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Frankreichs Islam-Debatte
Die Laizität muss bleiben, die Liberalität muss gehen

Im Angesicht des islamistischen Terrors wird in Frankreich erregt darüber diskutiert, wie sich das laizistische Prinzip durchsetzen lässt. Zur Debatten stehen neue Verbote von Kopftuch und Schleier, zudem wird die Linke schuldig gesprochen, weil sie zu vieles toleriert habe.

Von Suzanne Krause | 02.11.2020
Rosenkranz und Frankreichfahne in der Hand eines Teilnehmers der Mahnwache
Mahnwache zum Gedenken der Opfer vor der Basilika Notre Dame in Nizza, wo am 29.10.2020 bei einem islamistisch motivierten Messerangriff drei Menschen getötet und mehrere verletzt wurden (imago images / ZUMA Wire)
Eine Podcast-Serie der katholischen Tageszeitung La Croix befasst sich mit dem "Platz der Religionen". Darin kommt auch Marlène Schiappa zu Wort, rechte Hand des Innenministers und zuständig für das Thema "Staatsbürgerschaft". Im - vor den jüngsten Attentaten aufgezeichneten - Interview äußert sich Schiappa zur "laicité".
"Ich bin seit langem davon überzeugt, dass die Laizität nichts ist, das spaltet oder trennt. Ich denke, sie ist genau das Gegenteil: Die Laizität ist der Zement der Staatsbürgerschaft. Das Laizitäts-Prinzip soll zusammenzuführen."
Schreckbild Kommunitarismus
Ein hehrer Wunsch - vor allem angesichts der aktuellen Lage im Land: Die Frage, wie die Laizität durchgesetzt werden kann, sorgt für endlosen Streit. Befeuert wird der auch von Regierungsmitgliedern.
Dass die strikte Neutralität des Staats gegenüber den Religionen eine Säule der Laicité ist, scheint der Pariser Innenminister, dem auch der Kultusbereich untersteht, übersehen zu haben. Gérald Darmanin erklärte, kurz nach der Ermordung des Geschichtslehrers Samuel Paty, im TV-Infokanal BFM die Stände mit Halal-Produkten zum Problem:
"Es hat mich schon immer schockiert, zu sehen, dass in großen Supermärkten ein Regal mit kulinarischen Spezialitäten einer community steht und daneben die einer anderen. Ich meine: So fängt es doch an mit dem Kommunitarismus."
Islamkritik in Frankreich
Sie heißt Mila, ist 16 und Schülerin. Sie wurde im Netz als "dreckige Lesbe" beleidigt. Mila bezeichnete daraufhin den Islam als "Religion des Hasses". Nach Morddrohungen bekam sie Polizeischutz. Politiker schalteten sich ein. Frankreich fragt sich nun: Wieviel Religionskritik darf sein?
Kommunitarismus meint hier den Rückzug aus der Gesellschaft in die Gemeinschaft der Gleichgesinnten – ein Schreckbild. François Fillon, glückloser konservativer Kandidat im Präsidentschaftswahlkampf 2017, fordert ein Schleier - und Kopftuch-Verbot im öffentlichen Raum. Die Ganzkörperverschleierung ist seit 2010 untersagt. Und schon seit 2004 dürfen Kinder und Jugendliche auf dem Schulgelände nicht mehr sichtbar Merkmale religiöser Zugehörigkeit tragen.
Streit um religiöse Symbole
Fillon ist nun für eine Ausweitung der Verbotszone. So sollen – und das wünscht auch Bildungsminister Blanquer seit langem - verschleierte Mütter nicht mehr als ehrenamtliche Helferinnen an Schulausflügen teilnehmen dürfen. Auch in öffentlichen Einrichtungen mit Publikumsverkehr und an den Universitäten will Fillon keine religiösen Symbole mehr sehen. Ähnliches fordert auch François Baroin, der als potenzieller Kandidat der Konservativen bei der nächsten Präsidentschaftswahl gilt. Marine Le Pen, Chefin des rechtsextremen Rassemblement National, geht bei einer Pressekonferenz nach dem Paty-Attentat noch weiter.
"Die Laizität, Grundpfeiler des zivilen Friedens, muss eingesetzt werden, um den öffentlichen Raum von der maßlosen religiösen Aneignung zu befreien, die ihren Ausdruck unter anderem in Kopftuch und Schleier findet, um nicht-akzeptablen Forderungen vorzubeugen, um kommunitaristischen Auswüchsen etwas entgegenzusetzen."
Und zum öffentlichen Raum zählt für Le Pen auch die Straße. Zudem fordert die rechtsextreme Politikerin Sondergesetze, für den "Krieg gegen den Islamismus".
Kampfbegriff "Islamo-Gauchisme"
Für anhaltenden Wirbel allerdings sorgt Bildungsminister Jean-Michel Blanquer mit einem Interview im Privatradio Europe 1.
"Unsere Gesellschaft war viel zu durchlässig für gewisse Geisteshaltungen."
Auf Bitte der Moderatorin wird Blanquer konkret.
"Es geht um das, was man im allgemeinen 'Islamo-Gauchisme' nennt. Der sorgt für verheerende Schäden, an den Hochschulen, beim Studierenden-Verband UNEF. Bei der linksextremen Partei La France insoumise, wo einige hervorkehren, dass sie diesen Geistes Kind sind."
Blanquer kritisiert die UNEF, den größten Studierenden-Verband, weil dessen Vize-Präsidentin kürzlich zu einer Anhörung im Parlament mit Kopftuch erschienen war. Jean-Luc Melenchon und den Seinen von La France insoumise unterstellt er, sie würden islamistische Umtriebe negieren. Und Dozenten und Forschern kreidet der Bildungsminister deren Arbeiten zum Thema Entkolonialisierung an. Per Communique widersprach die Hochschulrektoren-Konferenz aufs Energischste, vom "Islamo-Gauchisme" unterlaufen zu sein. Letzten Samstag druckte die Tageszeitung Le Monde allerdings einen Text von 100 prominenten Akademikern – pro Blanquer.
Kulturkampf in Frankreich
Führende französische Islamwissenschaftler schlagen Alarm: Radikale Islamisten seien dabei, schleichend ganze Stadtviertel unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie zwängten ihre extrem konservativen Normen der muslimischen Gemeinde auf.
"Der Begriff 'Islamo-Gauchisme' hat eine eigene Geschichte und stand anfangs für gewisse Realitäten."
Jean-Yves Pranchère ist Professor für Politik-Theorie an der Freien Universität Brüssel und beschäftigt sich seit langem mit dem Begriff "Islamo-Gauchisme". Ein Wort mit eher verwirrender Aussage. "Gauchisme" bedeutet Linksextremismus. Doch ob "Islamo" für Islam steht oder für Islamismus, bleibt unklar.
Öffentlich eingebracht wurde die Wortschöpfung 2002, von Politologe Pierre-André Taguieff. Der linke Denker meinte damit, dass Islamisten auch als Befreier gesehen werden könnten. Jean-Yves Pranchère:
"Es gibt linke Splittergruppen, die anti-kapitalistisch, anti-imperialistisch, anti-israelisch sind und die einräumen, dass der Islamismus nicht immer der Hauptfeind ist, sondern dass man auch teils Seite an Seite gegen diktatorische Staaten kämpfen kann, gegen imperialistische Relais, die damals immer amerikanisch waren."
Sehr bald wurde das Wort zum Kampfbegriff in rechtsextremen Kreisen. Als "Islamo-Gauchiste" gilt heute jedermann, dem eine zu laxe Haltung zu Menschenrechtsverletzungen in Namen des Islam vorgeworfen wird. Damit wird auch ein Laizitäts-Konzept kritisiert, das angeblich zu nachsichtig mit dem Kommunitarismus sei, weil kulturelle Eigenheiten geduldet werden. Jeder Bürgermeister, der in der Schulkantine neben Schweinebraten alternativ ein Halal-Menü anbieten lässt, macht sich aus Sicht der Rechten des "Islamo-Gauchisme" verdächtig. Dass nun, nach den Attentaten im Oktober, auch Bildungsminister Blanquer sich, wie viele andere ebenso, des Begriffs bedient, sei, meint Politologe Pranchère, einfach zu erklären.
"Im aktuellen Kontext wird der Begriff ganz klar als Ablenkungsmanöver eingesetzt, als Mittel, um nicht davon zu sprechen, was politisch, sozial, im Erziehungswesen, strukturell schief läuft, wie beim grauenhaften Attentat auf den Geschichtslehrer offensichtlich wurde. Der Begriff dient dazu, Sündenböcke zu bestimmen, er ist derzeit in inflationärer Weise im Umlauf."
Ideologisch statt liberal
Philippe Portier, renommierter Religions-Soziologe und Laizitäts-Experte, sieht die derzeitige Stimmung im Land mit Sorge. Er fürchtet, dass die Liberalität einem ideologischen Laizismus weichen muss.
"Die Laizitäts-Debatten sind viel schärfer, aggressiver als früher. Heute sind die Anhänger einer strikten Auslegung der Laizität sehr zahlreich und haben es geschafft, ihren Einflussbereich auszuweiten. Es ist sehr schwierig geworden, noch Anhänger eines liberalen Kurses zu finden. Ganz so, als sei ein Damm gebrochen."
La Gauche, Frankreichs linkes Parteienspektrum, seit Jahren heillos zersplittert, steht dieser Tage öffentlich am Pranger: Um Frankreichs Muslime nicht zu stigmatisieren, hätte sie Kommunitarismus bis hin zu islamistischen Umtrieben freien Lauf gelassen. Auch wenn der pauschale Vorwurf zu hart ist – die Linke schwankt nun zwischen Selbstzerfleischung und Umdenken. Portier:
"Die Linke wollte immer den Muslimen nahestehen. Heute aber verlangt die öffentliche Meinung, dass die Linken den Muslimen nicht mehr nahe seien. Das erklärt, warum es für sie heute so schwierig ist, einen neuen Diskurs zu entwickeln. Finden tut sie den, indem sie massiv auf eine restriktive Laizitäts-Linie umschwenkt."
Und damit in gewissem Sinne ihr politisches Erbgut verrät: Das Gesetz, mit dem 1905 die strikte Trennung von Staat und Kirche eingeführt wurde, war ein Werk der Linken. Sie setzten auf den Geist des Konsenses – und nicht auf Unnachgiebigkeit. Hinzu kommt heute: Die große Mehrheit der einheimischen Muslime wählt links.
Experte Philippe Portier spricht noch einmal die verschiedenen Laizitäts-Ansätze an.
"Da geht es um sehr unterschiedliche Sichtweisen der Demokratie. Auf der einen Seite eine Demokratie, die Pluralität in all ihren Ausdrucksformen akzeptiert. Und auf der anderen Seite eine Demokratie, die im Rahmen einer gemeinsamen Verstandesnorm wesentlich mehr darauf besteht, Verhalten uniform zu gestalten."
Frankreich stehe derzeit an einem Wendepunkt, meint Portier. Am 9. Dezember, exakt 115 Jahre nachdem die strikte Trennung von Staat und Kirche eingeführt wurde, soll im Pariser Ministerrat ein Gesetzesprojekt zum Kampf gegen den islamistischen Separatismus präsentiert werden. Dessen Arbeitstitel: "Gesetzesprojekt zur Verstärkung der Laizität und der republikanischen Prinzipien."
"Ich hoffe sehr, dass Staatspräsident Macron den restriktiven Elan auszubremsen vermag. Dass er nichts entscheidet, solange die Emotionen so hoch gehen. Aber ich muss eines festhalten: Die Lage ist derzeit überaus heikel für die Verfechter eines liberalen Laizitäts-Modells."