Freitag, 19. April 2024

Archiv

Francis Fukuyama
"Identität"

Der US-amerikanische Politologe Francis Fukuyama sucht nach den Ursachen für die Krise der freiheitlichen Demokratie. Einen Schüsselbegriff stellt für ihn die Identität dar, die er mit individueller Würde in Verbindung bringt.

Von Jochen Trum | 04.02.2019
    Hintergrundbild: Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Yoshihiro Francis Fukuyama. Vordergrund: Buchcover
    Francis Fukuyama versucht, die globalen Krisenphänomene unserer Zeit zu erklären und auf einige Grundbegriffe zurückzuführen (picture alliance / dpa / Lynn Bo Bo und Hoffmann und Campe Verlag)
    Francis Fukuyama gehört sicherlich zu den am meisten gelesenen Politikwissenschaftlern. Ein Grund dafür dürfte sein, dass er ein Gespür für Themen hat, seine Thesen gut zu verdichten weiß und – ganz Intellektueller angelsächsischer Prägung – klar, verständlich und anschaulich schreibt. . Er knüpft dabei, wie er selbst schreibt, an seinen Bestseller vom "Ende der Geschichte" an. Anerkennung, Würde, Identität sind zentrale Begriffe, auf die er nun wieder zurückgreift.
    Was liegt also den politischen Umwälzungen der jüngeren Vergangenheit zugrunde, gleich, ob es sich um den grassierenden Nationalismus, den Brexit, die Wahl Trumps, das Erstarken von Autokraten in Osteuropa, der Türkei oder den Philippinen handelt?
    Der Wunsch nach Anerkennung
    Fukuyama beginnt seine Analyse mit dem Individuum. Unter Verweis auf Platons Seelenlehre spricht er von Thymos als dem Teil der Seele, der nach Anerkennung verlangt. Aus diesem archimedischen Punkt sozusagen entfaltet er unter Bezug auf Hegel den Kampf um Anerkennung als die Triebfeder jedweder historischen Entwicklung. Hinzu tritt, mit dem Aufkommen der Moderne, die Identität.
    "Die Fundamente der Identität wurden durch die Wahrnehmung gelegt, dass eine Trennung zwischen dem Inneren und dem Äußeren des Menschen besteht. Menschen gelangten zu der Überzeugung, dass sich in ihnen eine wahre oder authentische Identität verbirgt, die von der Rolle abweicht, welche die Gesellschaft ihnen zuweist."
    Würde, also der Wert, der dem Menschen als Mensch zukommt, und die Anerkennung derselben, sind untrennbar miteinander verbunden. In der Identität werden beide Seiten politisch wirksam, entweder als Identität des Einzelnen im Verhältnis zur Gesellschaft, oder als Identität von kleinen oder größeren Gruppen, bis hin zu Nationen. Die Französische Revolution markiert für Fukuyama in dieser Hinsicht eine wichtige Weggabelung. Das eine Lager habe die Anerkennung der Würde von Individuen verlangt, das anderen die von Kollektiven. So ruht die moderne Demokratie nach Fukuyama im Wesentlichen auf dem Identitätsbegriff.
    "Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren die meisten Elemente des heutigen Identitätsbegriffs vorhanden: die Unterscheidung zwischen dem inneren und dem äußeren Selbst, die höhere Einschätzung des inneren Seins gegenüber bestehenden Gesellschaftsformen, die Einsicht, dass die Würde des inneren Selbst von seiner moralischen Freiheit abhängt, die Auffassung, dass alle Menschen jene moralische Freiheit teilen und die Forderung, das freie innere Selbst anzuerkennen."
    Zu starke kollektive Identität führt zu Nationalismus
    Doch die Geschichte der Identität wäre schnell erzählt, gäbe es nicht auch ihre problematische Seite. Eine Überbetonung der Identität des Einzelnen kann die gesellschaftliche Kohäsion beeinträchtigen, zu Egoismus und Narzissmus führen. Eine zu starke Akzentuierung der kollektiven Identität in unseren Tagen vor allem Phänomene wie Nationalismus und Islamismus erklären.
    "Nationalismus und Islamismus – das heißt der politische Islam – können als zwei Seiten derselben Medaille betrachtet werden. Beide geben einer verborgenen oder unterdrückten Gruppenidentität Ausdruck, die nach öffentlicher Anerkennung strebt. Und beide treten unter ähnlichen Umständen hervor, nämlich, wenn wirtschaftliche Modernisierung und rascher sozialer Wandel ältere Formen der Gemeinschaft untergraben und sie durch eine verwirrende Vielfalt anderer Zusammenschlüsse ersetzen."
    Das Tragen eines Hidschabs kann deswegen nach Fukuyama vor allem als ein Identitätsnachweis betrachtet werden.
    Besonders lesenswert sind seine Ausführungen zur jüngeren politischen Entwicklung in den USA. Mit dem Aufkommen der Bürgerrechtsbewegung begann der Aufstieg von Gruppen-Identitäten.
    "Bis in die sechziger Jahre hinein waren Sorgen um die Identität überwiegend denen vorbehalten gewesen, die ihr individuelles Potenzial verwirklichen wollten. Im Zuge des Aufstiegs der sozialen Bewegungen verknüpften viele Menschen nun ihre eigenen Vorhaben und Ziele mit der Würde ihrer Gruppe. (…) So wurde das geboren, was wir heute als Identitätspolitik bezeichnen."
    Die frühe Bürgerrechtsbewegung verlangte nach Gleichbehandlung von Schwarzen durch Weiße. Spätere Vertreter postulierten die eigenständige schwarze Identität, die anerkannt werden müsse. Der Kampf um Gruppen-Identität ging so weit, dass die eine Gruppe der anderen schlichtweg die Fähigkeit absprach, sich überhaupt in ihre Lage versetzen zu können.
    Der Blick aufs große Ganze
    Das Ergebnis der Identitätspolitik ist bekannt: Weil sich vor allem die politische Linke in den USA auf immer kleinere ethnische oder religiöse Gruppen kaprizierte und die gesellschaftliche Mehrheit dabei aus dem Auge verlor, sitzt heute als Reaktion darauf ein weißer Populist im Oval Office.
    Wenn nationale Identitäten zersplittern, sei Gefahr in Vollzug. Belege sieht Fukuyama vor allem im Nahen Osten, wo er schwache nationale Identitäten als wesentlichen Grund für politische Instabilität ausmacht. Die Nation bleibt für ihn der maßgebliche politische Akteur, für den die globale Migration die größte Herausforderung der Gegenwart ist. Für die deutschen Leser besonders interessant dürften in diesem Zusammenhang seine Ausführungen zur Leitkultur-Debatte sein.
    "Vor rund 20 Jahren schlug der deutsche Professor syrischer Herkunft Bassam Tibi vor, eine Leitkultur zur Basis für die deutsche nationale Identität zu machen. Er definierte Leitkultur als Glauben an Gleichheit und demokratische Werte, womit er sich auf die liberalen Ideen der Aufklärung stützte. Allerdings wurde Tibis Vorschlag von der Linken angegriffen, weil er diese Werte als überlegen gegenüber anderen kulturellen Konzepten darstellen würde. Dadurch kam die deutsche Linke unabsichtlich Islamisten und Rechten entgegen, die an der ethnischen Identität festhielten. Dabei benötigt Deutschland genau so etwas wie Tibis Leitkultur: einen Normenwandel, der Deutschen türkischer Abstammung gestatten würde, sich als Deutsche zu bezeichnen."
    Fukuyama greift in seinem Buch implizit oder explizit auf Gedanken zurück, die schon von anderen Theoretikern entwickelt wurden. Man mag ihn deshalb mit einer gewissen Berechtigung einen Eklektiker nennen, aber ihm kommt zweifellos das Verdienst zu, viele lose Enden in seinem Denken gekonnt zusammen zu bringen. Und wird die Demokratie am Ende dem Ansturm der Identitätspolitik standhalten? Das Ende dieser Geschichte bleibt vorerst offen.
    Francis Fukuyama: "Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet",
    Hoffmann und Campe, 237 Seiten, 22,00 Euro.