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Francis Wheen: Karl Marx

Über Karl Marx wurde und wird weit mehr geredet als über René Descartes. Ob dahinter allerdings eine solidere Kenntnis des Werkes steht, darf bezweifelt werden, schließlich wird dem Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus auch die Schuld an jedweder sich als Marxismus bezeichnenden Ideologie und ihren praktischen politischen Folgen zugerechnet - von den sowjetischen Gulags bis zu antisemitischen Propagandaprozessen im realen Sozialismus. Gerne weichen Biographen, die sich der geistigen Arbeit der Aneignung und des Urteils nicht unterziehen mögen, wir hörten es gerade, auf Anekdoten aus dem Alltagsleben aus. Wozu noch Mehrwert und Warenfetisch studieren, wozu die materialistische Erkenntnistheorie begreifen lernen, wenn Marx, der große Analytiker der politischen Ökonomie, doch unfähig war, seine Familie zu ernähren, wenn doch der Apologet der Befreiung des Proletariats seine Haushälterin geschwängert hat? Auch über Karl Marx ist nun eine neue Biographie erschienen, verfasst vom britischen Journalisten Francis Wheen. Ob es ihm besser gelungen ist, Werk und Person in eine sinnvolle Verbindung zu bringen, mit dieser Frage hat sich für uns Hans Martin Lohmann beschäftigt.

Hans Martin Lohmann | 30.07.2001
    In einer seiner besten Erzählungen, die den Titel Das unbekannte Meisterwerk trägt, schildert Balzac einen Maler, der zehn Jahre lang an einem Bild arbeitet, feilt und retuschiert, solange, bis sein vermeintliches Meisterwerk nur noch von ihm selbst, dem Schöpfer, als solches identifiziert zu werden vermag. Als er es schließlich zwei Freunden vorführt, erblicken diese - ein Nichts, d.h. eine formlose Masse von Strichen, Farben und Übermalungen. Im Moment der Enthüllung seines Werkes wird der Meister seines Wahns gewahr. Er vernichtet es und stirbt noch in derselben Nacht.

    Francis Wheen, der jüngste Biograph von Karl Marx, rückt dessen unbekanntes Meisterwerk, Das Kapital, in die Nähe der Balzac'schen Erzählung, um damit anzudeuten, welch schwieriges Entstehungs- wie Rezeptionsschicksal Marxens Chef d'oeuvre beschieden war. Marx verbrauchte mehr als 15 Jahre seines Lebens, die er vorwiegend im Lesesaal des British Museum absaß, bis der erste Band des Kapital schließlich erscheinen konnte. Sein Autor wartete auf das fällige Echo im Großen und Ganzen vergebens, wie sich zeigen sollte. Lang ist die Liste der Namen jener mehr oder weniger bedeutenden Zeitgenossen und Nachgeborenen, die sich damit brüsteten oder kleinlaut gestanden, von Marxens Buch nicht mehr als ein paar Seiten gelesen und verstanden zu haben. Fast alle Welt war und ist sich in dem Urteil einig, dass Das Kapital unleserlich sei - und deshalb eben ein unbekanntes Meisterwerk wie das des Balzac'schen Malers.

    Zu den unbestreitbaren Vorzügen von Wheens Marx-Biographie (die eher für das englischsprachige Publikum geschrieben ist, aber dem deutschen deswegen nicht schadet) gehört der Versuch, die im Kapital summierte Kritik der politischen Ökonomie nicht primär nach ihrer inhaltlichen Seite zu durchforschen und dem Leser nahe zu bringen, vielmehr nach der literarischen Tradition zu fragen, welcher sich Marxens Buch verdankt. Meines Wissens ist Wheen nach Edmund Wilson, der seine Beobachtung schon vor Jahrzehnten vortrug, der erste, der auf die satirische Qualität des Textes hinweist.

    Wheen zufolge ist das Marxsche Hauptwerk also weniger eine wissenschaftliche Abhandlung als vielmehr eine Ansammlung ironischer Kommentare, komischer Verdichtungen und satirischer Bloßstellungen eines Gegenstands, der so verrückt oder in Wheens Worten so "abgedreht" ist, dass man ihm nur mit ausgefallenen literarischen Mitteln beizukommen vermag:

    Die Absurditäten, die im ?Kapital' zu finden sind, ... reflektieren den Wahnsinn des Gegenstands, nicht des Autors.

    So enthält etwa der von Marx nie geschriebene vierte Band des Kapital, der unter dem Titel Theorien über den Mehrwert postum erschien, Passagen, in welchen Marx augenzwinkernd darlegt, wie vorteilhaft sich doch das Verbrechen auf die allgemeine Arbeitsmarktlage im Kapitalismus auswirkt. Das Verbrechen, so heißt es dort, produziere

    die ganze Polizei und Kriminaljustiz, Schergen, Richter, Henker, Geschworene usw.; und alle diese verschiedenen Gewerbezweige, die ebenso viele Kategorien der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit bilden, entwickeln verschiedene Fähigkeiten des menschlichen Geistes, schaffen neue Bedürfnisse und neue Weisen ihrer Befriedigung. Die Tortur allein hat zu den sinnreichsten mechanischen Erfindungen Anlass gegeben und in der Produktion ihrer Werkzeuge eine Masse ehrsamer Handwerksleute beschäftigt.

    Liest man Marx' unbekanntes Meisterwerk als literarisches Pamphlet, so kommt man seinem Gehalt womöglich eher auf die Spur, als wenn man es wissenschaftlich zu entziffern sucht.

    Marx, seit den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts von den preußischen Behörden als Aufrührer und Kommunist gesucht, verbrachte rund die Hälfte seines Lebens im Londoner Exil, und dieser Phase widmet Wheen denn auch den Hauptteil seiner flüssig und gut lesbar geschriebenen Biographie. In diesem Zusammenhang kommt er mehrfach auf den auch von Marx beklagten Umstand zu sprechen, dass England, das Mutterland des modernen Industriekapitalismus, zwar eine große und gut organisierte Arbeiterklasse hervorgebracht habe, die alle Voraussetzungen für eine erfolgreiche proletarische Revolution erfülle, dass aber eben dieses England vor dem erwarteten "Kladderadatsch", wie es der Sozialistenführer August Bebel später nannte, zurückscheue. Auf diesen Widerspruch weiß Wheen keine plausible Antwort. Dabei liegt es nahe, sich zu vergegenwärtigen, dass Britannien zu Marxens Zeiten bereits auf eine knapp zweihundertjährige Geschichte einer unblutig und erfolgreich verlaufenen bürgerlichen Revolution zurückblicken konnte, in deren Folge sich ein Geflecht liberaler politischer Institutionen entwickelte, deren Räson nicht zuletzt darin bestand, soziale Gegensätze und politische Interessenkonflikte im Sinne von Ausgleich und Kompromissfindung zu regeln.

    Im übrigen ist es die erklärte Absicht Wheens, hinter den Mythen und Legenden den Menschen Marx sichtbar zu machen, das heißt den Ehemann, Vater dreier Töchter (und eines unehelichen Sohns), den Schriftsteller, Publizisten und geistigen Präzeptor der damaligen sozialistischen Bewegung. Wheen verschweigt weder Marxens Schwächen und Fehler - etwa seinen Hang zu Rechthaberei und Unduldsamkeit gegenüber abweichenden Meinungen oder seine geradezu genialische Unfähigkeit, einem geregelten Broterwerb nachzugehen - noch unterschlägt er seine enzyklopädische Bildung, seinen Lesefleiß, seine hingebungsvolle Liebe zu seiner Familie, speziell zu den drei Töchtern, und seine Wertschätzung gutbürgerlicher Reputation. Marx war, alles in allem, ein ordentlicher Viktorianer, der es sich freilich nicht nehmen ließ, das Schicksal des Proletariats, das er im wesentlichen nur aus Büchern und Parlamentsberichten, nicht aus eigener Anschauung kannte, in gallig-schwarzen Farben darzustellen. So wenig Marx ein Heiliger war, so wenig war er ein Monster. In der Konfrontation mit seinem Rivalen Michail Bakunin, die in der einschlägigen Literatur gewöhnlich eher zu Ungunsten Marxens ausfällt, machte dieser, Wheens Recherchen zufolge, im ganzen eine durchaus passable Figur.

    Wenn der Autor dieser empfehlenswerten Biographie mehrfach betont, viele von Marx' Voraussagen hinsichtlich der Entwicklung des Kapitalismus hätten sich bewahrheitet, z.B. seine Globalisierungsprognose, so kann man dem zwar zustimmen, sollte sich aber gleichwohl hüten, gerade darin Marxens Verdienst zu sehen. Marx lag mit manchen Prognosen richtig, aber mit mindestens ebenso vielen auch falsch. Marx' Brillanz scheint mir zuerst in seiner analytischen Kraft zu liegen, die komplizierten und in sich widersprüchlichen Bewegungstendenzen der kapitalistischen Gesellschaft aufzudecken und diesen Entdeckungen eine kongeniale literarische Gestalt zu verleihen. Marx ist und bleibt ein Klassiker der deutschen Literatur.

    Hans Martin Lohmann besprach die Karl Marx Biographie von Francis Wheen. Sie wurde von Helmut Ettinger übersetzt und ist bei C. Bertelsmann erschienen. Sie hat 511 Seiten und kostet 48 DM.