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Frankreich
Terrorismus als existenzielle Herausforderung

Der französische Sozialwissenschaftler Gilles Kepel seziert in seinem neuen Buch "Terror in Frankreich" die Terrorszene "made en France" und stellt der politischen und wirtschaftlichen Elite seines Landes ein verheerendes Zeugnis aus. Er ist überzeugt: Sie hat es nicht geschafft, angemessen auf genau diese Transformationsprozesse in der Gesellschaft zu reagieren.

Von Jürgen König | 31.10.2016
    Nach den Attentaten vom November 2015 hängen Bilder und Fahnen auf dem Platz der Republik in Paris.
    Nach den Attentaten vom November 2015 hängen Bilder und Fahnen auf dem Platz der Republik in Paris. (dpa / picture alliance / Malte Christians)
    Sehr detailreich, manchmal zu detailreich, analysiert der französische Sozialwissenschaftler Gilles Kepel in seinem neuen Buch "Terror in Frankreich", wie es - vor dem Hintergrund der Entwicklung des internationalen Dschihadismus - zu eben jener Gewalt kommen konnte. Weltpolitik spielt hinein, etwa der sowjetische Einmarsch in Afghanistan 1979, der mit den widerständigen Mudschaheddin zum ersten Mal Dschihadisten auf den Plan rief, unterstützt von den USA und den sunnitischen Golfstaaten, die glaubten, damit die Machtentfaltung des schiitischen Iran begrenzen zu können. Jahrzehnte französischer Innen- und Sozialpolitik gehören dazu, in denen nicht wirklich versucht wurde, muslimische Einwandererfamilien am gesellschaftlichen Leben Frankreichs teilhaben zu lassen. Vorstadtghettos waren die Folge. Viele Jugendliche fühlen sich bis heute ausgegrenzt, perspektivlos, chancenlos – womit sie für dschihadistische Anwerbungen anfällig werden. Die meisten Terroranschläge, die Frankreich in den letzten Jahren erschütterten, wurden von Franzosen verübt, eine Terrorszene "made en France" hat sich herausgebildet, die ihrerseits wieder den Anschluss zum weltweiten Dschihad sucht. Eine außerordentlich gefährliche Situation, wie Gilles Kepel in einem Interview mit dem Sender France Inter sagte:
    "Ich fürchte, unsere politische Klasse hat das Ausmaß der Herausforderung noch nicht verstanden. Es handelt sich hier nicht darum, ein paar einzelne Maßnahmen zu ergreifen. Das ist eine existentielle Herausforderung. Und ich fürchte, das wird noch nicht wirklich berücksichtigt."
    Junge Bewegung mit alten Feindbildern
    In der globalen Strategie des Dschihadismus macht Gilles Kepel drei Phasen aus. In den späten 80er-Jahren wollten die internationalen Dschihadisten den Erfolg der afghanischen Mudschaheddin wiederholen: vor allem in Algerien und Ägypten, deren Militärregierungen sie als "Apostaten", als vom Islam Abgefallene ansahen. Die Bürgerkriege in beiden Ländern forderten mehr als 100.000 Tote – am Ende waren die Dschihadisten gescheitert: die muslimische Bevölkerung hatte sich ihrem bewaffneten Kampf nicht angeschlossen, zu groß die Angst, so die Vermutung der islamistischen Vordenker, den Gegner im eigenen Land zu bekämpfen. Also wurde – und damit begann die zweite Phase – Ende der 90er-Jahre ein "ferner Feind" gesucht und gefunden: Amerika, das "Haupt des Unglaubens". Doch auch Osama Bin Laden und sein Terrornetzwerk Al Qaida erreichten die Mobilisierung der muslimischen Massen nicht. Um diese endlich auf den Weg zu bringen, veröffentlichte der syrische Ingenieur Abu Musab al-Suri 2005 im Internet einen "Appell zum weltweiten islamischen Widerstand".
    "Dieser umfangreiche Text erklärt erstmals ausdrücklich Europa zum zentralen Schlachtfeld des globalen Dschihadismus. Der alte Kontinent grenzt an die islamische Welt und Millionen junger muslimischer Europäer sollen als künftige Soldaten für das Kalifat gewonnen werden. Die Verbreitung der salafistischen Lehre, [...] die den völligen Bruch mit den Werten des Westens – Demokratie, Menschenrechte und Gleichheit der Geschlechter – propagiert, hatte das passende ideologische Fundament für den Terrorismus geliefert."
    Den Internetaufruf von 2005 sieht Gilles Kepel als bis heute grundlegend an. Mit ihm beginnt für ihn die dritte Phase des Dschihadismus. Sie basiert auf der Logik der Netzwerke, der Terror verbreitet seine Botschaften über Facebook und Twitter: leicht ist es geworden, neue Kämpfer zu rekrutieren, ohne dass die Geheimdienste es merken – zumal, wie Gilles Kepel meint, "der Staat nicht wirklich die nötige Software" habe. Die Dschihadisten seien ihm "weit voraus", und der Abstand werde "anhaltend größer".
    Verlorenes Vertrauen in staatliche Institutionen
    Parallel zum historischen Abriss untersucht Gilles Kepel exemplarisch die Biografien französischer Attentäter. Die meisten stammten aus zerrütteten Einwandererfamilien, wuchsen in Hochhaussiedlungen auf; psychisch labil, wurden sie früh straffällig, radikalisierten sich im Gefängnis und übers Internet. Der politische Islam, argumentiert Kepel, wurde immer mehr Ausdruck einer Protestbewegung - nach dem Niedergang der Kommunistischen Partei, die früher die Vorstädte geprägt hatte sowie nach der Enttäuschung über die etablierte Politik, die ihre Wahlversprechen, sich um die maroden Vorstädte zu kümmern, nie gehalten hat. Die Jugend verlor das Vertrauen zu staatlichen Institutionen und orientierte sich neu: an Menschen und Organisationen aus dem Umkreis von Moscheen. Netzwerke entstanden, virtuelle Gemeinschaften auf der "Suche nach dem fundamentalistischen Islam": ein ideales Rekrutierungsfeld für die Dschihadisten der Terrormiliz des sogenannten Islamischen Staates. Anstelle der hierarchischen Struktur von Al Qaida setzen sie auf einen: "Dschihadismus der Nähe, ein Netzwerk, das von der Basis und nicht von der Spitze her in die feindlichen Gesellschaften eindringt".
    So konnte sich seit etwa 2005 der Dschihadismus in Frankreich etablieren: von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt. Der politischen und wirtschaftlichen Elite des Landes stellt Gilles Kepel ein verheerendes Zeugnis aus. Noch die Pariser Anschläge vom November 2015 hätten sie "völlig überrascht"; "unfähig" seien die Eliten, "angemessen auf die Transformationsprozesse in der französischen Gesellschaft zu reagieren"; "ignorant" sei die Politik, die "Forschungsergebnisse nicht zur Kenntnis" nähme.
    "Die große Demonstration vom 11. Januar (2015) wurde am Ende zwiespältig bilanziert. Die sich da versammelt hatten, sprachen von der größten Demonstration in der Geschichte Frankreichs und riefen 'Ich bin Charlie!' Aber viele haben eben auch 'Ich bin nicht Charlie!' gesagt und haben auch die Schweigeminute nicht respektiert. Ich glaube, es ist sehr wichtig, die Mittel zu finden, mit denen die Gesamtheit der französischen Gesellschaft gegen diese Art von Bedrohung mobilisiert werden kann. Denn es ist unsere gesamte Gesellschaft, deren Grundlagen zum Ziel gemacht werden. Das muss verstanden und dann auch umgesetzt werden."
    Detailliert beschreibt Kepel auch, wie sich die extreme Rechte mit ihrem "auf Abgrenzung zielenden Nationalismus" in den letzten Jahren neu aufgestellt hat, auch sie in seinen Augen eine Art Protestbewegung. Der Aufstieg des Front National, die erkennbar werdenden "Symptome des moralischen und institutionellen Verfalls Frankreichs", das "Scheitern der Laizität" und die Existenz einer französischen Dschihadistenszene: dies alles zusammen ist für Gilles Kepel eine mehr als beunruhigende Gemengelage – und wer wollte ihm da widersprechen.
    Schade ist, dass Gilles Kepel den komplexen Stoff nicht zur "Großen Erzählung" zusammenfasst; stattdessen bündelt er Einzelaspekte, springt zeitlich oft hin und her, es fällt manchmal schwer, den Überblick zu behalten, Wiederholungen werden unvermeidbar. Inhaltlich aber ist das Buch beeindruckend – und zu empfehlen.
    Gilles Kepel: "Terror in Frankreich. Der neue Dschihad in Europa"
    Kunstmann-Verlag, München 2016, 304 Seiten, 24 Euro.