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Formen musikalischer „Revolutionen“ beim Beethovenfest Bonn
Aufrütteln, Austesten, Reformieren

Beethoven. Er war Revolutionär durch und durch, zum einen als Künstler, weil er die Formgesetze innerhalb der Musik umstülpte, erneuerte, erweiterte; zum anderen als Mensch, denn Beethoven lehnte jede Etikette ab und trat vehement für die Ideale der französischen Revolution ein. Wirkten sich seine Ansichten aber auch auf die Gesellschaft aus?

Von Christoph Vratz | 06.09.2016
    Die Publizistin, Dramaturgin und Intendantin des Bonner Beethovenfestes Nike Wagner
    Intendantin des Bonner Beethovenfestes: Nike Wagner (Deutschlandradio / Oranus Mahmoodi)
    Politik schafft Revolutionen. Auch in der Musik? Die Frage geht an Nike Wagner, seit zwei Jahren Intendantin beim Bonner Beethovenfest.
    "Ob die politischen Revolutionen selber eine Revolution in der Musik bewirken, das glaube ich weniger. Politische Revolutionen suchen den Weg zur Straße, zur Verständlichkeit, zur Unmittelbarkeit, auch zu kleinteiligeren Dingen, Liedern, also zu formal eher nicht revolutionären Gattungen. Eine politische Revolution hat eine Botschaft, und eine Botschaft muss verständlich gebracht, und das widerstrebt an sich sehr Revolution in der Musik, so wie wir sie kennen; Debussy war auch eine Revolution in der Musik, genauso wie Schönberg und auf andere Weise Strawinsky, aber die haben nicht die Verbrüderung mit dem Volk gesucht, sondern die sind innermusikalisch vorgegangen, die haben das musikalische Material umgekrempelt, die haben andere musikalische Systeme erfunden."
    Heute spielen beispielsweise die französischen Komponisten aus der Zeit der Revolution von 1789 kaum noch eine Rolle: Méhul, Gossec und andere. Selbst einer der späteren Erneuerer in Frankreich, Hector Berlioz, hat es bis heute schwer, als Revolutionär wahrgenommen zu werden.
    "Also den relativen Misserfolg von Berlioz verstehe ich überhaupt nicht. Ich bin ein bedingungsloser Berlioz-Anhänger, man erkennt Berlioz am ersten Klang. Ich finde die ganze Farbenmischungs-Technik ist einfach fantastisch und er kommt ja auch von Beethoven her, er war ein absoluter Beethoven-Adorant. Und wie einer sozusagen gewisse Verrücktheiten, die bei Beethoven schon angelegt sind, romantische Verrücktheiten, weiter entwickeln kann in die Romantik: ein Thema ist noch ein Thema bei Beethoven, aber bei Berlioz ist es dann eine idée fixe; er hat ja auch schon Raumklang wie im Requiem Raumklänge erfunden, also alles, was dann bei Stockhausen erst später, ganz spät wieder aufgenommen wird."
    Leicht verständlich
    "Eine Revolution selber, nehmen Sie die französische oder die russische, sucht ja den Weg zum Volk, die will verständlich sein. Deswegen ist die Musik auf die Straße gegangen, und sie ist öffentlichkeitswirksam geworden, große Chorwerke zum Beispiel, oder leicht verständlich, Chansons, Refrains. In den russischen Bezirken war auch die Kluft zwischen der verstörenden, unverständlichen, avantgardistischen Musik der späten 20er Jahre und dann etwa ab Mitte der 30er Jahre die verordnete, leicht verständliche, für den Arbeitsmann geschriebene, weniger progressive Musik."
    Einige Kulturwissenschaftler vertreten die These, dass politischen Revolutionen oft eine künstlerische vorausgehe: Kunst als Antizipation eines Brodelns in der Gesellschaft. Das trifft zumindest in einzelnen Fällen sicher zu, etwa bei Arnold Schönbergs Atonalität und beim literarischen Expressionismus im Vorfeld des Ersten Weltkriegs. Eine wichtige Rolle bei der revolutionären Kraft von Musik kann die Vertonung von Texten spielen. Beispiele gibt es vor allem in der Musik aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
    "Wenn sich Musik mit Text sich verbindet, was bei Luigi Nono durchaus der Fall ist, ist die Botschaft klar, egal ob die gesungene Linie, Textlinie, verstanden wird oder nicht. Beim Nono müssen sie auch ins Programmheft gucken, um zu sehen, welche Text er vertont hat. Die verstehen Sie nicht. Da ist beides, da sind musikalische Revolution, Neuorganisation des musikalischen Materials auf politische Botschaften – das ist miteinander verquickt. Insofern ist Nono eine besonders eigenständige Figur, die offenbar auch immer versucht hat, politische Botschaften in einer musikalisch avancierten Sprache darzustellen. Wenn man nur noch Phoneme hört, wie soll man dann noch politisch bewegt sein; aber für die Leute, die aus der Musik kommen hat das durchaus aufrüttelnden Charakter. Und wenn man klug ist, parallelisiert man die Ebene der Kunst mit der Ebene der Politik. Ich glaube auch, dass das eine nie ganz unabhängig ist von dem anderen."
    Musik-Revolutionen im digitalen Zeitalter?
    Mit dem Wandel des postmodernen zum digitalen Zeitalter hat sich die Musik verändert. Für verbindliche Erkenntnisse, inwieweit Musik auch heute noch revolutionär sein kann, ist es noch zu früh. Dennoch ist es für Nike Wagner wichtig, dass Musikfestivals auf neue musikalische Veränderungen reagieren.
    "Heute haben die digitalen Techniken fast die Rolle einer Botschaft übernommen. Es geht um Kommunikation, es geht um Verbreitung, und alles ist überall. Wir reden ja nicht umsonst von der digitalen Revolution, da geht es vorwärts. Weniger im Inhalt würde ich sagen als eben in den Strukturen und in den Techniken. Deswegen habe ich eine multimediale Produktion hereingenommen in das Programm des Beethovenfestes 2016, wo mir eine türkische Pianistin sagte: In all den arabischen Ländern hat sich im Zuge der Arabellion eine Musik entwickelt, die von unten kommt, die von der Straße kommt; und wir waren übereingekommen, dass diese Pianistin verschiedene Pianisten aus den jeweiligen verschiedenen arabischen Ländern fragt, auffordert, diese Rinnsale sozusagen, diese musikalischen Rinnsale aufzunehmen, die weiter zu verarbeiten, uns zu präsentieren, dazu Texte und Bilder, so dass uns das Klima dieser Erhebungen und Umstürze und Revolten in den arabischen Ländern uns auch künstlerisch plausibel werden."
    Noch bleibt abzuwarten, inwieweit die Musik von heute grundlegend Neues schafft. Es gibt sicher noch keine breit angelegten Strömungen, allenfalls erste Tendenzen. Die will das Beethovenfest sicht- und hörbar machen.