Donnerstag, 25. April 2024

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Fotografie
Von der Kunst, sich unsichtbar zu machen

Die Fotografin Barbara Klemm hat jahrzehntelang das politische Geschehen der Bundesrepublik mit der Kamera begleitet. Im Deutschlandfunk spricht sie über die Faszination Willy Brandt, Verführungen der Digitalfotografie und warum es wichtig ist, sich in bestimmten Momenten zurückzunehmen.

Barbara Klemm im Gespräch mit Birgit Wentzien | 28.11.2013
    Demokratin der Fotografie nannte sie der Lyriker Durs Grünbein einmal und meinte die Fotografin Barbara Klemm, die über fünf Jahrzehnte das internationale Zeitgeschehen mit ihrer Kamera begleitet und dokumentiert hat. Barbara Klemm wurde 1939 in Münster in eine Künstlerfamilie geboren, sie wuchs in Karlsruhe auf, absolvierte ein Realgymnasium und anschließend eine Fotografenlehre. 1959 zog sie nach Frankfurt am Main und wurde Mitarbeiterin der "FAZ". Das Blatt, das ihr eine internationale Fotografenkarriere ermöglichen sollte, beschäftigte sie zunächst im Fotolabor und in der Abteilung Klischeeherstellung. Doch sie fand schnell zum Genre der journalistischen Fotografie. Zunächst als freie Mitarbeiterin, ab 1970 bis 2004 als Redaktionsfotografin der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Jahrzehntelang verfolgte sie das Zeitgeschehen mit der Kamera und schuf mit ihrem ganz eigenen Blick für typische Situationen und signifikante Momente Aufnahmen von historischem Wert. Ihre Bilder gelten heute als fotografische Dokumente politischer Epochen und historischer Wendepunkte. Bis zum 9. März nächsten Jahres sind in einer Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau Fotografien von Barbara Klemm aus den Jahren 1968 bis 2013 zu sehen.
    "Ich habe Geduld für andere Dinge, aber nicht zum Malen."
    Barbara Klemm und ihr künstlerisches Elternhaus in Karlsruhe
    Birgit Wentzien: Wir haben auf Sie gewartet, Frau Klemm, und wir haben auch ein bisschen gedrängelt und wir haben in der letzten Einladung dann geschrieben, kommen Sie zu uns, nehmen Sie die Einladung an, unsere Sendung ist so etwas wie ein Fotoalbum zum Zuhören. Hat Sie das dann zum Schluss überzeugt, haben Sie gedacht, gut, dann gehe ich da mal hin?
    Klemm: Überzeugt, weiß ich nicht. Weil, es ist natürlich nicht ganz einfach, über Bilder zu sprechen, und das kann man ja mal probieren. Ab und an ist es mir gelungen, aber ich habe sehr - weiß es nicht, ob es laufen wird oder nicht.
    Wentzien: Willkommen an den Augenmenschen …
    Klemm: Danke!
    Wentzien: … im Ohrenmedium! Wer hat dafür gesorgt, dass Sie ein Augenmensch wurden? Waren Sie das schon immer?
    Das hast du halt im Bauch!
    Klemm: Ich glaube, da habe ich Glück gehabt, dass ich in einer Familie groß geworden bin … Also, meine Eltern waren Künstler, die haben sich in der Akademie kennengelernt, in der Kunstakademie, haben geheiratet, dann haben sie uns sechs Kinder gekriegt. Und das in einer ziemlich schwierigen Zeit, also zwischen 33 und 42, während des Krieges. Und da ist, dann hat meine Mama natürlich keine Zeit auch mehr gehabt, irgendwie das auszuüben. Aber mein Vater war vorher schon Zeichenlehrer und, ich glaube, Geografie, und ist dann berufen worden an die Kunstakademie und hat nebenher gemalt. Und so sind wir eigentlich mit der Kunst groß geworden. Und vielleicht hat das das Auge schon ein bisschen trainiert, ich kann es nicht sagen. Also, einmal sagte mein Vater mir, als er ein Bild in der Zeitung sah, wie hast du denn das gemacht, diese Komposition, das hast du halt im Bauch! Und vielleicht hat er ja bis zu einem gewissen Grad recht gehabt, aber natürlich lernt man mit der Zeit, Dinge sehr schnell einzufangen.
    Wentzien: Haben Sie ihn beobachtet beim Arbeiten?
    Klemm: Nein.
    Wentzien: Also, er hat Ölbilder gemacht, er hat Collagen gemacht.
    Klemm: Es war also kein Öl, weil wir gar kein Geld hatten, es war Caparol, ein synthetischer Binder, der sehr ähnlich arbeitet und wirkt wie Öl. Und er hat wirklich ganz tolle Sachen gemacht, aber ich war nie dabei.
    Wentzien: Und irgendwo muss ja einer dann gestanden sein mit dem Apparat. Also, da kam ja dann zu Barbara Klemm das Schauen und die Kiste!
    Handwerk von der Pike auf gelernt
    Klemm: Ja, die Kiste kam, weil ich in der Schule nicht so gut war und meine Eltern überlegt hatten, ob ich eine Lehre mache oder ob ich die Klasse noch mal mache. Und dann hat mein Vater gemeint, ich habe einen schönen, guten Fotoapparat, einen Vergrößerungsapparat, interessiert dich das, willst du da nicht was machen. Und so kam das. Ich habe dann ein Jahr bei meiner Mama gearbeitet, zu Hause geholfen ihr, weil sie sagte, das Kind ist noch zu jung, und dann bin ich mit 15 in die Lehre in ein sehr gutes Porträtatelier in Karlsruhe, bei der Frau Bauer. Und da gab es nur Frauen und das war auch ganz angenehm. Und da habe ich von der Pike auf das Handwerk gelernt.
    Wentzien: Und das war der Grundstock für …
    Klemm: Na ja, das weiß man ja eigentlich nie, wo es dann hinläuft. Und wie das so manchmal im Leben ist, gibt es wunderbare Zufälle, die einen dann ein Stück weiterbringen. Und das war die Möglichkeit für die "FAZ", die ich immer schon zu Hause angeguckt habe, meine Eltern hatten sie abonniert - was der Wolfgang Haut gemacht hat, der war ein wunderbarer Fotograf, ist leider schon gestorben. Mit ihm habe ich dann nachher 30 Jahre zusammengearbeitet. Und diese Art von Bildern, das hat mir imponiert. Da gab es damals schon "Bilder und Zeiten", diese Tiefdruck-Beilage, und da waren tatsächlich Bilder ohne einen Text dabei, sondern nur, weil es ein wunderbar komponiertes, gutes Bild war.
    Wentzien: Nur mal ganz kurz, nehmen Sie mich mit! Sie machen eine Lehre in Karlsruhe …
    Klemm: Ja.
    Wentzien: Und dann sind sie Atelierfotografin.
    Klemm: Ja.
    Wentzien: Aber die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" ist ja dann in Frankfurt und weit weg. Wie kam es jetzt zur Annäherung der beiden Punkte?
    Zufallstreffer Frankfurter Allgemeine Zeitung
    Klemm: Das war ein ganz kurzes Zwischenspiel in einer Klischeeanstalt von einem befreundeten Ehepaar, wo der Mann eine Klischeeanstalt hatte. Und der wollte, dass ich Klischees herstelle. Und irgendwie habe ich gedacht, na ja, dann mache ich mal was anderes als das Porträtatelier. Und für diese Frau, die wegging, für die ich eingestellt wurde, die sollte nach Frankfurt. Und die wollte in Karlsruhe bleiben. Und so hat sich das ergeben, dann hat sie gesagt, dann machst du das halt.
    Wentzien: In dem bemerkenswerten Katalog, der hier vor uns liegt, gibt es ein Bild, und zwar das Bild von Ihrem Vater, von Fritz Klemm, das Sie gemacht haben 1968. Es ist so, wie Sie sagen, liebe Augenmenschen, Barbara Klemm, ich als Ohrenmensch muss es kurz für unser Medium beschreiben. Es ist eine anrührende Aufnahme, würde ich sagen, Ihr Vater steht am Fenster und schaut aus dem Fenster hinaus in einen Park mit kahlen Bäumen, es muss Herbst oder Winter sein. Das Atelier ist zu sehen, es ist ein hoher Raum, wir haben links die große Staffel und dahinter noch einen Holztisch mit einer Ablage, und ganz offensichtlich stehen Sie, die Tochter, weit weg. Also, es könnte die Türschwelle sein oder…
    Klemm: So ist es, die Türe.
    Wentzien: … zu einer großen Distanz zu ihm. Und es spricht für mich eine Achtung und ein Respekt aus diesem Bild. Habe ich das jetzt richtig gedeutet und beschrieben?
    Klemm: Ja, ich denke schon. Es war ein ganz kurzer Moment, wie ich ihn da stehen sah, und es gibt auch nur dieses eine Negativ. Und ich habe drauf gedrückt und es hat so nicht nur mich berührt hinterher, sondern sehr viele Betrachter. Und ich glaube, es hat etwas, weil er … - erstens mal ist es ein Bild, wie er sich selber auch gemalt hat. Er hatte sehr hängende Schultern, er hat sich eigentlich immer wie ein Schlüsselloch als Selbstporträt gemalt, und sein Thema war sehr oft das Fenster oder der Blick aus dem Fenster. Es war in einem wunderbaren Atelier, das in Scheibenhardt, Schloss Scheibenhardt lag, das gehörte zur Akademie und war etwas vor Karlsruhe gelegen. Und das hatte ihn auch inspiriert, diese tollen Caparolbilder zu malen, zum Beispiel eben ein Fenster und dann dahinter zwei weiße Wolken. Also sehr, später sehr reduziert in den Formen und auch in der Farbe, war er auch immer reduziert. Und da, denke ich, habe ich auch irgendwas davon, dass ich also immer bei Schwarz-Weiß geblieben bin. Ob er mich dazu motiviert oder angeregt hat, das glaube ich eigentlich nicht. Aber so ist das eigentlich eine ganz schöne Kombination, unser beider Arbeit.
    Wentzien: Also, der schwarz-weiße Vater, der Kompositionsvater, was die Bilder anbelangt. Was haben Fotografen wie Sie und Maler wie Ihr Vater gemeinsam? Gehört das zusammen?
    "Ich habe Geduld für andere Dinge, aber nicht zum Malen"
    Klemm: Ja, natürlich, also, ich glaube, man muss etwas erfassen können und die Komposition sehen und einfangen. Bei den Malern ist es so, die legen die Komposition, darin haben sie es leichter als wir. Aber das Handwerk an sich ist natürlich unvergleichbar schwieriger und größer, und das sind die eigentlichen Künstler. Wir haben ein technisches Hilfsmittel dazwischen. Aber bei den Kompositionen, die aus der Bewegung heraus einzufangen, zu sehen, also dieses Bild zu ordnen, das ist, finde ich, sehr schwer. Und das gelingt einem eben nicht so oft.
    Wentzien: Es gibt nicht wenige, Frau Klemm, die sagen, Sie sind auch eine Künstlerin. Würden Sie manchmal selber gerne malen?
    Klemm: Nein. Überhaupt nicht, ich könnte es nicht, ich habe keine Geduld. Ich habe Geduld für andere Dinge, aber nicht zum Malen.
    "Ganz gegenwärtig und für mich eigentlich die Figur, die auch so meine Zeit begleitet hat, war Willy Brandt."
    Königin der Diskretion, die Kunst, sich beim Fotografieren unsichtbar zu machen
    Wentzien: Sie haben viele Politiker, ganz viele Künstler - wir kommen noch darauf - in den vergangenen Jahrzehnten fotografiert. Und alle, die man spricht und von denen man nachher dann liest, nach der Klemm'schen Einvernahme, sagen, diese Frau, diese Meisterin der Fotografie ist eine Königin der Diskretion, bei Ihnen sei man sicher vor Verrat, Sie beherrschten die Kunst, sich unsichtbar zu machen in dem Moment, wo Sie fotografieren. Wie machen Sie das? Ich meine, es klickt doch andauernd! Die Leica ist zu hören.
    Klemm: Gut, es klickt, die Leica ist kaum zu hören, das ist der Vorteil der Leica. Dieses Sich-unsichtbar-Machen ist, glaube ich, ein Verhalten, wie man sich bewegt. Natürlich sind wir immer sichtbar, die Kamera, ich habe sie immer am Auge, ich bin nicht jemand, der manchmal aus der Hüfte heraus fotografiert, weil ich einfach Angst habe, dass ich dann nicht das bekomme, was ich sehe.
    Wentzien: Sie haben Sie auch immer dabei?
    Klemm: Ich habe sie immer dabei, ja, natürlich, wenn man irgendwas sieht plötzlich, was einen reizt und man fotografieren möchte, muss man die Kamera dabei haben. Und das ist, ja, das macht einfach, ich glaube, dieses Sich-Zurücknehmen ist das, was einen vielleicht einen Hauch unsichtbar macht.
    Wentzien: Das hilft einem dann auch?
    Klemm: Ich glaube, ja, natürlich. Weil, derjenige, den man fotografiert, oder die Szene, die man beobachtet, dass man da nicht stört.
    "Man muss ein bisschen verrückt sein und ein Stück besessen sein"
    Wentzien: Mit vielen Redaktionskollegen der schreibenden Zunft haben Sie bei der "Frankfurter Allgemeinen" zusammengearbeitet, einer ist Wilfried Wiegand. Und der hat einmal über Sie gesagt, Sie seien eine geborene Reporterin, furchtlos und neugierig, Sie seien aber zugleich auch sehr bescheiden und zurückhaltend. Und, Frau Klemm, das sind ja nun Eigenschaften, die haben Journalisten nun nicht immer dabei. Ist die Beschreibung von Wilfried Wiegand richtig, also diese berühmte Klemm'sche Mischung, auf der einen Seite der professionelle Handarbeiterfotograf, die Künstlerin, auf der anderen Seite jemand, der sich auch sehr zurücknimmt, damit derjenige, der auf dem Bild ist, dann auch dort angemessen erscheinen kann?
    Bild "Bruderkuss" von Barbara Klemm, 1979, auf der Berliner Mauer (East Side Gallery)
    Der "Bruderkuss" von Barbara Klemm ist heute auf der East Side Gallery in Berlin zu sehen. (dpa/picture alliance/Wolfram Steinberg)
    Klemm: Ja, das hat Wiegand ganz wunderbar geschrieben. Und ich glaube schon, ja, er hat sicher recht. Also, weil es natürlich auch Situationen gibt, wo ich schon sehr forsch bin und gucke, dass ich dahin komme, wo ich hinkommen möchte. Wissen Sie, und ich habe manchmal das Gefühl gehabt, man muss ein bisschen verrückt sein und ein Stück besessen sein, um dann so Dinge zu machen, wo man einfach das Gefühl hat, ich probiere es. Ob ich da reinkomme oder nicht, obwohl die Leute mich dann nicht so vielleicht sehen wollen. Und das mit einer Mischung von doch sich zurückzunehmen und bescheiden sein, vielleicht habe ich das ganz gut so im Laufe meiner Arbeitszeit hinbekommen.
    Wentzien: Werden wir konkret, Barbara Klemm! Wer ist komplizierter und wo mussten Sie etwas mehr verrückt sein? Helmut Kohl oder Andy Warhol?
    Klemm: Bei beiden nicht! Nein, das sind ganz andere Situationen! Bei Helmut Kohl, bei dem berühmten Bild in seinem Arbeitszimmer, früh morgens, das sollte zum 65. Geburtstag sein, habe ich die Redaktion gebeten, ihn porträtieren zu können und zu dürfen, wenn er mit seinen engsten Mitarbeitern zusammen ist, um einfach zu sehen, wie er damit umgeht, wenn er den Termintag bestimmt. Er hat ja jeden Morgen um neun, hat er eine Sitzung gehabt, eine kleine Konferenz. Und das hat mich interessiert. Weil, ein richtiges Porträt wie bei einem Schriftsteller oder Maler, konnte ich mir bei Politikern nie vorstellen, ich habe immer das Gefühl gehabt, man muss sie in der Aktion sehen und dann bekommt man etwas von ihrem Charakter mit.
    Wentzien: Also, zu sehen auf diesem Bild - eine Ikone inzwischen auch, würde ich sagen - ist Helmut Kohl hinter seinem Schreibtisch. Juliane Weber, seine damalige Assistentin, …
    Klemm: Mitarbeiterin.
    Wentzien: … Mitarbeiterin beugt sich drüber und er hat - davor sind noch ein paar Menschen zu sehen, Rücken davon, weil sie von hinten schauen und ihm quasi ins Gesicht, und er hat ein Notizbuch, das berühmte …
    Klemm: Das berühmte rote Notizbuch, ja, winzig klein.
    Wentzien: … in der Hand. Es ist ein sehr intimer Moment der Kohl'schen Macht, würde ich sagen. Das muss ihm doch gar nicht gefallen haben, dass Sie das mitgekriegt haben, oder doch?
    Klemm: Das weiß ich nicht.
    "Großen Respekt vor Termin mit Helmut Kohl"
    Wentzien: Haben Sie ihn noch mal gesprochen dann?
    Klemm: Danach, nein. Was ich meistens nicht tue. Das ergibt sich nicht oder es ist mir nicht wichtig. Aber ich habe sehr großen Respekt gehabt vor diesem Termin, ich hatte auch ein bisschen Angst, muss ich sagen, weil ich wusste, dass er - Helmut Kohl - nicht sehr umgänglich mit der Presse ist, und ich habe mir ein kleines Entree verschafft, indem ich ihm zwei Bilder mitgebracht habe, was ich sonst nie tue. Und dann habe ich ihm die überreicht und habe ihm gesagt, ich habe Ihnen den Anfang Ihrer Karriere und den Höhepunkt in Bild mitgebracht. Und das erste war das Misstrauensvotum, wo Helmut Schmidt ihm gratuliert, dass er es gepackt hat, und das zweite war die Wiedervereinigung, das Bild vor dem Reichstag, wie die ganzen Politiker von Lafontaine, Schmidt, Genscher, er mit seiner Frau und Weizsäcker und noch de Maizière drauf. Und das ist einfach ein unglaubliches Bild, weil man in jedem Gesicht die Rührung und diese Freude, also die Mischung sieht, was da passiert ist. Das war auch das, was ich einfangen wollte. Und da hat er gesagt, ja, das ist ja Geschichte - das war natürlich ganz schön! -, wie wollen Sie es haben? - Auf dieses Wort habe ich gewartet.
    Und dann habe ich ihn gebeten, das zu machen wie immer, und er möge doch die Herren bitten, mit den schweren Sesseln etwas näher zu ihm zu rücken an den Schreibtisch, damit das ein bisschen dichter wird, und dann sollten sie mich vergessen. Und so ist das Bild zustande gekommen. Einmal versuchte er zu sagen, jetzt reicht's, und da ich einmal bei Mitterrand darauf eingegangen bin und gleich weggelaufen bin - da war ich noch sehr jung -, habe ich gedacht, das passiert mir nicht noch mal, und habe das einfach überhört und bin da doch die ganze Stunde da dabei gewesen. Aber wenn Sie da rauskommen, aus diesem Zimmer, hatte ich das Gefühl, ich habe geschuftet, Kohlen geschippt oder irgendwas. Weil man so erschöpft ist von dieser Konzentration. Und das ist eben dieses Sich-Zurücknehmen, dass man praktisch nicht sichtbar ist oder anwesend ist.
    Wentzien: Ungeheuer konzentriert auf diesen Moment waren Sie auch, aber nicht verrückt, haben Sie gesagt, bei Andy Warhol. Das Bild ist ganz anders als dieser intime Moment der Macht, der verantworteten Politik, den wir gerade besprochen haben. Ein Bild, das vor dem großen Bild von Tischbein, wo er Goethe zeigt, zu sehen ist.
    Klemm: "Goethe in der Campagna", ja.
    "Ist es Warhol oder nicht?"
    Wentzien: Genau. Und wenn ich mich recht erinnere, Warhol hat die Hände so ein bisschen so unsortiert und unsicher zusammengeknetet, so ein Blouson mehr aus als an, also man weiß nicht, so ein bisschen derangiert. So richtig glücklich sieht er nicht aus und er denkt so - also, das ist so mein Eindruck -, was macht sie da mit mir auf der anderen Seite, was hat sie jetzt gerade vor, er steht aber sehr still und schaut Sie an, und Goethe auf Tischbein schaut raus. Also, es sind zwei Perspektiven.
    Klemm: Das war einer dieser Momente, wo ich glücklich war, dass ich die Kamera dabei hatte, nämlich, ich war mit meinem Mann auf dem Weg ins Museum, ins Städel, um mir wieder Bilder anzugucken, und sah die kleine Gruppe mit Gallwitz, der damals Direktor war vom Städel, stehen und dachte, ist es Warhol oder ist er es nicht? Ich hatte ihn vorher noch nie gesehen. Und fragte Gallwitz so ganz vorsichtig, ist er's und was macht er hier? Ja, also, er guckt sich den Tischbein an, den er ja als Siebdruck öfters, den Kopf, produziert hatte, aber er hatte es nie im Original gesehen, das Bild, sondern immer nur Vorlagen gehabt. Und das wollte er sich jetzt angucken. Und dann bin ich, durfte ich mit. Und es war auch noch ein Kollege da und er hat eigentlich viel mehr agiert als ich und ich habe das nur beobachtet und habe meine Bilder gemacht. Und da kam das zustande.
    Wentzien: Wenn Sie jetzt noch mal die Jahrzehnte passieren lassen und an diese großen Köpfe denken in der Politik, in der Philosophie, in der Kunst, ist Ihnen einer sehr gegenwärtig, vielleicht einer, wo Sie besonders viel Kraft haben aufwenden müssen?
    Zentrale Figur Willy Brandt
    Klemm: Nein, ganz gegenwärtig und für mich eigentlich, die Figur, die auch so meine Zeit begleitet hat, war Willy Brandt. Und das ist ja auch das berühmteste Bild von mir, Brandt, Breschnew, das Treffen, das erste Treffen von einem sowjetischen Generalsekretär in Bonn 1973. Und davor hatte ich Willy Brandt auch schon auf Parteitagen fotografiert und das war damals ganz wunderbar, dass wir Fotografen fast drei Tage dann auch während des ganzen Parteitags relativ nah an den Politikern sein konnten und da unsere Studien treiben konnten und beobachten konnten. Und in drei Tagen passiert natürlich eine Menge, kann man Gesichtsstudien sehen. Und das war dann das erste, sehr interessante Dreifachporträt eigentlich, also, das war Brandt, Schmidt und Wehner auf dem Parteitag, alle drei rauchend, ein bisschen in Qualm und dann etwas im Profil, wo die SPD sozusagen als Macht-, als Dreierriege zusammen war. Und danach kam der Termin in Bonn und ich hatte keine … Ja, ich habe der Zeitung gesagt, ich will dahin, und die waren natürlich sehr dafür, aber ich hatte zu diesem Termin keine Akkreditierung und habe es aber geschafft, da reinzukommen. Zu dem Treffen vor dem Mittagessen mit Willy Brandt. Und ich war damals jung und hatte keine Ahnung, wie das alles so funktioniert und um was man sich da überhaupt kümmern muss und ob man dazukommt oder nicht, und so war ich plötzlich da in diesem Raum mit noch vier Kollegen, ohne Kameraleute, es waren keine Filmleute dabei, und dann wurde da wirklich ernsthaft verhandelt, die Gruppe wurde immer größer. Und das war ein Moment von einer Intensität, das man ganz selten in der Politik noch zu sehen bekommt.
    Barbara Klemm vor einer ihrer berühmtesten Fotografien: Willy Brandt und Leonid Breschnew 1973 in Bonn. "Das war ein Moment von mit hoher Intensität."
    Barbara Klemm vor einer ihrer berühmtesten Fotografien: Willy Brandt und Leonid Breschnew 1973 in Bonn. "Das war ein Moment von mit hoher Intensität." (dpa/picture alliance/Uli Deck)
    Wentzien: Wir müssen es kurz beschreiben, wenn ich darf. Das war 1973, seit 1970 waren Sie bei der "Frankfurter Allgemeinen", also, Sie waren noch relativ frisch, sagen wir mal, so auf der Baustelle.
    Klemm: Im politischen Geschäft, ja.
    Wentzien: Und das war das erste große internationale Bühnenauftreten quasi von Barbara Klemm.
    Klemm: Ja.
    Wentzien: Das Foto ist eines der berühmtesten aus Ihrer politischen Porträtsammlung, würde ich sagen. Willy Brandt sitzt, die rechte Hand am Kinn, in dem Sessel, relativ zurückgelehnt. Und um ihn herum ist so das Leben, aber er sitzt da, als wäre er wie ein Magnet, derjenige, an dem sich alles ausrichtet. Da ist ganz viel Übersetzungswesen auf zwei Beinen, Beschützer, Bewacher, was auch immer, Scheel, Walter dann auch irgendwo, kleine Schalen mit Erdnüssen, auch das ist wunderbar, glaube ich, für diese Zeit damals, und Breschnew natürlich mit der obligatorischen Zigarette. Ein Jahr später ist Brandt zurückgetreten, 1974. Ist das schon so ein bisschen Barbara Klemm mit der Vision, dass das da kommt? Weil, so richtig glücklich oder, sagen wir mal, ausgeruht oder angespannt, positiv angespannt wirkt er auf mich nicht, also als Nachgeborene an der Stelle.
    Mit Willy Brandt im Auto
    Klemm: Man hat das immer interpretiert als die Ostverträge, dass das der Anfang der Ostverhandlungen war, die Öffnung zum Osten. Also, ich habe das sehr positiv gesehen, diese Gruppierung und dieses Gespräch und diese Intensität, etwas zu versuchen in der so festgefahrenen, kalten Zeit damals. Der Kalte Krieg, also, dass da irgendwie vielleicht Bewegung reinkommt. Und dann hat das Bild für mich noch mal eine noch stärkere Bedeutung bekommen nach dem Fall der Mauer, und da hatte ich das enorme Glück, dass ich Willy Brandt an der Mauer fotografiert habe. Ich war selber beim Brandenburger Tor auf der Mauer und er war unten in der Menge, aber so wunderbar zentriert und umringt von jungen Leuten, das ist ein sehr schönes Bild geworden. Und ich bin in der Nacht, ich war am 10. November dahin gefahren, früh morgens geflogen … Den letzten Termin, den ich an dem Tag gemacht habe, war Willy Brandt im Christlichen Hospiz. Mir hat ein Kameramann gesagt, er kommt in den Osten, und ich wusste zufällig auch, wo das Christliche Hospiz war, und ich traf ihn da …
    Wentzien: Albrechtstraße?
    Klemm: In der Albrechtstraße, genau. Traf ihn da und ich war dann am Ende meiner körperlichen Kräfte, also, ich war von morgens acht bis um halb elf nur gelaufen, nur geguckt ohne Wasser, ohne Trinken, einfach nur gearbeitet. Und habe dann gefragt, ob ich nicht mit ihm, also mit der Kolonne zurückfahren kann in den Westen, weil ich nicht mehr mit den DDR-Leuten anstehen wollte an der Grenze, dann noch mal zwei Stunden, das hätte ich nicht mehr gepackt. Und dann saß ich eben, um das kurz zu machen, mit Willy Brandt im Auto, neben seinem Fahrer, und der Stobbe war noch dabei, der ehemalige Bürgermeister. Und mit ihm dann noch mal darüber zu sprechen, dass das eigentlich ein … der Anfang er gelegt hatte mit dem Brandt-Breschnew, also mit der Öffnung nach zum Osten hin, und dass er das noch erleben konnte. Und das war für mich ein ganz berührender Moment gewesen. Und für ihn natürlich auch.
    Wentzien: Gibt es solche politischen Kraftfiguren heutzutage noch?
    Klemm: Ist für mich ein bisschen schwer zu sagen, ich bin jetzt doch schon fast, ja, acht Jahre raus. Aber ich denke, jede Zeit hat so ihre Politiker. Also, ich bin froh, dass ich es nicht mehr machen muss, weil es sehr viel schwerer geworden ist für die jungen Leute …
    Wentzien: Noch eine Frage! Ich lasse Sie an der Stelle leider nicht raus! Stellen Sie sich vor, Frau Klemm, Sie wären jetzt Redaktionsfotografin in der "FAZ" und es biegt der Redakteur, der Innenpolitikchef, die Chefin um die Ecke und sagt, bringen Sie mir innerhalb von Stunden - das muss ja heutzutage immer alles sehr schnell gehen - den entscheidenden Menschen der deutschen Politik in diesem Moment! Wo würden Sie hingehen und wen wie fotografieren?
    "Angela Merkel wäre schwer zu porträtieren"
    Klemm: So waren die Aufträge eigentlich nie bei der Zeitung! Und die Schnelligkeit, finde ich, wir haben ja auch immer versucht, sehr schnell zu sein, aber auch da bin ich glücklich, dass ich es nicht mehr machen muss. Ich habe das gerade noch so geschafft. Ja, ich meine, die Angela Merkel ist natürlich die Figur, die den Laden ziemlich in der Hand hat. Und auf ihre bestimmte Art und Weise, kann ich nur sagen. Und sie wäre sicher nicht ganz leicht zu porträtieren. Ich habe es einmal gemacht, da sieht sie wie ein reizendes Mädchen aus, das war noch, da war sie, glaube ich, Umweltministerin gewesen …
    Wentzien: Kurz vor der … Genau, 2000.
    Klemm: Ja. Und dann habe ich sie in der Wahl nach 2002 fotografiert, als es so aussah, als hätte Stoiber die Wahl gewonnen bei der Bundestagswahl, was ja dann nicht war, und da steht sie neben ihm und seiner Frau und man sieht ihr im Gesicht an, dass sie darüber gar nicht so glücklich wäre, weil für sie natürlich dann erst mal der Zug abgefahren wäre.
    Wentzien: Ich wollte jetzt nicht den Ton der "FAZ" intern erneuern, um Gottes Willen, ich wollte Sie aber an der Stelle locken und sagen, wer aus Ihrer Sicht, weil Sie natürlich das Geschehen weiterhin verfolgen und …
    Klemm: Das ist richtig.
    Wentzien: Wenn Sie es so lange verfolgt haben, können Sie ja auch unterscheiden, Frau Klemm. also, wenn man Willy Brandt sieht, damals und bis jetzt, und immer noch an ihn denkt, wenn man Angela Merkel heute sieht und möglicherweise auch ein anderes Gefüge von Politik, was hat sich, wenn Sie das betrachten, auch den Ton betrachten, was hat sich verändert im politischen Geschehen, auch in dem, wie Politik begriffen wird oder angesehen wird?
    "Willy Brandt ist seinen Weg stringent gegangen"
    Klemm: Also, ich denke mir, wir hatten alle so das Gefühl bei Willy Brandt, dass er, ja, er verkörpert was Aufrechtes und wo man sich dran halten kann und wo man das Gefühl hat, also, das ist eine gerade Linie, die er verfolgt. Dass er dann so schnell wieder weg war, hat sicher auch manche menschlichen Dinge, ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, zur Folge gehabt oder waren die Folgen davon. Aber ich denke, diese Art von Politik, von einem, zielstrebig etwas erreichen zu wollen für die Leute, und das war für uns das, was uns an Willy Brandt so gefallen hat. Und wenn man seine Biografie kennt und wie man ihn behandelt hat am Anfang, da kann ich nur sagen, wie unglaublich stringent er doch seinen Weg gegangen ist. Und das hat mich sehr beeindruckt.
    Wentzien: Und Politik ist heute nicht mehr so auf ein Ziel ausgerichtet, weil ja dieses eine, diese Konfrontation ja auch nicht mehr da ist Gott sei Dank …
    Klemm: Ja, natürlich. Aber heute ist es Europa und es ist alles noch komplizierter geworden, das muss man ja auch sehen. Es ist ja nicht nur die Bundesrepublik, die sehen muss, wie man mit irgendwelchen Euros und den Problemen fertig wird, sondern das betrifft dann ganz Europa. Und da hat natürlich die Merkel auch eine sehr komplizierte Stelle. Und irgendwie hat sie es ja ganz gut bis jetzt so hingekriegt.
    "Entweder ich habe es so gekriegt, wie ich es gerne wollte, oder es ist verloren gegangen."
    Der Blick durch den Sucher, der Finger am Auslöser. Aus dem Alltag der Fotografin Barbara Klemm.
    Die Fotografin Barbara Klemm im Deutschlandfunk-Studio.
    Die Fotografin Barbara Klemm im Deutschlandfunk-Studio. (Deutschlandradio - Bettina Straub )
    Wentzien: Sie waren immer ja mit schreibenden Kollegen unterwegs. War das auch mal so, dass Barbara Klemm was anderes - alle beide haben sich vorbereitet, die Fotografin ebenso wie der Redakteur oder der Korrespondent. War das auch mal so, dass man an einem Gegenstand dran war, an einem Land, an einem Menschen, und unterschiedlicher Meinung war, sodass es da eine Text-Bild-Schere gab? Das stelle ich mir sehr schwer vor, weil, wir Journalisten sind ja sehr individuelle Schaffer, haben immer recht sowieso. Also, war es da auch manchmal so, dass Sie was ganz anderes gesehen haben in des Wortes Bedeutung als der oder die Kollegin, die dann den Text dazu geschrieben hat?
    Klemm: Für mich war das … Wir hatten meistens bei den Auslandsaufträgen ein oder zwei oder drei aktuelle Themen, weswegen wir in dieses Land gereist sind oder ich den Korrespondenten aufgesucht habe, um da zu fotografieren, das war das Eine. Und wenn wir dann so drei Wochen vielleicht für drei oder vier Länder hatten, rumgereist sind, habe ich immer versucht, Bilder zu machen für Artikel, die noch gar nicht geschrieben waren, weil ich ja nicht bei einer Illustrierten gearbeitet habe, wo man dann eine Geschichte zusammen erarbeitet, wie Sie es jetzt gesagt haben. Das ist bei uns anders gewesen. Sondern ich habe für mein Archiv gesammelt und möglichst viele unterschiedliche Themen versucht, in den Griff zu kriegen. Also Soziales, Wirtschaftliches, politische Themen, um das Land zu erfassen. Und davon hat dann die Zeitung und ich sozusagen immer gezehrt.
    Also, wenn dann ein Artikel erscheinen sollte, hat man mich gefragt, haben Sie was dazu. Und dann habe ich nachgeguckt, entweder waren schon Positive da, die ich dann gezeigt habe, oder ich habe in meinen Kontakten nachgesehen, ob ich was finde. Und so haben wir dann die Artikel bebildert. Und für mich - und auch das war die Großzügigkeit dieser Zeitung - war die Möglichkeit, etwas zu zeigen, was nicht unbedingt genau das widerspiegelt, was im Artikel steht, sondern einen Anreiz gibt, den Artikel zu lesen, also was Eigenständiges drin ist und neugierig macht, weil der Leser ja viel schneller gucken kann, als er den Artikel liest. Und wenn das funktionierte, dann war ich immer ganz glücklich.
    Wentzien: Sie können jetzt alles wegschieben, vor allen Dingen auch mit Blick auf die neuen Techniken - da müssen wir natürlich auch noch mal drüber sprechen: Haben Sie jemals, Frau Klemm, Situationen inszeniert, haben Sie jemals etwas angerichtet? Also, das gibt es ja, dass man etwas so postiert, wie man es haben möchte.
    Klemm: Das habe ich eigentlich nur bei Porträts gemacht, und zwar da aber auch sehr dezent. Ich war immer glücklich und fand es wunderbar, wenn ich die Möglichkeit hatte, zu der Person, die ich porträtierte, nach Hause zu gehen, weil ich das Gefühl habe, das, was sie umgibt, hat auch was mit dem Charakter und mit der Person zu tun, die ich fotografiere. Und da habe ich dann schon manchmal gefragt, gibt es noch ein anderes Zimmer oder könnte ich noch mal gucken, oder versuchte, mit dem Licht zu arbeiten, was ich vorfand. Da ich ja nie Blitzlicht oder irgendwas dabei hatte, auch keine Lampen, musste man dann eben mit dem natürlichen Licht versuchen zu gucken, dass es gut ausgeleuchtet ist. Bei politischen Ereignissen oder auf der Straße nie. Das war mir, ist mir ganz fremd. Also, entweder ich habe es so gekriegt, wie ich es gerne wollte, oder es ist verloren gegangen. Aber zu sagen, könnten Sie nicht noch mal schnell da rüber, das war nicht so meine Sache, gar nicht.
    Wentzien: Und andersherum mussten Sie Ihre Kamera auch manchmal verstecken. Sie waren in Ländern, die jetzt offen zu bereisen sind, aber die damals längstens, als Sie dort unterwegs waren, nicht offen waren, also nicht so, wie wir es heute verstehen.
    Klemm: Klar. Ich war sehr früh, ich war 1970 in Polen und bin dann, also, mit dem Redakteur, mit Bernhard Heimrich an die Oder-Neiße-Grenze gefahren, um zu zeigen, um was diese Ostverträge gingen, die Polen-Verträge, als der Außenminister Scheel in Warschau verhandelt hat. Und da bin ich auch zu einem Abendessen, wo keine Presse zugelassen war, wo ich einfach meine Kamera in die Tasche gesteckt habe und dann durch das Bristol, durch die Halle durch bin und eine offene Tür sah und dann Männer im schwarzen Anzug, und schnurstracks da rein, ohne rechts und links zu gucken, und da stand der Außenminister Scheel und hat gesagt, na, was machen Sie denn hier. Da habe ich gesagt, ich möchte ein bisschen fotografieren.
    Mit Bildern mehr erreicht als die Parteien
    Wentzien: Der kannte Sie?
    Klemm: Da hat der gesagt, da bleib! Er kannte mich auch und er kannte mich auch wegen der NPD-Schläger, die ich fotografiert habe im Cantate-Saal, und da hatte ihm der Herbert Carrée aus Frankfurt von der FDP bei einem Wahlkampf gesagt, dass die Bilder von mir wären. Und da hat er mir erzählt, ich hätte mehr erreicht als alle Parteien.
    Wentzien: Das müssen wir kurz erklären!
    Klemm: Dass die nicht in den Bundestag gekommen sind.
    Wentzien: Genau. Also, Walter Scheel kannte Barbara Klemm auch, und vor allem, weil Barbara Klemm in einer Szene einer Schlägerei Saaltruppen von der NPD fotografiert hat.
    Klemm: Nach einer Schlägerei.
    Wentzien: Nach einer Schlägerei. Und die sahen dann eben so aus, wie diese Saaltruppen so aussahen. Und Walter Scheel hat damals dann zu Ihnen gesagt, Sie haben das gemacht und Sie haben praktisch für die Demokratie und die Wehrbereitschaft dieser Demokratie mit diesem Bild sehr viel mehr getan als mancher …
    Klemm: … als die Parteien konnten. Aber das war eben, weil das durch die europäische Presse gegangen ist. Es ist nachgedruckt worden und das hat der Partei, der NPD dermaßen geschadet und hat das in einer Rede gesagt.
    Wentzien: Sie sind eine Politfotografin, Frau Klemm!
    "Im Endeffekt können Sie mit Bildern nicht Politik betreiben"
    Klemm: Ich will was sagen, das war das einzige Bild, wo ich wirklich mit einem Bild etwas erreichen konnte. Und das war wichtig, das war sehr wichtig. Aber sonst, habe ich den Eindruck, kann man leider, wenn man an all diese entsetzlichen Bilder denkt, die im Krieg gemacht wurden … Nie hat es aufgehört! Es geht immer alles weiter. Man erreicht sehr wenig. Man berührt vielleicht manche Menschen und bringt sie auch noch immer wieder zum Nachdenken, aber im Endeffekt können Sie damit in dem Sinne nicht Politik betreiben.
    "Und dann kommt dazu, dass das Schwarz-Weiße in der Zeitung eine Homogenität mit dem Text ergibt."
    Die Demokratin der Fotografie und ihr Plädoyer für das unsterbliche Schwarz-Weiß-Bild.
    Wentzien: Große Köpfe der Politik, der Kunst und kleine Leute - und zwar sehr positiv gemeint - waren und sind Ihre Motive. Sie waren unterwegs in Bolivien, Südafrika, Indien, Polen, viele Länder …
    Klemm: Russland sehr oft.
    Wentzien: Wie stelle ich mir das vor? Gab es da immer - das haben Sie ja schon kurz angedeutet - einen konkreten Auftrag der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" - in einem mitteleuropäisch-anständigen Ton artikuliert - oder war es so, dass Barbara Klemm sagte, jetzt lasst mir mal, gebt mir mal Zeit, ich habe in Polen Kontakte, ich möchte da mal hinfahren? Also, waren Sie auch der Seismograf, der so ein bisschen lenken konnte?
    Klemm: Ich habe versucht, manche Dinge anzuregen, die mich interessiert haben, und dann wurde besprochen, ob das geht oder nicht, und sehr oft ist es genehmigt worden, ganz selten nicht. Aber ich hatte nie in dem Sinn - also, dann habe ich dann von den Korrespondenten profitiert, die die Kontakte hatten und die es dann ermöglicht haben, dass man Politiker fotografieren konnte oder bei politischen Ereignissen dabei sein konnte. Und das andere war eben einfach, die Situation des Landes zu zeigen, der Menschen zu zeigen, die in den Ländern leben, wie schwer sie es haben. Also, zum Beispiel in Polen 1970 habe ich gedacht, bei denen ist gerade der Krieg zu Ende gegangen. Und dass etwas, was … Wir haben den Krieg verloren, haben ihn angezettelt, haben ihn verloren, und uns ging es schon wieder relativ gut. Und da haben Sie das Gefühl gehabt, die kommen überhaupt nicht auf die Beine! Und das sind Dinge, die waren mir wichtig, hier zu zeigen, dass die Menschen hier sehen, es gibt ganz viel, viel kompliziertere und schlechtere Situationen als bei uns im Land.
    Dasselbe war in Indien die Situation, dass die Leute auf der Straße, richtig, wirklich nur auf der Straße leben ohne ein Dach überm Kopf. Das sind alles Sachen, die mir immer aber auch schwergefallen sind zu fotografieren, weil das in die Intimsphäre geht. Und da musste ich mich immer überwinden. Und das ist heute noch so geblieben. Die Menschen wissen nicht, für was man es macht. Und ich habe dann das immer versucht, sehr schnell zu machen, einmal drauf zu drücken und weiterzugehen. Und habe ein Lächeln versucht, irgendwie Kontakt aufzunehmen, was immer natürlich fragwürdig ist, weil, ich konnte die Sprache nicht, aber man musste doch zumindest über die Augen irgendwie einen Zugang zu demjenigen machen oder finden, den man fotografiert. Und das ist eine enorm anstrengende Arbeit, weil das immer natürlich auch einen bedrückt und man da irgendwie mit fertig werden muss.
    "Ich bin eigentlich sehr ängstlich"
    Wentzien: Sie haben Bilder gemacht in Bolivien, das sind, ja, lebensfrohe Bilder von den Menschen, die dort leben. Dann, wenn man weiter schaut in der Klemm'schen Historiografie, da ist dann die Zeitgenossin, die Aufnahmen hat von Flüchtlingen aus Tschetschenien, die in Inguschetien gelandet sind mit leeren Gesichtern, ganz traurigen, ärmlichen, hängenden Schultern, verloren in dieser Welt. Also, das ist eine so breite Palette, dass man … Ja, dass es einen auch ein bisschen zerreißt. Bei welchen Bildern war dann für Sie auch der Ansporn sehr groß oder die Überwindung so groß, da jetzt draufzuhalten, um der Welt das mitzuteilen, aber genau zu wissen in dem Moment, man bricht eigentlich hinter eine intime Schwelle dieser Menschen und, ja, willentlich, um es eben zu zeigen?
    Klemm: Also, das ist … Ich wollte auch nicht nach Tschetschenien. Ich bin eigentlich sehr ängstlich und möchte nicht in solche Krisengebiete. Es war manchmal aufregend genug, durch reine Zufälle, die sich dann ergaben, dass man da in einer kleinen Gefahr vielleicht war. Aber in Inguschetien hat die Bevölkerung die Hälfte ihrer eigenen Anzahl von Bevölkerung aufgenommen als Flüchtlinge, das Nachbarland. Und die hausten dann zum Teil eben in Kuhställen, wurden dann als Wohnungen umgebaut, also, nicht umgebaut, sondern einfach benutzt. Und da war ich zusammen mit einer Korrespondentin, mit Elfie Siegl, die sehr gut Russisch konnte, und da ist es natürlich dann sehr hilfreich, wenn jemand dabei ist und der mit den Leuten spricht. Und dann stehe ich sozusagen etwas daneben oder beobachte andere Dinge. Und dann wird auch klar, für wen man das macht und dass man ihre Situation zeigen will, wie sie leben müssen. Und dadurch ist es dann nicht ganz so schwer. Es ist schwerer, wenn Sie gar nicht verbal mit den Leuten Kontakt aufnehmen können. Dann ist für mich das unangenehmer.
    Wentzien: Vier Jahrzehnte "Frankfurter Allgemeine Zeitung", unzählige Preise und Auszeichnungen und Ehrungen! Ich habe mal ein paar Titel aufgeschrieben und Sie suchen sich einen aus! Bitte! Demokratin der Fotografie, das war, glaube ich, Durs Grünbein; Chronistin der Bundesrepublik, fotografische Erzählerin. Einen bitte, Frau Klemm!
    Klemm: Ich denke, der erste von Durs Grünbein ist schon mir vielleicht am nächsten.
    Wentzien: Als die "FAZ" umstellte, und zwar auf farbige Pressebilder, haben Sie gesagt, dann werde ich die Letzte sein. Warum war für Sie Schwarz-Weiß immer das Medium, was Sie haben wollten und stärker als bunt?
    Klemm: Ja, weil, in der Reportagefotografie sind Sie abhängig von dem, was Sie sehen oder was Ihnen vorgeführt wird. Und Sie können nicht Einfluss nehmen. Und das kann sehr bunt werden und es ist dann nicht in dem Sinn Farbe. Es gibt wunderbare Farbbilder, aber für mich die Vorstellung, diese Sachen … Es hat oft den Eindruck von einer Schönverpackung, und wenn man dann genauer hinguckt, ist der Inhalt nicht so spannend. Also, das ist ein bisschen ein Bluff für mich, wenn es nicht wirklich eben sehr gute Fotografie ist. Und dann kommt dazu, dass das Schwarz-Weiße in der Zeitung eine Homogenität mit dem Text ergibt. Der Text ist schwarz-weiß und eine Zeitung möchte gelesen werden. Und da ist der Text sozusagen nur die Anregung, dass da nicht so nur lauter Schrift auf der Seite ist, sondern dass man mal was sieht und angeregt wird, den Artikel zu lesen. Und das war für mich das Optimum. Und Sie können viel schneller und viel besser die Ordnung des Bildes sehen, also, der Inhalt, der ist viel komprimierter in Schwarz-Weiß.
    "Ich bin sehr altmodisch"
    Wentzien: Digital ist möglich, Digitalkameras heutzutage. Wäre das was für Sie?
    Klemm: Nein, ist es nicht. Ich bin da sehr altmodisch. Ich mache gerne meine Vergrößerungen in meiner Dunkelkammer, habe das jetzt auch für die Ausstellung wieder gemacht, ich habe ein paar Hundert Vergrößerungen hergestellt, finde das wunderbar. Ich habe das Gefühl oder habe auch festgestellt für mich, es ist der zweite Weg zu einem guten Bild, indem man die Tonwerte richtig legt, dass das Bild eine Kraft kriegt. Und das könnten Sie natürlich am Computer, könnten Sie da auch mixen und machen, aber es ist nicht mehr meins geworden.
    Wentzien: Sie haben zum Thema Tempo - wir haben darüber gesprochen - und zum Thema Schnelligkeit einmal gesagt, Bilder auch mal einen Tag später in der Zeitung zu haben, ist gar nicht so schlimm, es ist ein bisschen der Wahnsinn dieser gegenwärtigen Zeit, zu glauben, es müsste alles auf der Stelle geschehen, ich verstehe, dass der Druck existiert, ob es die bessere Art ist, eine Zeitung herzustellen, das ist eine andere Frage. Dabei bleiben Sie?
    Klemm: Ja, dabei bleibe ich.
    Wentzien: Also, man kann auch mal entschleunigt …
    Klemm: Klar, man kann auch etwas entschleunigen. Und für uns war damals natürlich die wunderbare Möglichkeit, wenn wir nicht ganz aktuell bei einem großen Ereignis sein konnten, dass dieses Thema noch mal in der Tiefdruck-Beilage aufgearbeitet wurde von entweder einem Schreiber, der ein externer Schreiber, oder von einem aus dem Haus, wo ein Substrat hergestellt wurde, ein großer Artikel über dieses Thema. Und dann konnten wir mit diesen Bildern dann noch mal in dieser Beilage erscheinen. Und das war natürlich dann auch etwas, was sehr registriert wurde bei den Lesern.
    Wentzien: Wäre das auch, Barbara Klemm, ein Ratschlag, eine Empfehlung an die junge Generation der nachwachsenden Fotografen und Fotografinnen, entschleunigt, macht mal langsam, macht mal ein bisschen ruhiger?
    Klemm: Macht mal nicht zu viel! Ich glaube, die Menge ist das, was so verführt. Und wo man zu oft draufdrückt, statt sich zu konzentrieren, Dinge zu beobachten und dann auszulösen wie mit einer analogen Kamera. Das kann man auch mit einer digitalen machen. Es ist einfach die Verführung da, so draufzudrücken, weil man nicht mehr die Arbeit hat, in der Dunkelkammer den Film zu entwickeln. Dann überlegen Sie sich schon, ob Sie noch einen zweiten da reinhängen oder einen dritten und vierten, sondern man konzentriert sich auf das Ereignis. Und meistens kommt man damit besser ans Ziel.
    "Wenn ich es so nebenher mache, fehlt dem etwas"
    Wentzien: Sie haben sich damals vorgenommen, als Sie bei der FAZ offiziell aufgehört haben nach vier Jahrzehnten, Sie möchten endlich reisen ohne Druck, die Kamera aber immer dabei haben, so wie Sie heute auch die Kamera dabei haben, und im Urlaub würden Sie jetzt nur knipsen. Kann man, Barbara Klemm, kann man den Sinn, den Augensinn, Ihren magischen Sinn ausknipsen, kann man das jetzt so zur Seite tun? Oder ist man nicht immer mit seiner eigenen Kamera unterwegs?
    Klemm: Natürlich sehe ich immer mal Sachen in der Stadt oder so, wenn ich unterwegs bin, wo ich denke, da könnte man, das wäre ganz interessant zu fotografieren. Aber dann müssen Sie dran bleiben! Dann müssen Sie sozusagen gucken, dass Sie es dann so in den Griff kriegen, dass es wirklich ein gutes Bild wird. Wenn ich es so nebenher mache, fehlt dem etwas. Und deswegen lasse ich das inzwischen so, nicht immer, aber oft. Und bei Landschaften ist es anders, also, die läuft nicht weg, da kann man warten, bis die Sonne kommt oder bis die Wolken weggezogen sind oder bis sie da sind. Das ist ein ganz anderes Arbeiten. Und ich glaube, das geht manchen älteren Fotografen so, dass sie sich dann ein bisschen mehr der Landschaft widmen. Und das habe ich auch jetzt getan und ich habe einen wunderbaren Auftrag gehabt für die Altana-Stiftung, für Aquarelle, die Goethe gemalt hat, gezeichnet hat, die Plätze noch mal aufzusuchen und da meine Bilder zu machen, also auch meine Sicht. Das sollte natürlich nicht nur ein Abfotografieren sein. Und das hat mir große Freude bereitet!
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