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Forscher mit Abenteuerlust

Er ist ein Pionier der modernen Ethnologie und drückte diesem Fach seinen ganz persönlichen Stempel auf: Claude Lévi-Strauss. Am Beginn seiner Karriere gab es in Frankreich ein einziges ethnologisches Institut. Die Beschäftigung mit den "primitiven" Völkern und Kulturen galt als jung und avantgardistisch - und das reichte für den jungen Lévi-Strauss fast schon, um sich damit näher zu befassen. Einige seiner Schriften wurden zu Klassikern.

Von Irene Meichsner | 28.11.2008
    Öffentlich äußert er sich schon seit langem nicht mehr. Doch Claude Lévi-Strauss gehe es gut, heißt es aus dem Suhrkamp-Verlag, wo seine Bücher in deutscher Übersetzung erscheinen. Zum 100. Geburtstag wird der große, in Paris lebende Ethnologe und Anthropologe mit einer Sonderausgabe eines seiner berühmtesten Werke geehrt: "Traurige Tropen", 1955 in Frankreich in erster Auflage veröffentlicht. Lévi-Strauss schildert darin das Leben der Indianer im Inneren von Brasilien, berichtet von ihren Mythen und Riten, ihren Tänzen und Sprachen. Und er ist von Wehmut erfüllt.

    Nie wieder werden uns die Reisen, Zaubertruhen voll traumhafter Versprechen, ihre Schätze unberührt enthüllen. Eine wuchernde, überreizte Zivilisation stört für immer die Stille der Meere. Eine Gärung von zweifelhaftem Geruch verdirbt die Düfte der Tropen und die Frische der Lebewesen, tötet unsere Wünsche und verurteilt uns dazu, halb verfaulte Erinnerungen zu sammeln.

    Die Sehnsucht nach einer unberührten Natur und eine gewisse Abenteuerlust hatten Lévi-Strauss ursprünglich auch bewogen, Ethnologe zu werden. In einem Gespräch mit dem Publizisten Jürg Altwegg erinnerte er sich 1986.

    "1926/27 hatten meine Eltern in den südlichen Cevennen ein kleines Haus gekauft, in einer Gegend, die damals noch sehr wild, in einem gewissen Sinne primitiv war. Und ich reiste nach Brasilien, nicht zuletzt, um Ethnologe und Anthropologe zu werden. Zu diesem Zeitpunkt waren dies keine von der französischen Universität anerkannten Wissenschaften. Ich ging also nach Brasilien, um Ethnologie zu betreiben, und um mit einer Natur, die noch wilder war als die, die ich kannte, in Berührung zu kommen."

    Claude Lévi-Strauss wurde am 28. November 1908 in Brüssel als Sohn eines Künstlers geboren. Er studierte Philosophie und Jura an der Pariser Sorbonne und arbeitete zunächst als Lehrer, bevor er 1934 einen Lehrstuhl für Soziologie an der Universität von Sao Paulo bekam. Lévi-Strauss reiste mehrfach zu den Indianern am Amazonas – ohne sich allerdings auf eine allzu detaillierte "Feldforschung" einzulassen. 1941 ging er nach New York, 1948 erschien sein Buch "Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft", in dem er am Beispiel von Heiratsbeziehungen die stabilen Elemente herausarbeitete, die in verschiedenen Kulturen soziale Strukturen schaffen – wie etwa das Inzest-Tabu, das Lévi-Strauss bei allen Gesellschaften der Welt entdeckte. Als Fundgrube für solche universalen Beziehungsgeflechte erwiesen sich die Mythen der Völker.

    Ich habe 1950 angefangen, mich mit der Mythologie vertraut zu machen,

    berichtete Lévi-Strauss in einer Sammlung von autobiographischen Gesprächen, die 1988 erschienen.

    Zwanzig Jahre lang habe ich, schon im Morgengrauen auf den Beinen und von Mythen berauscht, wirklich in einer anderen Welt gelebt. Die Mythen durchtränkten mich geradezu. Man muss über dem Mythos ganze Tage, ganze Wochen, manchmal ganze Monate lang brüten, bis plötzlich der Funke überspringt und man in diesem oder jenem unerklärlichen Detail eines Mythos in transformierter Form dieses oder jenes unerklärliche Detail eines anderen Mythos wieder erkennt und man sie auf diesem Umweg zur Einheit zusammenfügen kann.

    Für die magische Weltsicht so genannter "primitiver" Völker prägte Lévi-Strauss den Begriff "wildes Denken". In den vier Bänden seiner "Mythologica" beleuchtete er - anhand von über 800 Mythen und tausend Varianten - das Verhältnis von Natur und Kultur in allen möglichen Facetten. Seit 1959 war Lévi-Strauss Professor für Sozialanthropologie am Collège de France, dem berühmten Zentrum für geistes- und naturwissenschaftliche Grundlagenforschung. Als Begründer des ethnologischen "Strukturalismus" prägte er die Anthropologie des 20. Jahrhunderts wie kaum ein anderer.

    "Wenn man das hohe Alter erreicht, wird einem bewusst, dass das Arbeiten immer schwieriger wird. Und ich sage mir, das Ende naht. Es gibt ein Buch, das ich vielleicht noch schreiben möchte über Probleme der Mythologie, die ich beiseite gelassen habe. Und dann, stelle ich mir vor, wird es weise sein zu schweigen."

    Bis Mitte der 90er Jahre erschienen noch kleinere Schriften. Danach entschloss sich Claude Lévi-Strauss zum Rückzug aus der Öffentlichkeit.