Freitag, 29. März 2024

Archiv

Forschung zu "Vigilanzkulturen"
Wachsamkeit, freiwillige Selbstkontrolle oder Denunziation?

Warum sind wir aufmerksam, was bringt uns dazu, auf andere zu achten? Wie kann Wachsamkeit politisch gesteuert werden? Ein interdisziplinärer Forschungsverbund der Ludwig-Maximilians-Universität in München untersucht die historischen und kulturellen Grundlagen von "Vigilanz" in ihrer ganzen Ambivalenz.

Von Eva-Maria Götz | 25.03.2021
Szene aus "Das Fenster zum Hof": Ein Mann mit Teleobjektiv, im Rollstuhl sitzend und eine Frau schauen aus einem Fenster.
Im Film "Das Fenster zum Hof" beobachtet der von James Stewart gespielte Fotoreporter aus Langeweile seine Nachbarschaft. Sein Verdacht, gegenüber könnte ein Mord geschehen sein, stellt sich am Ende als berechtigt heraus. (picture alliance / akg-images)
Da steht ein Auto merkwürdig geparkt an einer belebten Straße und irgendetwas daran wirkt ungewöhnlich. Zwei Geschäftsleute informieren die Polizei und tatsächlich: das Auto ist voller Sprengstoff und ein Terroranschlag kann verhindert werden - durch die Achtsamkeit zweier Unbeteiligter. So geschehen am Times Square in New York im Mai 2010. Was aber brachte die Bürger dazu, sich so zu verhalten?
"Also im Grunde geht es immer um die Frage, ob es so etwas wie einen Impuls zur Veränderung gibt und wie der dann konkret aussieht, also ob das ein Griff zum Telefonhörer ist und ein Anruf bei der Polizei oder in anderer Form eine Reaktion. Das ist fallweise zu klären."
Sagt Arndt Brendecke, Professor für die Geschichte der Frühen Neuzeit an der LMU München und Sprecher des Sonderforschungsbereichs "Vigilanzkulturen". "Und wenn man da eine Weile darüber nachdenkt, kommt man zu dem Schluss, dass das ein historisch lange währendes und komplexes Phänomen ist."

Wofür fühlen wir uns verantwortlich?

Vigilanz - ein Spezialbegriff aus der Neuromedizin, bezeichnet den Wachheitsgrad von Patienten. Doch die Forschergruppe - bestehend aus Historikern, Juristen, Theologen, Kultur-, Theater-, Literatur und Politikwissenschaftlern - geht darüber hinaus: "Wir meinen damit die breitere Wachsamkeit, die Fähigkeit, die eigene Aufmerksamkeit auf etwas zu lenken, und auch die Politisierung dieser menschlichen Aufmerksamkeit."
Der Moment der Aufmerksamkeit, des Innehaltens, des sich-bewusst-werdens, dann ein Impuls, eine Aktion, ein Ziel - es ist ein komplexer Vorgang, der Menschen dazu bringt, Dinge zu tun, die aus dem Rahmen fallen und damit Veränderungen zu bewirken.
"Aber all diese Elemente sind kulturell gesteuert und haben eine lange Vorgeschichte, zum Beispiel auch diejenige der Rollenerwartung an einen Bürger oder eine Bürgerin. Also welche Wahrnehmungen sind denn eigentlich solche, die in unseren Zuständigkeitsbereich fallen? Wofür sind wir also genau verantwortlich?"

Kleidervorschriften und deren Durchsetzung

"Die Durchsetzung von Kleidervorschriften sowohl als Verbotsnorm, dass Frauen vor allen Dingen bestimmte kostbare Stoffe, je nachdem, welchem Stand sie angehört, nicht an ihrer Kleidung tragen durften und interessanterweise die Gebotsnorm, also dass Funktionsträger Markierungen an ihrer Kleidung tragen sollten, die sie als solche erkennbar macht…"
…die Durchsetzung dieses Regelwerks aus der Frühen Neuzeit untersucht Susanne Lepsius. Professorin am Lehrstuhl für Gelehrtes Recht, Deutsche und Europäische Rechtsgeschichte in der LMU. Im Fokus hier: die Bürger-Städte Nürnberg, Regensburg und Florenz.
"Und unsere Überlegungen ist eben, dass gerade solche Vorschriften natürlich in den frühen neuzeitlichen Städten jetzt nicht obrigkeitlich durchgesetzt werden konnten durch irgendwelche Büttel oder Polizeikräfte, sondern dass das eben im Wege der Anzeige, der Rüge oder der Denunziation durch andere Stadteinwohner dann vor Gericht anhängig gemacht wurden."

Den Nachbarn denunzieren - na klar!

Warum aber haben Bürgerinnen und Bürger, die in Freien Städten ohne adelige Landesherrschaft lebten, ihre Nachbarn denunziert? Und das Ganze nicht etwa heimlich, sondern so "dass man schon mit seinem eigenen Klarnamen und Gesicht zur Obrigkeit geht und auch seinen Namen hinterlässt, dass man derjenige ist, der jetzt hier über ein Fehlverhalten berichtet."
Gab es vielleicht pekuniäre Anreize? Oder unterwarfen sich Bürger und Bürgerinnen dem sozialen Druck? Weil "man sich diese frühneuzeitlichen Städte eben nicht so wie heute also anonyme Großstädte vorstellen darf, sondern dass es da schon auch um so Aufmerksamkeits-Regime gegangen ist."

Selbstgegebene Regeln, soziale Kontrolle

Ein Impuls, eine Aktion, ein Ziel. Das hat auch die Menschen im 15., 16. Jahrhundert bewegt. Die Regelwerke haben sich die Stadtgesellschaften selbst gegeben. Und sie haben selbst dafür gesorgt, dass sie durchgesetzt werden:
"Also dieses neuzeitliche Diktum: Der schlimmste Lump im ganzen Land ist der Denunziant - das ist natürlich gerade nicht die Vorstellungen, die man aus diesen Normen herausliest. Weil eben schon in die Norm bewusst das so hineingeschrieben wird: Wir wollen das, weil wir das auch als eben ein sanktionswürdiges Verhalten betrachten. Und wir möchten auch gerade, dass dieses oder jenes unter Unterstützung von einfachen Bürgern dann auch geahndet wird."
NSA-Whistleblower Edward Snowden bei einer Videokonferenz mit dem Europarat in Straßburg.
Edward Snowden öffnete der Welt die Augen über das Ausmaß der Überwachung durch Geheimdienste - für die US-Regierung ist er ein Verräter (AFP - Frederick Florin)

Die Ambivalenz des Whistleblowers

"Also es gibt bestimmte, sozusagen Persönlichkeitseigenschaften, die da vielleicht ein bisschen bereitschaftssteigernd wirken." Meint Ralf Kölbl, Professor am Münchner Lehrstuhl für Strafrecht und Kriminologie, der die Ambivalenz des Whistleblowings untersucht. Whistleblower, das sind Menschen, die Missstände - oder Dinge, die ihnen als solche vorkommen - zum Beispiel in ihrem Arbeitsumfeld, melden.
"In aller Regel wollen die Leute, die bestimmte Dinge ansprechen möchten, das intern geklärt haben." Aber dann gibt es auch diejenigen, die interne Vorgänge oder Vorkommnisse umstandslos veröffentlichen. Und da wird es kompliziert.
Kölbl unterscheidet Whistleblower in die Gruppe, die systemstabilisierend ist, indem sie beispielsweise in Wirtschaftsunternehmen Bilanzmanipulationen oder Korruption enthüllen. Und dann gibt es diejenigen, die destabilisieren.

Motivation nicht immer ethisch hochwertig

"Die Systeme destabilisierenden Whistleblower sind die, die sozusagen die politischen Grundstrukturen oder politischen Praktiken in Zweifel ziehen, indem sie eben unangenehme Wahrheiten öffentlich machen. Und auf die reagiert die Umwelt dann häufig sehr viel ambivalenter."
Die Motive für dieses Verhalten sind in beiden Fällen vielschichtig: "Es ist eben nicht so, dass wir sagen können, dass jeder Hinweisgeber, jeder Whistleblower getrieben ist durch eine ethisch besonders hochwertige Motivation. Da fließen ganz unterschiedliche Aspekte, die häufig auch sehr individuell sind, zusammen. Da kann es auch darum gehen, dass man sozusagen versucht, die eigene Verstrickung abzuwehren oder dass es alte Rechnungen gibt."

Gefahr für Autonomie privater Strukturen?

Dennoch fordert eine neue EU-Richtlinie die Mitgliedsstaaten auf, ein Mindestniveau an Schutzvorschriften für Whistleblower zu schaffen. Kündigungen von Hinweisgebern am Arbeitsplatz könnten dann unwirksam werden. Das könnte in einigen Unternehmen helfen, das Betriebsklima zu verbessern. Es kann aber auch dazu führen, dass der Staat damit indirekt ein Instrument zur Kontrolle privater Organisationen oder Strukturen in die Hand bekommt.
"Die Ambivalenz ist ein Wesensmerkmal solcher Formen der Politisierung von Aufmerksamkeit. Man kann das also nicht gewissermaßen rausrechnen und sagen: das ist meistens gut, aber in Ausnahmefällen schlecht oder umgedreht", meint dazu der Historiker Arndt Brendecke.
Was auch immer die Motivation sein mag: auf jeden Fall treffen Menschen, die wachsam sind und über Beobachtungen Auskunft geben wollen, vorher eine Entscheidung. Dann handeln sie.
Die Bronzebüste von Wilhelm Fabry auf dem Marktplatz in Hilden. 
Leuchtendes Beispiel für Vigilanz in der medizinischen Kultur: Wilhelm Fabry von Hilden (1560-1634) (imago/blickwinkel/S.Ziese)

Das Gespür für den richtigen Moment

"Fabry von Hilden heißt er, und er hat für die Chirurgie in der frühen Neuzeit wirklich einschlägige Praktiken und aber auch Werke hinterlassen", schwärmt Mariacarla Gadebusch Bondio, Professorin für Medizingeschichte an der Universität Bonn, von einem Arzt, dessen Schriften sie in ihrem Forschungsbereich "Vigilanz in der medizinischen Kultur der Vormoderne" erforscht.
"Er war ein Gelehrter, Chirurg, hat ja alles Mögliche behandelt. Er hat auch erfolgreich Amputationen durchgeführt mit den richtigen Ligaturen, mit all dem, was notwendig war, damit die Wunden nicht infizieren und oder Blutungen entstehen. Er war ein wirklich sehr interessanter Mensch."
Wilhelm Fabry, geboren 1560 in Hilden, dokumentierte seine Arbeit in über 600 Krankenberichten, er gab seine Überlegungen und Erfahrungen weiter. Vor allem aber war ihm bewusst: "… wie wichtig es ist, ja so aufmerksam zu sein, dass man zum Beispiel Fehler vermeidet. Und dazu gehört eben diese absolute Konzentration, diese Sorgfalt während einer Handlung."
Und er hatte offensichtlich das Gespür dafür, "den sogenannten ‚Kairos‘ zu erkennen. Kairos ist: Der richtige Augenblick. Es ist das Momentum, in dem der Arzt weiß: da muss ich intervenieren. Da ist etwas zu tun oder auch zu lassen."

Neue Verantwortlichkeiten in der Pandemie

Abwägen, was zählt. Etwas hoffentlich Sinnvolles tun im hoffentlich richtigen Moment. Eben auch die Polizei zu rufen, wenn ein merkwürdig geparktes Auto an einer belebten Straße verdächtig erscheint - das ist neben der Ambivalenz ein weiteres Charakteristikum, das der Vigilanz, der Wachsamkeit innewohnt. Eine Eigenschaft, die Menschen dazu bringt, Verantwortung zu übernehmen. Bis heute.
Arndt Brendecke: "Etwas, das wir jetzt im Zuge der Pandemie auch massiv erleben, ist eine solche ‚responsibility‘ für einen Bereich, aus dem wir zuvor relativ stark ausgenommen waren, nämlich der Bereich der öffentlichen Gesundheit. Dafür waren wir als Einzelne nicht oder nicht signifikant zuständig. Jetzt sind wir es."