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François-Henri Désérable: "Ein gewisser Monsieur Piekielny"
Literatur als Erweckungserlebnis

Er beginnt heiter-selbstironisch und bekommt sehr bald eine finstere historische Dimension: Der Roman "Ein gewisser Monsieur Piekielny" ist eine Hommage des jungen französischen Autors François-Henri Désérable an Romain Gary - vor dem Hintergrund der Auslöschung jüdischen Lebens im Baltikum.

Von Dirk Fuhrig | 03.09.2018
    Buchcover: François-Henri Désérable: "Ein gewisser Monsieur Piekielny" Litauen, Vilnius, Blick zum alten Turm vom Gediminas Turm aus
    Ein Roman auf den Spuren des osteuropäischen Judentums (Buchcover: C.H.Beck Verlag, Foto: imago stock&people)
    François-Henri Désérable - so beschreibt es der Autor in der autobiografischen Rahmenhandlung dieses Romans - war auf dem Weg zu einem Eishockeymatch im Baltikum, als er in Vilnius einen Zug verpasste und trotz Regens ziellos durch die Straßen ging:
    "Verblüfft und triefend nass blieb ich stehen und sprach laut diesen Satz: 'In der Großen Pohulanka Nr. 16 in Vilnius lebte eine gewisser Herr Piekielny.'"
    Auslöser für die Erinnerung an dieses Zitat aus einem Buch ist die Gedenktafel, die der Autor an einem Haus wahrnimmt:
    "An der Nummer 18 befand sich an der gelben Fassade eines mit Stuck verzierten Gebäudes, dessen Toreinfahrt zu einem Innenhof führte, eine Plakette. Darauf stand auf Litauisch und Französisch: 'Der französische Schriftsteller und Diplomat Romain Gary lebte von 1917-1923 in diesem Haus, das er in einem Roman "Frühes Versprechen" erwähnt.'"
    Diese zufällige Entdeckung wird für François-Henri Désérable zu einer Art Erweckungserlebnis. Denn dieser Romain Gary - 1914 in Vilnius geboren und 1980 in Paris gestorben - hatte ihm die Hochschulreife gerettet.
    "Ich war siebzehn Jahre alt. Ich verbrachte die meiste Zeit mit Schlittschuhen an den Füßen und einem Hockeyschläger in der Hand auf dem Eis."
    Von fast zwei Dutzend Büchern, die vorzubereiten waren, hatte der faule Schüler ein einziges in die Hand genommen:
    "Die mündliche Abi-Prüfung in Französisch stand bevor. Meine Chance, sie zu bestehen, lag bei eins zu zwanzig. - 'Was können Sie uns über das siebte Kapitel des "Frühen Versprechens" sagen? Sie wissen,' erklärte die Prüferin, 'diese Passage über einen gewissen Monsieur Piekielny in dem Buch von Romain Gary.'"
    Stellvertretend für die Ermordeten in Wilna
    Was so heiter-selbstironisch und süffig als Pennäler-Anekdote beginnt, bekommt sehr bald eine finstere historische Dimension. Herr Piekielny, jüdischen Glaubens, ist der schüchterne, korrekte, "mausgraue" Nachbar in Vilnius, der dem talentierten Kind Romain Gary das Versprechen abnimmt, sollte er einmal ein erfolgreicher Mann werden, die Welt an seine - Piekielnys - Existenz zu erinnern.
    "Gary lässt uns dann wissen, 'die freundliche Maus aus Wilna hat schon längst zusammen mit Millionen anderer Juden ihre winzige Existenz in den Krematoriumsöfen der Nazis beendet.'"
    20 000 Juden lebten vor dem Zweiten Weltkrieg im damaligen Wilna. Romain Garys literarische Figur "Herr Piekielny" steht stellvertretend für die Ermordeten.
    "… doch dass er bei jeder Begegnung mit den Großen dieser Welt sich gewissenhaft an sein Versprechen gehalten habe: 'Von den Podien der UNO zur Botschaft in London, vom Bundeshaus in Bern zum Élysée, vor Charles de Gaulle und vor Wischinski, vor den hohen Würdenträgern und Erbauern ewiger Weltreiche habe ich es nie unterlassen, die Existenz dieses Männchens zu erwähnen, und habe sogar das Vergnügen gehabt, mehrmals auf den weitgespannten Netzen des amerikanischen Fernsehens vor Millionen Zuschauern zu verkünden, dass in der Großen Pohulanka Nr.16 in Wilna ein gewisser Mister Piekielny wohnte. Gott sei seiner Seele gnädig.'"
    Romain Gary war als Roman Kacev, Sohn jüdischer Eltern, in Wilna geboren worden. Seine Mutter wanderte Ende der 20er-Jahre mit ihm nach Frankreich aus. Er machte Karriere in der französischen Armee, kämpfte von England aus gegen die Nationalsozialisten, trat in den diplomatischen Dienst, heiratete die Schauspielern Jean Seberg - und wurde ein bekannter Schriftsteller, mit wichtigen Preisen geehrt, eine mondäne Persönlichkeit im kulturellen Leben Frankreichs. 1980 beging der rätselhafte Mann in Paris Selbstmord.
    Gary - der sich für seinen "französischen" Künstlernamen von Gary Cooper hatte inspirieren lassen - hat seine Biografie stets im Vagen gelassen. François-Henri Désérable hat Garys Herkunft teilweise rekonstruiert:
    "Sein Vater starb 1943 im Wald von Ponar, zehn Kilometer von Wilna entfernt, durch die Hand eines Shoah-Beamten, der den Auftrag hatte, am Rande einer Grube Kugeln in Nacken zu schießen, als eifriger Diener dieser Schwadronen, die in der Sprache der Nazis - der von Schiller und Goethe, der 'Lieder' und der neunten Symphonie - für den Namen standen, dessen Widerhall uns unablässig die Kehle aufschürft und das Herz zerreißt: 'Einsatzgruppen'."
    Zwischen Realität und Fiktion
    Der Roman ist äußerst komplex. Die Geschichte der Auslöschung der Juden im Baltikum, der schillernde Schriftsteller Gary und dessen Romanfigur Piekielny, dazu nebenbei humoristische Einblicke in den französischen Literaturbetrieb. - Désérable nimmt den Leser mit auf seine Recherchen zwischen Vilnius, Paris, Nord- und Südamerika, die Stationen der diplomatischen Karriere seines literarischen Vorbilds Romain Gary.
    François-Henri Désérable erzählt mit leichter Hand, oft im Plauderton - und erörtert auf den überschaubaren 256 Seiten seines Romans auch noch das komplizierte Verhältnis zwischen Realität und Fiktion, zwischen Literatur und Leben, festgemacht an der Frage, ob Herr Piekniely "nur" eine literarische Erfindung ist.
    "Letztendlich bedeutete es mir wenig zu wissen, ob er tatsächlich gelebt hatte, ob er aus der wohlbekannten Hand Garys hervorgegangen war oder aus etwas anderem, aus dem Bauch einer Frau, die niemand mehr kennt: Wenn er denn nur aus Tinte und Papier war, bedeutete das den unzweifelhaften, glänzenden Triumph der Literatur durch die Fiktion."
    Désérables Sprache ist so vielschichtig wie die Konstruktion seines Romans. Manche Sätze rattern lakonisch dahin, sanfte Ironie und laue Effekthascherei wechseln ab. Manches wirkt federleicht, dann wieder angestrengt auf Pointe geschrieben. Kitschig wird’s mitunter, wenn’s um Sex geht, pathetisch, wenn das Wesen der Schriftstellerei verhandelt wird. Auch wie er seine eigene Entwicklung vom Eishockeyspieler und Jurastudenten zum erfolgreichen Literaten mit Ambitionen auf den Prix Goncourt beschreibt, macht mitunter schmunzeln. Der "Kunstwille" ist in den Zeilen ab und an spürbar. Aber vielleicht trägt gerade der noch nicht vollständig ausgereifte Stil dazu bei, dass man diesen klugen, anregenden und berührenden Roman mit großem Genuss liest.
    Der 1987 in der Picardie geborene Autor zählt in Frankreich zu den literarischen Nachwuchsstars. Dass er auch Profi-Sportler ist, hat seiner medialen Popularität nicht geschadet. Die Jury des Prix Goncourt - deren heutiger Präsident Bernard Pivot im Roman übrigens auch eine Rolle spielt - hat den "Gewissen Monsieur Piekniely" im vergangen Herbst völlig zu Recht bis in die Auswahl für Frankreichs bedeutendsten Literaturpreis gebracht.
    François-Henri Désérable: "Ein gewisser Monsieur Piekielny"
    aus dem Französischen von Sabine Herting
    C.H. Beck Verlag, München. 254 Seiten, 22 Euro.