Freitag, 19. April 2024

Archiv

Flüchtlingsstreit in Europa
"Deutschland spielt eine verheerende Rolle"

Der ehemalige Grünen-Europaabgeordnete Johannes Voggenhuber hat Bayerns Kritik an seiner Heimat Österreich zurückgewiesen. Es sei "starker Tobak", der Regierung in Wien wegen der Weiterleitung der Flüchtlinge Vorwürfe zu machen. Bundeskanzlerin Angela Merkel habe die Zuwanderung selbst zu verantworten - durch "beispiellose Selbstherrlichkeit" in der Asylfrage.

Johannes Voggenhuber im Gespräch mit Jochen Spengler | 27.10.2015
    Der österreichische Politiker Johannes Voggenhuber.
    Johannes Voggenhuber: Deutschland "war eine jener Blockademächte, die jede europäische Flüchtlingspolitik im Ansatz erstickt haben." (Imago / Chromorange)
    Jochen Spengler: Vor zwölf Tagen hat der EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs einen Aktionsplan mit der Türkei verabschiedet, um den Andrang von Flüchtlingen zu begrenzen. Außerdem einigten sie sich darauf, 120.000 Hilfesuchende innerhalb der EU zu verteilen. Sage und schreibe 900 hat man bis heute verteilt. Vorgestern dann in Brüssel der Balkan-Flüchtlingsgipfel mit dem Ergebnis, entlang der Balkan-Route 100.000 Plätze für Flüchtlinge zu schaffen. Heute hatte das Europaparlament das Wort. Die CSU und die SPD fordern eine bessere Koordinierung des Flüchtlingsandrangs an der bayerisch-österreichischen Grenze. Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer kritisiert, dass Österreich die Flüchtlinge einfach durchwinke und die bayerischen Grenzbehörden nicht informiere über die ankommenden Hilfesuchenden. Das belaste die nachbarschaftlichen Beziehungen und die Bundeskanzlerin müsse endlich ihren österreichischen Amtskollegen Werner Faymann anrufen.
    Am Telefon in Salzburg ist nun Johannes Voggenhuber. Herr Voggenhuber war lange Jahre bis 2009 für die Grünen in Österreich Mitglied des Europaparlaments und er ist heute Sprecher des Bürgerforums Europa. Guten Tag, Herr Voggenhuber.
    Johannes Voggenhuber: Guten Tag.
    Spengler: Lassen Sie uns kurz einmal anhören, was heute Morgen der bayerische Innenminister Joachim Herrmann im Bayerischen Rundfunk an die große Glocke gehängt hat.
    O-Ton Joachim Herrmann: "Wir sind vor allen Dingen sehr empört über das unverantwortliche Verhalten der österreichischen Behörden. Es geht jetzt schon seit einigen Tagen und gestern hat sich das noch einmal zugespitzt, dass massenhaft mit Buskolonnen die Flüchtlinge aus Österreich alle zu einem Punkt, nämlich in den Bereich Landkreis Passau transportiert werden. Es ist jetzt wiederholt von uns gegenüber Österreich zur Sprache gebracht worden, es hat sich nichts geändert und diese chaotischen Zustände können wir so jetzt nicht länger hinnehmen."
    "Bayerische Regierung will Kritik über die Bande Österreich spielen"
    Spengler: Das ist schon starker Tobak unter Freunden. Hat der bayerische Piefke Recht, Herr Voggenhuber?
    Voggenhuber: Ja, das ist starker Tobak, aber eher von den bayerischen Freunden gegenüber Österreich. Die bayerische Regierung versucht offenbar, die Kritik an dem eigenen Koalitionspartner, an der Frau Bundeskanzler Merkel über die Bande Österreich zu verstärken. Was sollte denn Österreich, was hätte denn Österreich tun sollen nach der Öffnung der Grenzen Deutschlands, nach der Erklärung, Dublin III nicht mehr anzuwenden, eine Einladung auszusprechen, die bis in die Flüchtlingslager Syriens wirkte? Was hätte Österreich tun sollen? Hunderttausende Menschen an der Grenze in Regen und Kälte und Schlamm stehen lassen? Österreich hat nichts anderes getan, ...
    Spengler: Herr Voggenhuber, kurze Frage zwischendurch. Registrieren geht nicht, schafft Österreich nicht?
    Voggenhuber: Nun, die Flüchtlinge kommen über Griechenland, Italien, Serbien, Kroatien, Slowenien, Ungarn und alle diese Länder hätten die Verpflichtung, die Flüchtlinge registrieren zu lassen oder zu registrieren. Die Flüchtlinge weigern sich aus einem ganz einfachen Grund, weil Deutschland versprochen hat, Dublin III nicht anzuwenden, das heißt, die Registrierung nicht dazu zu verwenden, die Flüchtlinge in das Land zurückzuschicken, aus dem sie kamen. Deutschland hat eine ganz einsame Entscheidung getroffen, eigentlich nicht Deutschland, sondern die Bundeskanzlerin hat in einer für mich beispiellosen Selbstherrlichkeit in der europäischen Asylfrage, die eine Gemeinschaftsfrage ist, die eine europäische Zuständigkeit ist, gehandelt und entschieden und hat die Grenzen Deutschlands geöffnet.
    Spengler: Herr Voggenhuber, wir waren ja damals vor sechs Wochen in einer Notsituation. Was hätte die Kanzlerin anderes tun können?
    Voggenhuber: Die humanitäre Katastrophe kann man selbstverständlich einwenden und es versuchen ja auch alle, an der Lösung mitzuwirken. Die humanitäre Katastrophe besteht allerdings schon seit Langem. Als im Mittelmeer Tausende Menschen pro Jahr ertrunken sind, hat Deutschland sich geweigert, Dublin III zu verändern, hat sich geweigert, die Vorschläge der Kommission zu einem Solidaritätsmechanismus überhaupt auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Deutschland weigert sich seit dem Gipfel von Tampere 1998, die Vorschläge der Kommission für einen solchen Solidaritätsmechanismus und ein gemeinsames europäisches Flüchtlingsrecht überhaupt zu akzeptieren. Es war eine jener Blockademächte, die jede europäische Flüchtlingspolitik in Ansatz erstickt haben.
    "Deutschland spaltet die europäischen Gesellschaften"
    Spengler: Wenn ich Sie richtig verstehe würden Sie sagen, Deutschland ist es selber schuld?
    Voggenhuber: Nun, das Problem geht tiefer, weil Deutschland hier nicht nur die Europäische Union spaltet, sondern auch die europäischen Gesellschaften tief spaltet. Es gab ja keinerlei Koordination, Kooperation, Vorabsprache, irgendeinen Versuch, diesen Schritt, diese Entscheidung in irgendeiner Weise mit den Nachbarn abzusprechen. Sie wurden einfach vor die nackten Folgen einer Entscheidung gestellt, die einmal mehr - das ist ja nicht die erste, mit der Deutschland etwas ganz Neues tut, nämlich seine europäische Führungsmacht zu demonstrieren. Das war in der Ukraine so ...
    Spengler: Glauben Sie denn noch an ein gemeinsames Europa, Herr Voggenhuber?
    Voggenhuber: Ich muss Ihnen sagen, Deutschland spielt hier einfach eine sehr verheerende Rolle. Es ist die erste Krise, die mir das Gefühl gibt wie vielen anderen, dass die Europäische Union sie nicht überstehen könnte. Wir haben uns immer in allen Krisen beruhigt damit, dass wir durch die Krisen stärker werden, dass die Krise uns zusammenführt, dass sie immer auch produktiv ist, dass Europa nur durch Krisen zusammengefunden hat. Aber diesmal ist es eine Krise, die Europa in vielfältiger Weise spaltet, die europäischen Institutionen massiv schwächt und eine völlig unklare Rechtssituation schafft.
    "Die Lösungen liegen auf der Hand"
    Spengler: Herr Voggenhuber, haben Sie eine Idee, wie wir aus dieser Krise herauskommen?
    Voggenhuber: Ja, ich glaube schon, dass die Lösungen auf der Hand liegen. Heute ist es allerdings spät und wir müssen gemeinsam versuchen, die durch diese Fehlentwicklungen entstandene humanitäre Katastrophe gemeinsam solidarisch zu lösen. Das ist richtig. Alle zusammen! Da müssen auch Staaten aufhören, die Flüchtlinge nur durchzuwinken, und auch selber einen Anteil der Flüchtlinge aufzunehmen, die im Übrigen auch ein großer wirtschaftlicher Gewinn für Deutschland, aber auch für ganz Europa sein könnten. Dann aber müssen wir uns auf der Stelle in einer gemeinsamen europäischen Flüchtlingspolitik, nicht irgendwie intergouvernemental, nicht irgendwie locker und lose und auf jederzeitigen Widerruf von den Regierungschefs irgendwo in nächtlichen Kaminsitzungen zusammengebastelt, sondern in einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik den Ursachen widmen.
    Wenn Europa gleichzeitig die Versorgung, die medizinische Versorgung, die Nahrungsmittelprogramme dieser riesigen Flüchtlingslager gesperrt hat, auf ein Drittel gesenkt hat, dann ist klar, dass diese Flüchtlingslager vor dem Kollabieren stehen und weitere Zehntausende Flüchtlinge freigeben werden. Also wir müssen diese großen Flüchtlingslager, die ja um vieles mehr Flüchtlinge aufnehmen, im Libanon, in Jordanien, wir müssen diese Flüchtlingslager so ausstatten, dass sie nicht kollabieren.
    "Dieses rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln ist keine Führungsrolle"
    Spengler: Herr Voggenhuber, haben Sie denn noch die Zuversicht, dass man mit Ländern wie Polen, wie Ungarn, wie Großbritannien eine solche gemeinsame Politik auf den Weg bringen kann?
    Voggenhuber: Wissen Sie, wenn das Einverständnis herrscht, dass das nur über das Europäische Parlament, die Kommission, die europäischen Institutionen und den Rat gemeinsam erfolgen kann, dass es nicht einsame unter Arrogierung einer Stellung als Führungsmacht - Was ist das? Was soll das? Niemand hat die Frau Merkel gewählt außerhalb der Grenzen Deutschlands. Eine solche riesige Aufgabe im Alleingang zu erledigen, das kann nicht gelingen. Man muss zurückfinden zur Gemeinschaftsmethode. Man muss zurückfinden zur Federführung europäischer Institutionen und nicht im Sinne eines Diktats den anderen vorzuschreiben, was sie tun.
    Natürlich haben sich diese Staaten auch düpiert gefühlt, gedemütigt gefühlt durch einen urplötzlichen, völlig unvorhergesehenen Anfall von Humanität, den man vorher weder im Mittelmeer, noch gegenüber den afrikanischen Flüchtlingen irgendwie feststellen konnte. Dieses rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln ist keine Führungsrolle. Das ist, wie schon in anderen Beispielen der letzten Jahre, einfach immer wieder im Chaos geendet: bei der Griechenland-Krise, bei der Ukraine-Krise, bei der Finanzkrise. Wir brauchen ein gemeinschaftliches Europa und nicht eines nur mehr aus einer losen Kooperation, unverbindlichen jenseits des Rechts, jenseits der EU-Verträge stattfindenden intergouvernementalen Konzerts.
    Spengler: Herr Voggenhuber, wir sind am Ende und ich danke Ihnen sehr für Ihr engagiertes Plädoyer. Das war Johannes Voggenhuber, ehemals Mitglied des Europaparlaments für die Grünen aus Österreich, heute Sprecher des Bürgerforums Europa.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.