, oder ansonsten, wenn Du nicht ausreisen willst, musst Du warten, bis Dein Verfahren hier in dieser Einrichtung abgeschlossen ist. Und bei Arbeitsmigranten genauso. Da wird geprüft, erfüllt er Voraussetzungen ja oder nein, und wenn er sie erfüllt, kann er rein, und wenn nicht, muss er gleich wieder raus.

    Voraussetzung dafür ist, dass man die Kapazitäten so schafft, dass das Personal ausreicht, um diese Verfahren auch so schnell als irgend möglich zu beenden - im Interesse der Menschen, damit die nicht lange da drinsitzen müssen, aber auch im Interesse der staatlichen Organisationen. Der Unterschied wird sehr schnell an diesem Punkt deutlich. Es geht nicht darum, irgendjemanden, der eigentlich vorbeilaufen will an solchen Einrichtungen, vorbeilaufen zu lassen und zu sagen, na ja, wenn er kommt, dann kommt er und dann behalten wir ihn drin, sondern alle müssen, und das bedeutet eine gesetzliche Änderung im Asylverfahrensgesetz. Jeder der außerhalb dieser Einrichtung festgestellt wird, ohne registriert worden zu sein, muss in ein solches Einreisezentrum. Ansonsten verwirkt er seine Rechte, die er hier haben könnte.

    Das ist eine Vorstellung, die ist relativ pragmatisch. In der Geschichte hat das geklappt. Und vor allen Dingen geht es weit darüber hinaus, nur diejenigen in eine solche Einrichtung zu bekommen, die aus sicheren Herkunftsstaaten kommen.
    Breker: Und die Idee der Transitzone ist doch eigentlich das Gleiche, nur an der Grenze halt.
    "Transitzonen richten sich an Menschen aus sicheren Herkunftsstaaten"
    Pistorius: Die Transitzonen haben den wesentlichen Unterschied, dass sie erstens keine Regelung darüber enthalten, wie man eigentlich die Menschen dort hinbekommen will. Man hat ja offenbar die Idee, dass man durch Grenzsicherung glaubt, die Menschen in diese Einrichtungen zu bekommen, aber das funktioniert ja nicht, weil Sie die Grenze gar nicht so dicht kontrollieren und absichern können. Sie brauchen also eine Regelung, die die Menschen zwingend über diese Einrichtung leitet.
    Und zweitens, der ganz wesentliche Unterschied ist: Transitzonen richten sich nur an Menschen aus sicheren Herkunftsstaaten im Wesentlichen. Das ist zu kurz gegriffen, weil wir im Augenblick Zahlen haben vom Balkan zum Beispiel - und das sind die meisten sicheren Herkunftsstaaten -, die inzwischen bei weit unter zehn Prozent liegen. Das heißt, unser Problem sind ja nicht diejenigen vom Balkan, die jetzt kommen, sondern diejenigen, die schon hier sind und ihre Verfahren noch nicht abgeschlossen haben. Das heißt, wir würden solche Transitzonen einrichten für eine Gruppe von Menschen, die weder unser Hauptproblem ist, noch zahlenmäßig so ins Gewicht fällt wie vor wenigen Monaten.
    Breker: Entschieden werden soll in beiden Fällen darüber, wer eine Bleibeperspektive hat und wer nicht. Das ist zugleich auch der Kern eines jeden Asylverfahrens, Herr Pistorius. Was braucht es denn eigentlich, um die Verfahrensdauer - das wird ja immer angemahnt -, um die zu verkürzen? Was muss man tun?
    Pistorius: Zum einen muss man erstens versuchen, diejenigen, die nicht in ein Asylverfahren gehören, dort auch nicht reinzubringen. Das heißt, man muss darüber nachdenken, ob man Kontingente für Bürgerkriegsflüchtlinge schafft. Das wäre eine Möglichkeit, damit würde man das Asylsystem schon mal deutlich von diesen Menschen entlasten, denen es ja nicht um Asyl geht im Sinne einer individuellen politischen Verfolgung, sondern um Schutz und Zuflucht vor einer Bürgerkriegssituation. Das ist ja etwas fundamental anderes in der Vielzahl der Fälle. Deswegen kommt es darauf an.

    Und der zweite Schritt ist natürlich immer wieder der, den wir seit Monaten immer wieder betonen. Das Personal beim BAMF muss so aufgestockt werden, dass die Verfahren schneller gehen. Ich nenne Ihnen das Beispiel. Ich war vor ein paar Wochen in Friedland. Da hat mir ein Syrer voller Empörung, die ich verstehe, seinen Bescheid gezeigt, mit dem er eingeladen wurde zu der ersten Anhörung über seinen Asylantrag für März 2016. Das geht nicht! Das sind sechs Monate. Die kommen ja noch darauf obendrauf auf die Antragsstellung. Das alles führt dazu, dass wir Verfahren haben von einem Jahr im Zweifel, und das ist einfach für das System das absolute No-Go, weil damit die Verfahren komplett verstopft und überlastet sind.
    Im Negativentscheid muss schneller abgeschoben werden
    Breker: Wenn schneller entschieden werden soll, dann müsste im Fall des Negativentscheids auch schneller abgeschoben werden.
    Pistorius: Das ist doch völlig klar. Daran gibt es doch auch gar keine zwei Meinungen. Es geht am Ende immer darum, dass wir schnell entscheiden im Interesse derjenigen, die bleiben können, damit schnell mit Integration begonnen werden kann, und bei denjenigen, bei denen es keine Perspektive gibt, weil sie nun mal nicht politisch verfolgt sind, auch wenn sie vielleicht gute, nachvollziehbare Gründe haben, ihre Heimat zu verlassen, dass dann schnell auch entschieden wird, er muss wieder in die Heimat zurück. Das senkt die Anreize und macht klar, Menschen aus bestimmten Regionen dieser Welt haben keine Chance auf politisches Asyl. Das muss man auch im Interesse der Menschen frühzeitig klar machen und dazu gehört dann auch, auch wenn es jedem schwerfällt, denke ich, eine schnelle Abschiebung durchzuführen, allerdings unter den Berücksichtigungen von Humanitäten.
    Breker: Allerdings, Herr Pistorius, diejenigen, die jetzt schon unterwegs sind auf der Balkan-Route, die werden kommen, so oder so.
    Pistorius: Ja, aber das sind ja nicht überwiegend Flüchtlinge vom Balkan, sondern Flüchtlinge, die über den Balkan kommen. Das sind ja im Wesentlichen Menschen aus den Bürgerkriegsgebieten Syriens, aus den Camps in der Türkei, in Jordanien und im Libanon. Das sind ja keine Balkan-Flüchtlinge, nur weil sie über den Balkan kommen. Das sind ja Menschen, die in der Tat Zuflucht kriegen können, aber da gilt dann wieder die ganz klare Ansage, wir werden über Regelungen wie Transitzonen oder Einreisezentren den Zugang nicht regulieren. Wir werden ihn nur geordneter hinkriegen. In dem Schritt davor ist die Bundesregierung und ist die Europäische Union gefordert, endlich Mechanismen zu entwickeln, damit der Zugang nach Deutschland reduziert wird und sich auf Europa verteilt. Das ist der Anspruch. Beides zusammen sorgt dann am Ende sowohl für reduzierte Zahlen, aber auch für ein geordneteres Verfahren.
    "Wir müssen von der kleinteiligen Diskussion weg"
    Breker: Die Anerkennung, Herr Pistorius, ist das eine. Das ist eigentlich auch nur der Anfang. Danach muss es die Integration geben und das ist doch die eigentliche Herausforderung, die auch Geld kosten wird.
    Pistorius: Ja natürlich! Das darf man weder verschweigen, noch kleinreden. Deswegen ärgert mich ja diese zum Teil kleinteilige Diskussion über Transitzonen und Abschiebezahlen. Das ist ja nur die Spitze des Eisberges. Die Hauptherausforderung liegt doch nach einer erfolgreichen schnellen Abwicklung der Verfahren darin, die Integration zu gewährleisten. Das kostet Geld, das kostet gesellschaftliche Anstrengung, aber das ist etwas, was sich a la longue dann auch bezahlt macht für die deutsche Gesellschaft.

    Nur dazu muss man die Herausforderung definieren, annehmen und die entsprechenden Schlussfolgerungen daraus ziehen. Natürlich kostet das Geld und natürlich kostet das Anstrengung, aber je ehrlicher wir das den Leuten sagen, desto mehr wird das auch Akzeptanz finden, wenn wir deutlich machen, welchen Gewinn die deutsche Gesellschaft am Ende davon haben wird. Deswegen müssen wir weg von diesen kleinteiligen Diskussionen, die man sehr schnell beenden kann und sollte, finde ich, und hin zu den großen Fragen: Wie reduziert man die Zahlen? Das ist eine europäische Dimension, die in der Frage ist. Und wie geht man anschließend mit denen um, die bleiben können? Wie schnell kann man gute Integration, nachhaltige Integration voranbringen.
    Breker: Im Deutschlandfunk war das Boris Pistorius. Er ist der Innenminister des Landes Niedersachsen. Wir haben dieses Interview kurz vor der Sendung aufgezeichnet.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.