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Frankreichs Juden und die Anschläge von 2015
"Wir werden irgendwie vergessen"

Vor drei Jahren tötete ein Komplize der "Charlie Hebdo"-Mörder vier Menschen in einem koscheren Supermarkt. Damals spürten die Juden in Frankreich Solidarität – viele fühlen sich heute allein gelassen.

Von Barbara Kostolnik | 09.01.2018
    Menschen haben am 12.01.2015 in Paris in der Nähe eines Geschäftes, in dem zuvor ein Mann vier jüdische Geiseln erschossen hat und anschließend von der Polizei getötet worden ist, Kerzen und Blumen niedergelegt.
    Nach der Ermordung von vier Menschen im koscheren Supermarkt: Gedenken und Solidarität mit Juden (dpa / Fredrik von Erichsen)
    Vielleicht ist es Glück, dass sie noch am Leben, ist, mazel tov, wie es so schön heißt. Denn eigentlich wollte Sandrine Sebanne auch an jenem Freitag, dem 11. Januar 2015, wie gewohnt die Wochen-End-Einkäufe tätigen.
    "Ich bin immer nach der Arbeit in diesen Supermarkt gegangen, weil ich dort wohne, an diesem Freitag aber war meine Tochter krank – und ich musste sie zum Kinderarzt bringen. Und während ich beim Arzt bin, läutet mein Handy Sturm, alle haben sich erkundigt, wo ich stecke, meine gesamte Umgebung hat sie riesige Sorgen gemacht, es war ja auch ziemlich schrecklich."
    Solidarität im Zuge der Charlie-Solidarität
    Vier Menschen hat der Attentäter, ein Komplize der "Charlie Hebdo"-Mörder, in jenem Supermarkt erschossen, bevor die Polizei den Laden stürmte und die restlichen Geiseln befreite. Danach gab es im Zuge der überwältigenden Charlie-Solidarität auch ein bisschen jüdische Solidarität – #jesuisjuif –, aber nicht allzu viel.
    "Was wehtat, ist dass, in den Tagen nach den Anschlägen alle über Charlie Hebdo sprachen, man sprach auch über den jüdischen Supermarkt, aber wir wissen genau, dass niemals Millionen von Franzosen auf die Straße gegangen wären, wenn der Anschlag nur dem jüdischen Supermarkt gegolten hätte. Als zum Beispiel Mohamed Merah die jüdische Grundschule von Toulouse angegriffen und kleine Kinder umgebracht hat, hat sich danach niemand solidarisch gezeigt, kein Mensch."
    Alleingelassen. So fühlen sich viele jüdische Franzosen, so fühlt sich auch Sandrine Sebanne. Und sie drängt auf ein härteres Vorgehen gegen jene, die Juden in Frankreich bedrängen, sie am liebsten in Israel oder tot sehen möchten.
    "Der Kampf gegen die Djihadisten, die sich auf unserem Boden herumtreiben, muss absolut unbarmherzig geführt werden, der Kampf gegen die Moscheen, die Hassprediger, die diese antisemitischen Ideen verbreiten lassen, dieser Kampf muss geführt werden, weil: was passiert sonst? Die französische Bevölkerung muss auch ein Bewusstsein dafür bekommen, wer heute der Feind ist und wie man ihn bekämpft. Leider sind wir davon noch weit entfernt."
    Nicht Herumdrucksen
    Die Dinge beim Namen nennen, nicht Herumdrucksen oder Verschleiern, wenn es um offensichtlich antisemitische Straftaten geht. Wie beim Fall Sarah Halimi, der die jüdische Gemeinde stark aufgewühlt hat: Die jüdische Ärztin Sarah Halimi war im April von ihrem muslimischen Nachbarn misshandelt und aus dem Fenster geworfen worden, weil sie Jüdin war. Wie der Täter selbst zugab.
    Die französische Justiz befasste sich mit dem Fall – lehnte aber zunächst ab, die Tat als antisemitisch einzustufen. Und die französische Presse schwieg mehrheitlich dazu – der Mord geschah mitten im Präsidentschaftswahlkampf.
    "Das war die Zeit, in der nicht klar war, ob Marine Le Pen französische Präsidentin werden würde, das lag im Bereich des Möglichen, und wo man sich sagte, die Dinge könnten kippen."
    Die Option Auswandern
    Ist Auswandern eine Option? Vergangenes Jahr haben nach israelischen Angaben etwa 3500 Franzosen jüdischen Glaubens ihren Wohnsitz nach Israel verlegt. Sandrine Sebbane denkt nicht daran:
    "Ich bin Französin, meine Eltern sind Franzosen aus Algerien, wir sind stark mit Frankreich verbunden, und auch wenn einige Juden Frankreich verlassen haben aufgrund der antisemitischen Attentate, ich werde das nicht tun."
    Sie will bleiben und hofft auf die Härte des Staates und auf einen Bewusstseinswandel durch Erziehung. Denn letztlich könne nur das dieses friedliche "Vivre Ensemble", jenes "Miteinander" hervorbringen – das durch die Attentate der Vergangenheit massiv gestört wurde.