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Francis Poulenc - "Œvres lyriques"

Am Mikrofon Frank Kämpfer.

Frank Kämpfer | 18.04.1999
    Das klassische Lied-Genre streifen wir heute nur bedingt, vielmehr gilt die Aufmerksamkeit Gesangswerken verschiedener Art. Allesamt stammen sie aus der Feder eines Komponisten, dessen Geburtstag sich Anfang Januar dieses Jahres zum 100sten Male jährte. * Musikbeispiel: F. Poulenc - "Les Mamelles de Tirésias" Aparte Harmonik, lustvoll changierende Sprache, absurde Szenerie. Geist und Gestus verweisen aufs Terrain der Persiflage und in der Tat scheint Francis Poulencs Komische Oper Les Mamelles de Tirésias näher dem buffonesken Jacques Offenbach als den spröden Protagonisten der Moderne. Die parodistische Komposition aus dem Jahre 1944 geht zurück auf ein surrealistisches Spiel von Guillaume Apollinaire und ironisiert die Aktivitäten der Presse zur Beseitigung des nationalen Notstands, der wiederum aus alarmierend niedrigen Geburtsratenzahlen im Frankreich des 1. Weltkriegs herrührt. Im Zentrum steht ein Geschlechtertausch, an dessen Anfang die Titelfigur Thérèse ihre Brüste ablegt, um sich aus dem Patriarchat zu befreien. In der vorliegenden Aufnahme aus dem Pariser Theater des Champs-Elysées vom September 1953 sang jene Partie der Thérèse, die zum Tirésias wird, niemand anderes als jene berühmte Denise Duval, für die Poulenc fünf Jahre später und in gänzlich anderer kompositorischer Sprache den folgenden, beinahe feministischen Einakter schrieb: * Musikbeispiel: F. Poulenc - "La Voix humaine" Die menschliche Stimme in Francis Poulencs dramatischer Szene gehört der Frau - der Mann, der Empfänger ihrer Schwüre, Ängste, Illusionen bleibt stumm, ist nicht komponiert. Der rezitativische Monolog, dessen Tempo und Intensität permanent springt, steht in Korrespondenz lediglich mit dem Orchester, dessen Part, streng gebaut, sensibelst, ja psychogrammhaft reagiert. La Voix humaine nach Jean Cocteau, hier 1959 mit Denise Duval und dem Orchestre du Théatre National de l’Opéra Comique unter George Pretre in der Uraufführungsbesetzung, offeriert einen gänzlich anderen Poulenc: nicht den der Komödie, vielmehr den gestrengen Dramatiker. Eine dritte, Anfang der 90er Jahre produzierte Aufnahme zeigt den so vielgesichtigen, ungern sich festgelegt wissenden Franzosen in der Nähe der Liturgie. Und zwar in Gestalt der kleinen kältestrotzenden Kantate Un Soir de neige für Chor a capella auf Texte von Paul Eluard. * Musikbeispiel: F. Poulenc - "Un soir de neige" Insgesamt 14 Gesangswerke verschiedener Couleur und Dimension birgt jene Fünfer-Box mit Francis Poulencs Oeuvres lyriques, die Ende vergangenen Jahres bei EMI Classics erschienen und im Paket mit drei anderen Boxen die Gesamtedition seines kompositorischen Schaffens darstellt. Bis auf die dreiaktige große Oper Gespräche der Carmeliterinnen und die auch auf deutschen Bühnen zuweilen gespielte Menschliche Stimme bietet sie viele weithin kaum bekannte Arbeiten an, die das Poulenc-Bild beträchtlich korrigieren. Keinesfalls erscheint der Schüler Ricardo Vines’ und Charles Koechlins reduziert auf die kurze Ära der Six, jener lockeren Gruppe um Jean Cocteau, die sich Anfang der 20er Jahre antiromantisch und vor allem antiwagnerisch positionierte. Vielmehr wird ein Entwicklungsweg deutlich, und noch mehr die stilistische Vielseitigkeit: unüberhörbar sind die Fähigkeit zum Theater, parallel dazu die wachsende Religiosität; Poulencs Vokalwerk ist poetisches Zeugnis politisch schwieriger Zeit und die großen der französischen Poesie haben Anteil daran.

    Keineswegs liegen lauter Neueinspielungen vor - dank der langen Beziehungen der EMI zum Komponisten birgt die Box eine Vielzahl historischer Aufnahmen, die der Komponist selbst sanktioniert hat. Historisch selbstredend ist auch die folgende Aufnahme, die 1965, zwei Jahre nach Poulencs Tod zustande kam: Die histoire vom kleinen Elefanten Babar entstand 1960 - als Suite für Sprecher und Klavier nach einem Kinderbuch. Das Stück wurde bald orchestriert von Jean Francais, George Pretre leitet die Einspielung mit dem Orchestre de la Societé des Concerts du Conservatoire. Der Sprecher ist Peter Ustinov. * Musikbeispiel: F. Poulenc - "L’histoire de Babar" Ein Ausschnitt aus L’Histoire de Babar le petit élèphant, in einer Orchester-Fassung von Jean Francais. Aufgenommen 1965 in Paris, mit Peter Ustinov und dem Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire unter George Pretre. Auch dieses insgesamt knapp halbstündige Werk findet sich unter der Rubrik Francis Poulenc - Gesangswerke. Erschienen im Fünfer-Karton beim Label EMI CLASSICS im Rahmen einer Gesamtedition zum 100sten Geburtstag des Komponisten im Januar 99. Das war die Neue Platte - vorgestellt heute von Frank Kämpfer. Zum Abschluß hier zuletzt noch das älteste Tondokument der Box: Es stammt vom Januar 1941, aufgenommen im Pariser Studio Albert singt Yvonne Printemps einen Poulenc’schen Walzer zu Les chemins de l’amour, einem seinerzeit gerade uraufgeführten Stück von Jean Anouilh. * Musikbeispiel: F. Poulenc - "Les chemins de l’amour"