Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Flügellahme Intellektuelle

Kostja, der mit seinem Gewehr eine Möwe vom Himmel holt, bei seinem Selbstmordversuch aber daneben schießt: Bei Anton Tschechow offenbart Komik die Tragik scheiternder Menschen. Andreas Kriegenburg macht bei seiner Neuauflage der "Möwe" dagegen radikal Ernst.

Von Cornelie Ueding | 19.05.2013
    Das Bühnenbild ist ein Traum und enthält ein Versprechen: das Versprechen von Ruhm und Größe und Liebe und Glück; zumindest für einen Abend und mindestens für eine, die junge Nina, die Möwe. Aber das Bühnenbild ist auch eine Falle: ein auswegloser Raum, umschlossen von einem unüberwindlich hohen weißen Rundhorizont, vor dem eine Art Schiffsmast mit wehenden Flügelschleiern über einer unverrückbaren Bühne auf der Bühne schwebt. Und um diese herum kreist, mit aufreizender Langsamkeit, stetig und unaufhaltsam, die Drehbühne, der schmale Spielraum der Figuren. Möbliert mit einer kreisförmig aufgestellten Phalanx von Tischen, die wie Trennscheiben zwischen den Figuren stehen und sie zu Hindernisläufen, Hechtsprüngen, Kletterpartien verführen - sobald die wunderbare Lisa Stiegler als Nina atemlos angerannt kommt. So wie sie, jung, unbefangen, ansteckend vital, begabt, spontan, quirlig mit kurzem Röckchen und langen blonden Haaren, hüpfend, tanzend, wie die Tochter der Luft, bald schwebend, bald fallend über die Bühne stiebt und jeden anstößt, anrührt, in Bewegung versetzt, verkörpert sie für diese Gesellschaft eine wahre Inspirationsquelle.

    Ja, sie löst geradezu einen Inspirationsschub aus - den diese Gruppe aus lebenden Toten, die sich wie jedes Jahr auf dem Landgut der Schauspielerin Arkadina versammelt haben, mehr als nötig hat: ein trübes Gemisch aus Jungen und Alten, allesamt Produkte jener betäubenden Tschechowschen Mischung aus Selbstmitleid, Egomanie, Lethargie, Zynismus, Perspektivlosigkeit und unbestimmten Sehnsüchten. Ob Landarzt oder Gutsverwalter, Töchter, Söhne, Schriftsteller oder Schauspieler – sie alle zelebrieren mit albtraumtänzerischer Routine und Lust an der Verzweiflung ihre Hoffnungslosigkeit: parlierend, trinkend, spielend.

    Auch, und gerade sie, die "Kunst", die Schreib- und Bühnenkunst, wird – stärker als in jedem anderen Stück von Tschechow – diesem Stresstest eines energielosen Kreisens in sich selbst und um sich selbst unterzogen. Das große Sommertheater soll so etwas wie der literarische Durchbruch Konstantins, des Sohns der gebieterisch ichbezogenen Arkadina werden. Ein symbolistisch schwelgendes Stück zwischen wehenden Sonnensegeln, gespielt von Nina, der Möwe. Doch unter den Augen dieses illusionsfreien und zugleich illusionssüchtigen Publikums verkommt es zu einem Gemisch aus Farce und Kitsch, von dem aus die Fäden ins wirklich Leben gezogen werden. Die Grande Dame, Mutter, Liebhaberin, Actrice nimmt sich der frischen Unschuld an und verspricht, sie zu einer "Dame" zu machen. Und deren Lover Trigorin weiß sich in der Rolle des großen Unverstandenen so gekonnt vor dem jungen Mädchen zu inszenieren, dass ihre Bewunderung für ihn grenzenlos und für sie grenzenlos verhängnisvoll wird.

    Schonungslos entlarvt Regisseur Andreas Kriegenburg, dass von allen Verführungs- und Vernichtungsarten die der Kunst die vielleicht wirkungsmächtigste ist. Denn neben der ästhetischen trägt sie – wie unglaubwürdig auch immer – eine Schleppe aus Bedeutsamkeit, Sinngebung und Größe hinter sich her, und ein Versprechen, mit dem alle sich kurzfristig betäuben. Im zweiten Teil des Abends macht Kriegenburg dann auf radikale Art Ernst. Das Prinzip poetisch beflügelter Hoffnung oder ästhetisch grundierter Sinngebung wird bis auf den letzten Rest verhackstückt. Und dieser Desillusionierung haftet nichts noch irgendwie Tröstliches an. Ja Trostbedürftigkeit selbst ist in dieser Welt zu einem leeren Gestus verkommen. Selbst der Lehrer Medwedenko, der der von ihm geliebten Mascha wie ein trunkener Gimpel auf Schritt und Tritt hinterher geschlichen war, verkommt, kaum ist sie endlich seine Frau, zum Gefühlsautomaten.

    Alle anderen geistern wie halb aufgezogene Moonwalker-Imitatoren stolpernd, ruckelnd und lethargisch durch die aufgelöste Ordnung des Raums. Und auch die letzten Flugversuche, Ausbruchsversuche der beiden Jungen, Konstantins und Ninas, scheitern kläglich. Er ist zum Schriftsteller-Clon mutiert und läuft, wie Trigorin, notizbuchzückend, Stichworte und Episoden notierend durch die Welt. Sie, gerupft und zerfleddert, spürt sich und ihre Gefühle nur noch dort, wo sie am schlimmsten verletzt wurde – und brennt weiter für den Verführer Trigorin, für den sie nur ein Zwischenspiel, ein ‚Sujet für eine kleine Geschichte’ war.

    Schade nur, dass dieser sinnlichen und klugen Aufführung mit ihren hinreißenden Menschendarstellern die Balance der ambivalenten Gefühle: die Trauer über ein verfehltes Leben als Subtext unter dem tragikomischen Gerede und der Langeweile hin und wieder verloren geht.