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Frankreich
Blick auf die Revolutionsdekade

Seit Langem hat es keine umfassende Darstellung der Ereignisse der Französischen Revolution mehr gegeben. Lediglich einige interessante Detailstudien sind veröffentlicht worden. Bis Johannes Willms, der frühere Feuilleton-Chef der "Süddeutschen Zeitung" und langjährige Frankreich-Korrespondent mit seinem Buch "Tugend und Terror" den Fokus auf die gesamte Revolutionsdekade gerichtet hat.

Von Peter Kapern | 10.11.2014
    Das Wetter ist nicht gut, es gießt in Strömen an diesem 14. Juli 1790. Nicht ohne Schadenfreude macht unter den Zuschauern das Wort von den "Tränen der Aristokratie" die Runde. Aber was heißt hier: Zuschauer. Teilnehmer sind sie, die 400.000 auf dem Champ de Mars in Paris! Mitwirkende an einem Tableau vivant, wie Johannes Willms in seiner spektakulären Geschichte der Französischen Revolution schreibt. An einem "lebenden Bild", das die Nation zeigt, die sich in der Revolution gefunden hat. Vereint in Freiheit und Gleichheit: der König, die Abgeordneten der Nationalversammlung, die Nationalgardisten, Priester, Mönche, Kaufleute, Handwerker, Tagelöhner, Männer, Frauen, Kinder. Versammelt um den Altar des Vaterlands am ersten Jahrestag des Sturms auf die Bastille. 300 Trommler, 1.200 Blasinstrumente und der Donner aus 40 Kanonen setzen den Rahmen der Fète de la Féderation. Ein Tag, wie gemacht, um in die Geschichtsbücher als Schlusspunkt der Französischen Revolution einzugehen.
    "Hinter diesem Ideal stand freilich die Illusion, dass Nationalversammlung und König einträchtig daran arbeiteten, die Anliegen der Nation im Einklang mit der Verfassung zu verwirklichen. Sie übte einen mächtigen Zauber aus", der aber kurze Zeit später zerstob.
    Neun weitere Jahre lang scheiterten alle Versuche, die Dynamik der Revolution zu brechen und ihre terroristischen Exzesse zu meiden oder wenigstens zu mildern. Weshalb auf dem Auszug der Menschheit aus der politischen Unmündigkeit bis zum heutigen Tag ein dunkler Schatten lastet. Johannes Willms ist der erfolgreiche Napoleon-Biograf, der seiner 2005 erschienenen Lebensbeschreibung des Korsen jetzt das Prequel folgen lässt. Die Darstellung der Ereignisse jener Dekade vor dem Griff Bonapartes nach der Macht. Großartig strukturiert und auf der Grundlage erstklassiger Quellenarbeit. Ein Buch, ebenso lesenswert wie die Napoleon-Biografie. Willms holt weit aus, beschreibt ein verrottetes Ancien Regime, das seit Jahrzehnten erstarrt und vom Staatsbankrott bedroht ist. Die Notwendigkeit, die Pleite abzuwenden, öffnet dem aufstrebenden Bürgertum die Tür zur Macht. Ironie der Geschichte: Zehn Jahre später, am Ende der Revolutionsdekade, steht das Land noch immer vor dem Bankrott.
    Dennoch: Gerade einmal 72 Stunden braucht das revolutionäre Parlament im Frühjahr 1789, um, förmlich berauscht vom eigenen Mut, den Feudalismus fortzufegen: die Ausrufung der Nationalversammlung, der Ballhausschwur und der Griff nach der alleinigen Hoheit in Steuerfragen:
    "Das war der Beginn der Revolution. Er wurde nicht auf der Straße, sondern im Saal und mit dem Heroismus von Mehrheitsbeschlüssen ins Werk gesetzt. Allein deshalb nahm sich dieser Anfang nicht so spektakulär aus, wie der Sturm auf die Bastille wenige Wochen später."
    Will man Willms Darstellung eine Schwäche attestieren, dann ist es diese: Seine Erzählung findet ganz überwiegend - wie der Beginn der Revolution - im Saal statt. Dort, wo die Nationalversammlung tagt, das Kabinett berät, die politischen Klubs debattieren. Sitzungsprotokolle und Redemanuskripte sind seine wichtigsten Quellen. Nur selten nimmt er die Leser mit auf die Straßen von Paris, wo die Familien der Kleinverdiener nach dem Sturz Ludwig XVI. genauso hungern wie davor. Wo dutzende neuer Zeitungen ihre oft gifttriefenden Parolen verbreiten und damit die Hysterie schüren. Wo sich die braven Bürger immer häufiger fragen, ob sie ohne Revolution nicht besser dran wären. Willms liefert eine präzise Analyse der Machtkämpfe der wichtigsten Protagonisten und ihrer Unterstützer, eine saubere Skizze der politischen Prozesse - aber eben kein Tableau vivant der Revolutionszeit.
    Drei Jahre nach der mit Enthusiasmus gefeierten Fète de la Fédération steht das Blut knöcheltief in den Straßen von Paris. Und nicht nur dort. In Lyon wird ein klassenkämpferischer Zerstörungsbefehl umgesetzt: Die Häuser der Reichen werden dem Erdboden gleichgemacht. Die Stadt verliert ihren Namen: Sie heißt jetzt "Ville Affranchie" - die befreite Stadt. Für die Massenexekutionen vermeintlicher Konterrevolutionäre werden neue Hinrichtungstechniken entwickelt. Nicht nur die vermeintlich menschenwürdige Guillotine. Kanonen werden mit Eisenschrott geladen und auf Menschen abgefeuert, die am Rande von Massengräbern zusammengetrieben worden sind. In Nantes werden Hunderte an Händen und Füßen gefesselt in die Loire geworfen und ertränkt. Und aus Savenay in der aufständischen Vendée meldet General Westermann nach Paris:
    "Es gibt keine Vendée mehr. Sie ist unter den Säbeln der Freiheit gestorben mitsamt ihrer Frauen und Kinder ... (Ich) habe die Kinder von den Pferdehufen zermalmen lassen, die Frauen massakriert, damit sie wenigstens keine neuen Briganten mehr austragen können."
    Das klingt wie der Prototyp aller späteren genozidalen Vollzugsmeldungen. So wie die lapidaren, summarischen Todesurteile der Revolutionsgerichte in Paris an alle folgenden politischen Schauprozesse erinnern:
    "Wegen Standeszugehörigkeit und Prinzipien Gegner der Freiheit!"
    Maximilien Francois Isidore Robespierre, ein Anwalt aus Arras, führte das Terrorregime zu seiner perversen Vollendung. Unter Berufung auf die revolutionäre Tugend:
    "Ohne die Tugend ist der Terror verderblich und ohne Terror ist die Tugend ohnmächtig. Der Terror ist nichts anderes als die rasche, strenge und unbeirrbare Justiz. Der Terror ist damit ein Ausfluss der Tugend."
    War Robespierres Terrorherrschaft notwendig, um die äußeren Feinde der Revolution, das Bündnis der europäischen Monarchien, zurückzuschlagen? Um die royalistischen Feinde im Inneren niederzuringen? Der Streit um die Deutung des "Grand Terreur" prägt bis heute die Geschichtsschreibung. Viele Historiker lösen das Massenmorden im großen Ganzen auf - wie Zucker im Kaffee: Es ist dann nur eine Fußnote im großen Buch der Revolution. Willms Position: Der Terror hat geholfen, die französische Ökonomie auf den Modus der Kriegswirtschaft umzustellen, also tatsächlich zur Sicherung der Revolution beigetragen. Das Motiv des Terrors aber war von Anfang an das ungehemmte Machtstreben seiner Erfinder. Zumal die blutigste Phase erst einsetzte, als die französischen Revolutionsarmeen längst auf dem Vormarsch gegen die Koalition der europäischen Monarchien waren und der Widerstand im Inland weitgehend erstickt war. Also: kein Freispruch für Robespierre und seine Mitstreiter.
    War sie dennoch ein Erfolg, die Französische Revolution? Es sei noch zu früh, das zu beantworten, hat der chinesische Ministerpräsident Zhou Enlai vor fast 50 Jahren gesagt. Und nun, fünf Jahrzehnte später? Die Französische Revolution sei, so Johannes Willms:
    "Im Bewusstsein der Nachgeborenen (...) zu einem Versprechen (avanciert), das trotz aller Irrwege (...) die Hoffnungen der Menschheit beflügelt."
    Johannes Willms: Tugend und Terror. Geschichte der Französischen Revolution. C.H. Beck, 831 Seisten, 29,95 Euro, ISBN-13: 978-3-406-66936-1