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Frankreich
Der Faktor X - die Rolle der Nichtwähler

Präsidentschaftswahlen in Frankreich verzeichneten bislang immer eine hohe Wahlbeteiligung. Doch in diesem Jahr ist alles anders. Wahlforscher gehen für die erste Runde von etwa 30 Prozent Wahlenthaltung aus. Das könnte dem rechtsextremen Front National nützen.

Von Barbara Kostolnik | 10.04.2017
    3 junge Leute spazieren unterhalb einer riesigen Plakatwand mit den Kandidaten der französischen Präsidentschaftswahlen am 10.04.2017, in Straßburg.
    Wahlwerbung in Straßburg: 66 Prozent der Wählerinnen und Wähler wissen heute noch nicht, für wen sie stimmen werden. (AFP/Frederick Florin)
    Egal, ob im südfranzösischen Toulouse: "Tous des menteurs",
    im nordfranzösischen Roubaix: "Tous des menteurs",
    oder sonst wo in Frankreich. Überall das gleiche Lied:
    "Tous des menteurs, des manipulateurs, des profiteurs".
    Die Franzosen scheinen die Nase voll zu haben von den "menteurs", also den Lügnern, den Manipulateuren, den Profiteuren. Die Verachtung für die politische Kaste schlägt sich in einer Resignation nieder, die für französische Verhältnisse äußerst ungewöhnlich ist:
    "Früher hat man das nicht so direkt gehört, dass die Leute sagen, es ändert doch sowieso nichts",
    beschreibt Sylvie die Situation. Die Aktivistin spricht auf den Straßen von Roubaix Leute an und versucht, sie zu bewegen, zur Wahl zu gehen - mit mäßigem Erfolg. Die Präsidentschaft von François Hollande und die Affären der Präsidentschafts-Kandidaten haben den Franzosen zugesetzt. Angeekelt schauen sie nach Paris und wenden sich ab.
    Orientierungslos vor dem ersten Wahlgang
    "Es gab immer Leute, die nicht zur Wahl gegangen sind, aber in diesem Ausmaß ist das neu: Wir gehen für die erste Runde von etwa 30 Prozent Wahlenthaltung aus",
    erklärt Serge Galam. Der Physiker von der renommierten Elite-Hochschule Sciences Po berechnet Wahl-Modelle. Er hat unter anderem die Dynamik vorhergesagt, die zum Sieg von Donald Trump in den USA geführt hat. Auch bei Marine Le Pen sieht Galam eine gewisse Dynamik in der Wählerschaft, die der Kandidatin des rechtsextremen Front National zum Sieg verhelfen könnte.
    "Die Leute sind müde, haben sich an den Front National gewöhnt, also die Mobilisierung gegen den FN ist viel schwächer als noch 2002, als ihr Vater angetreten war."
    Eine massive Enthaltung der Franzosen, sagt Galam, könnte dazu führen, dass die rechtsextreme Kandidatin bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich für eine Überraschung sorgt - das entscheidende Kriterium sei nämlich die Mobilisierung im zweiten Wahlgang:
    "Marine Le Pen könnte zum Beispiel gewinnen, selbst wenn insgesamt nur 42 Prozent der Wähler die Absicht geäußert haben für sie zu stimmen - wenn 90 Prozent der Wähler, die für sie stimmen wollen, das auch tun, und nur 65 Prozent der Wähler, die für ihren Kontrahenten stimmen wollen, das tun.
    Das heißt, diese 42 Prozent Wahlabsicht für Le Pen werden am Wahltag zu mehr als 50 Prozent der Stimmen. Und dann hat man die Überraschung."
    Galam nennt das "abstention différentiée", differenzierte Enthaltung. Entscheidend dafür wiederum ist die Haltung der Wählerinnen und Wähler zur Kandidatin des Front National und zu deren Kontrahenten in der Stichwahl.
    Gleich zwei Abneigungen
    "Es gibt dieses neue Phänomen: dass Leute, die nicht Marine Le Pen wählen wollen, gleichzeitig eine tiefe Abneigung gegen ihren Kontrahenten empfinden. Einige Linke gegenüber Fillon, einige Konservative gegenüber Macron. Meine Hypothese ist nun, dass sich der Nicht-FN-Wähler sagt: Ich wähle vielleicht widerwillig den Kontrahenten von Marine Le Pen, aber wenn ich eine gute Ausrede finde, um nicht wählen zu müssen, wähle ich nicht."
    Dazu kommt eine grassierende Unsicherheit: 66 Prozent der Wähler und Wählerinnen wissen heute noch nicht, für wen sie stimmen werden.
    Der Physiker Galam hat die Wahrscheinlichkeit, dass Marine Le Pen Präsidentin wird, nach den ganzen Skandalen im Wahlkampf von "unmöglich" über "unwahrscheinlich" auf "nicht unmöglich" hochgestuft.
    Seriöser Wissenschaftler, der er ist, will Serge Galam nicht sagen, wer die Wahl in Frankreich gewinnt. Eines aber ist sicher:
    "Es ist gut möglich, dass Marine Le Pen gewinnt. Ich sage nicht, dass sie gewählt wird, aber ich nenne die Bedingungen, unter denen sie gewinnt, selbst wenn weniger als 50 Prozent der Franzosen die Absicht haben, sie zu wählen."