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Flughafenseelsorge
Die guten Menschen von Atlanta

Der Hartsfield-Jackson International Airport in Atlanta ist das größte Passagierdrehkreuz der Welt. Menschen aus allen Ländern, Kulturen und Glaubensrichtungen sind hier jeden Tag unterwegs. Gerade auf Reisen, fern von zuhause, kann seelischer Beistand für viele Menschen notwendig sein. Den spendet hier ein Team aus rund 40 Flughafen-Seelsorgern aller Glaubensrichtungen.

Von Katja Ridderbusch | 31.12.2015
    Fluggäste am Flughafen in Atlanta (USA)
    Fluggäste am Flughafen in Atlanta (USA) (dpa / picture alliance / Erik S. Lesser)
    Lange Schlangen an den Sicherheitskontrollen. Reisende, die zu ihrem Flugsteig eilen und dabei atemlos in ihre Mobiltelefone sprechen. Wartende auf Bänken, auf Koffern, auf dem Fußboden. Metallische Lautsprecherbeschallung und das garstige Surren von Rollkoffern auf Linoleum. Das ist der Arbeitsplatz von Adrien Neely, Flughafenseelsorger auf dem Hartsfield-Jackson International Airport in Atlanta im Süden der USA.
    "Ich treffe viele verschiedene Leute. Und jeder hat eine Geschichte. Die meisten Geschichten höre ich im Vorbeigehen, an der Sicherheitsschleuse oder am Flugsteig. Ich habe Schuhputzer getroffen und Hollywood-Stars."
    Der Flughafen von Atlanta ist das größte Passagierdrehkreuz der Welt. Hundert Millionen Reisende sind hier im Jahr 2015 gestartet, gelandet, umgestiegen. Menschen aus allen Ländern, Kulturen und Glaubensrichtungen.
    "Als Baptistenpastor will ich den Flughafen nicht zur Kanzel machen."
    Hier hat Religion ein pragmatisches Gesicht. Neely, ein schlanker Mann im grauen Anzug, zieht oft stundenlang von Terminal zu Terminal, sucht Menschen in der Menge, die nicht weiter wissen. Manchmal hilft eine Wegbeschreibung, manchmal eine Verhandlung mit Mitarbeitern einer Fluggesellschaft. Manchmal zahlt er einem Gestrandeten, dem Geld und Pass gestohlen wurden, eine Mahlzeit, eine Umbuchungsgebühr oder ein Busticket nach Hause.
    Heute macht Neely auf seiner Runde einen Stopp in der Wartelounge für Militärangehörige. Hier trifft er einen Soldaten, der auf dem langen Weg zu seiner Basis in Costa Rica ist. Ein kurzes Gespräch, ein paar wärmende Worte.
    Immer wieder kommt es zu plötzlichen Krankheiten und Todesfällen auf dem Flughafen oder im Flugzeug. Ereignisse, bei denen der Seelsorger gerufen wird. Bisweilen gibt es auch fröhlichen Anlässe, Hochzeiten in der Kapelle zum Beispiel.
    Jeder Tag sei anders, sagt Neely. Jeder Tag eine Überraschung. Immerhin muss er diese Überraschungen nicht alleine stemmen: Er leitet eine Truppe von rund 40 Flughafenseelsorger, die so bunt und vielfältig ist wie die Passagiere: Imame sind dabei und Rabbis, katholische Priester und Diakone, außerdem Episkopale, Methodisten, Baptisten, Pfingstler und Vertreter der Heilsarmee. Männer und Frauen. Schwarze, Weiße, Latinos.
    "Wir Imame machen Muslimen das Reisen leichter"
    Hud Williams ist einer der muslimischen Seelsorger, die jede Woche am Flughafen zum Freitagsgebet laden.
    Vor allem gläubige Muslime schätzten diesen Service, sagt Williams. So könnten sie ihrer religiösen Verpflichtung zum Freitagsgebet nachkommen und trotzdem reisen. Das mache ihr Leben viel leichter.
    Die drei Kapellen am Flughafen von Atlanta sind interreligiös und verzichten auf spirituelle Symbolik. In den fensterlosen Räumen stehen schlichte Stühle mit blauem Bezug - und auf kleinen Tischen Blumengebinde aus Plastik. Je nach Bedarf gibt es ein aufklappbares Kreuz oder eine faltbare Menora.
    Chefseelsorger Neely ist ordinierter Pastor einer Baptistenkirche. Früher war er bei der amerikanischen Luftwaffe, kämpfte in Vietnam. Er arbeitet seit vielen Jahren am Flughafen, und je länger er hier ist, desto weniger hält er von organisierter Religion.
    "Der Flughafen ist kein Ort zum Predigen. Hier wird nicht konvertiert und missioniert. Wenn einer zum Beispiel unbedingt die evangelikale Botschaft vermitteln will, dann muss ich ihm sagen: Hier geht es nicht darum, dass jemand sein kleines Königreich aus Gläubigen aufbaut. Wir sind keine Kirche."
    "Wir Rabbiner missionieren nicht"
    Rabbi Barry Coffsky sieht das genauso. Coffsky – wie Neely Vietnamveteran - arbeitet als Krankenhaus- und Flughafenseelsorger.
    "Meine Einstellung zur Religion ist sehr einfach. Wenn Religion, welche auch immer, einem Menschen Halt gibt, dann ist das eine gute Sache. Aber ich will nicht, dass jemand mich überredet zu konvertieren, und umgekehrt will ich niemanden von meiner Religion überzeugen. Das liegt auch nicht in der jüdischen Tradition. Wir Rabbis sind keine Missionare."
    Anders Coffskys Kollege am Flughafen, Father Thomas Zahuta. Zahuta ist katholischer Priester. Hier, am Ort der Bewegung und Beklemmung, sieht er eine Chance, Menschen für den Glauben zu gewinnen – oder auch: wieder zugewinnen. Eine Chance, die er sich nicht entgehen lässt.
    Flughafen in Atlanta, USA. Ein Passagier schläft in der Abfertigungshalle.
    Flughafen in Atlanta, USA. Ein Passagier schläft in der Abfertigungshalle. (dpa / picture alliance / Erik S. Lesser)
    "Menschen, die reisen, sind sich ihrer eigenen Sterblichkeit eher bewusst, besonders in Zeiten des Terrors. Wenn man sich seiner Sterblichkeit bewusst ist, wendet man sich stärker der Religion zu. Und vielleicht kehren ja einige auf diesem Weg zu ihrem Glauben zurück. Der Flughafen bietet ein gutes Umfeld; es ist bequem und einfach."
    Außerdem unverbindlich und anonym, ohne die soziale Kontrolle einer Kirchengemeinde. So ist es auch kein Zufall, dass die Beichte – erst seit kurzem im Angebot am Airport – besonders gut bei den Reisenden ankomme, sagt Zahuta.
    "Die Menschen sind sehr viel offener. Sie kennen mich nicht, ich kenne sie nicht, und das macht es ihnen leichter. Außerdem müssen sie nicht in der Kirche Schlange stehen, wo sie sich vielleicht von anderen Gemeindemitgliedern als Sünder gebrandmarkt fühlen."
    Ob Beichte oder flüchtige Begegnung, ob Priester, Rabbi oder Imam, ob Missionar oder nicht: Für die Flughafenseelsorger von Atlanta verbindet sich in ihrer Arbeit eine gemeinsame Erfahrung: Sie sehen die Menschen, mit denen sie zu tun haben, nur selten ein zweites Mal.
    Die Begegnungen hätten ihn zu einer realistischen Bescheidenheit erzogen, sagt Rabbi Coffsky:
    "Ich biete den Reisenden meine Hilfe an. Vielleicht kann ich etwas für sie tun, vielleicht aber auch nicht."