Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Flugpionier vor 250 Jahren geboren
Missglückter Flugversuch führt zu gesellschaftlicher Bruchlandung

Mit seinem Sprung vom Michelsberg machte sich der "Schneider von Ulm", Albrecht Ludwig Berblinger, zum Gespött der Zeitgenossen: Der Vielbegabte landete mit seinem Gleitflieger in der Donau. Der Beginn eines sozialen Abstiegs. Dabei hätte Berblingers Konstruktion für eine fliegerische Ersttat gereicht.

Von Mathias Schulenburg | 24.06.2020
    Schauspieler Tilo Prückner versucht als Albrecht Ludwig Berblinger alias "Schneider von Ulm" in dem gleichnamigen Spielfilm von Edgar Reitz aus dem Jahr 1978 zu fliegen
    Schauspieler Tilo Prückner versucht als Albrecht Ludwig Berblinger alias "Schneider von Ulm" in dem gleichnamigen Spielfilm von Edgar Reitz aus dem Jahr 1978 zu fliegen (Standbild) (imago / United Archives)
    Als Albrecht Ludwig Berblinger, Schneider von Beruf, Mechanikus und Flieger aus Neigung, am 31. Mai 1811 seinen durch den Druck der Verhältnisse übereilten Versuch eines Gleitfluges über die Donau bei Ulm von der Adlerbastei aus unternahm, ging schon der Start schief, schrieb Heiner Dörner, Aerodynamik-Ingenieur an der Universität Stuttgart.
    "Berblinger stolperte, durch den unsanften Stoß des diensteifrigen Polizeidieners verursacht, die kurze Rampe hinunter und fiel ins Leere. Er erreichte nicht seine notwendige Startgeschwindigkeit von ca. 10 m/s und konnte sein starres Flügelgestell nicht in die richtige Position bringen. Es bildete sich keine anliegende Strömung um seine beiden Flügel aus, die Strömung riss sofort ab, Berblinger stürzte in die Donau ..."
    Fischer zogen ihn in ein Boot und setzten ihn flussab in sicherer Entfernung vom wütenden Mob ans Ufer. Dort suchte Berblinger erst einmal das Weite.
    Der Nachbau eines Fluggerätes hängt am Freitag (27.05.2011) in Ulm im Stadthaus. Am 31.05.1811 versuchte Albrecht Berblinger mit einem ähnlichen Apparat in Ulm über die Donau zu fliegen. Kurz nach dem Start stürzte der als Schneider von Ulm bekannt gewordene wegen ungünstiger Winde in die Donau.
    Johannes Schweikle: "Fallwind" - Späte Ehre für Flugpionier
    Vor 200 Jahren ist Albrecht Ludwig Berblinger bei einem Flugversuch in die Donau gestürzt. Er überlebte, in Ulm hatte man aber nur noch Spott für ihn übrig. Die Geschichte eines tragischen Helden, der an der Borniertheit einer Gesellschaft zugrunde ging.
    Meister schon mit 21
    Dabei war das Malheur nicht seine Schuld. Bei den Übungsflügen am Michelsberg, einem ehemaligen Weinberg, an dessen Hängen die Ulmer Bürger Gemüsegärten angelegt hatten, waren ihm ansehnliche Sprünge gelungen, auch weil die Windverhältnisse stimmten. Den Michelsberg aber wollte man dem anfänglich anwesenden König Friedrich dem Ersten von Württemberg, genannt "der Dicke", nicht zumuten – es sollte schon die Stadtkulisse sein. Am gewählten Startpunkt aber wehten für Berblinger nicht beherrschbare Winde. An Geschick wird es dem am 24. Juni 1770 Geborenen nicht gefehlt haben, vermutet Eugen Kurz, Berblinger-Biograf für die Stadtbibliothek Ulm:
    "Nach dem Lehrlings-Einschreibebuch der ehrbaren Schneiderzunft zu Ulm wurde Albrecht Ludwig Berblinger als erst 21 jähriger /.../ zum Meister gewählt, obwohl nach alter Zunftvorschrift eine achtjährige Gesellenzeit nachzuweisen war, somit vor 25 Jahren keiner Meister werden konnte."
    Technisch und handwerklich sehr begabt
    Seinen Sinn für das Technische entwickelte Berblinger wohl an der Arbeitsstätte seines Vaters.
    "Nach dessen Ableben dürfte er jede Gelegenheit benützt haben, in das nur wenige Schritte vom Waisenhaus entfernte Zeughaus zu gehen, und dort wie zu seines Vaters Lebzeiten in den ein Knabenherz begeisternden Lagerräumen herumzustöbern oder in der Reparaturwerkstätte zu basteln."
    Die dabei erworbenen Kenntnisse waren so gründlich, dass er neben seiner Schneidertätigkeit einen ausgezeichneten Ruf als Prothesenmacher erwerben konnte.
    Gesellschaftlicher Absturz
    Alles Renommee aber sollte Berblinger nach seinem missglückten Flug nicht helfen, er verfiel der Trunk- und Spielsucht:
    "Ein vom Königlichen Oberamtsgericht gefordertes stadträtliches Zeugnis vom Jahr 1819 erhellt das immer tiefere Sinken Berblingers. Es lautet zwar noch dahin, dass ihm außer dem Hange zu Spiel und Trunk nichts Unrechtes nachzusagen sei. Ein nur wenige Wochen später aufgenommenes Magistratsprotokoll spricht schon davon, daß Berblinger "so zu sagen civiliter mortuus (bürgerlich tot) sei. Am 28. Januar 1829 starb Berblinger im Spital an Abzehrung im Alter von 58 Jahren; kein Grabstein deckt den auf dem Armenwege Beerdigten. Ein Leben voller Pläne und Hoffnungen - voll Enttäuschungen und hartem Lebenskampf hatte sein Ende gefunden. Sein Apparat wurde, wie durch mündliche Überlieferung bestätigt wird, noch viele Jahre im Hause A 49 bei den alten Röhren auf dem Dachboden aufbewahrt."
    Nachruhm für den Flugpionier
    Was den Nachruhm angeht, so hat es der Flugpionier nicht schlecht getroffen. Die Stadt Ulm lässt dazu wissen:
    "Die Wissenschaftsstadt Ulm lobt seit 1988 in regelmäßigen Abständen einen Preis aus zum Gedenken an den Mann, der als erster Gleitflieger in die Geschichte der Luftfahrt eingegangen ist. Der 'Berblinger-Preis' soll Flugzeugbauer in aller Welt dazu anstiften, ihre Kreativität auf Verbesserung der Sicherheit, Umweltverträglichkeit, Aerodynamik, Bauweise und Wirtschaftlichkeit zu konzentrieren."
    Schließlich fährt in Ulm eine Straßenbahn mit Berblingers Namen, Straßen sind nach ihm benannt, eine Schule – kurzum: Allein mit dem Werbewert seines Namens fände der Schneider von Ulm heute ein bequemes Auskommen.