Freitag, 29. März 2024

Archiv

Frankreichs Küstenerosion (3/5)
"Genießen Sie Ihre Wohnungen, solange sie stehen"

Manchmal ist Rückzug die beste Verteidigung: Manche von Erosion bedrohten Küstenorte im Südwesten Frankreichs werden sich auf Dauer nicht gegen die Macht des Ozeans halten lassen. Die Küstenzeile von Lacanau nahe Bordeaux zum Beispiel, wo viele Häuser im Wortsinn auf Sand gebaut sind.

Von Bettina Kaps | 22.08.2018
    In Lacanau sind tausend Wohnungen und hundert Geschäfte durch Meeresanstieg und Erosion bedroht. Dieser Deich kann die Stadt nur mittelfristig schützen. Deshalb erwägen die Verantwortlichen einen „strategischen Rückzug“.
    In Lacanau sind viele Bauten durch Erosion bedroht. Dieser Deich wird die Stadt nur mittelfristig schützen, weswegen die Verantwortlichen einen „strategischen Rückzug“ erwägen. (Deutschlandradio / Bettina Kaps)
    Ein Juni-Samstag in Lacanau: Das Rathaus lädt zum jährlichen Bürgerforum. Wie immer steht ein und dasselbe Thema auf dem Programm: die Zukunft der Uferzeile. Ein paar hundert Menschen sind in den Gemeindesaal gekommen.
    "Ein Deich genügt nicht, wir brauchen eine Politik, die jetzt sanft den Rückzug einleitet."
    "Das Wort macht Angst: Umsiedlung"
    "Warum dürfen sich alle, die am Wasser leben, schützen, nur wir nicht?"
    "Das Wort macht Angst: Umsiedlung. Weil die Leute befürchten, dass sie zwangsweise umgesiedelt werden, wie es in Soulac passiert ist."
    "Es geht nicht nur um Lacanau. Frankreich hat ja so viel Küste. Wenn wir nicht eingreifen, werden sich die Holländer schön lustig machen. Die jedenfalls halten Stand."
    Bürgermeister Laurent Peyrondet sorgt für Ruhe und erinnert an die dramatische Situation vom Frühjahr 2014: Eine Serie von Stürmen hatte den Deich zerschmettert, das ökonomische Herz von Lacanau mit Restaurants, Boutiquen und Wohnungen war in Gefahr. Alle Prognosen über die zu erwartende Erosion waren auf einen Schlag hinfällig geworden: Schon 2014 nagte der Atlantik dort, wo ihn die Experten erst 2040 erwartet hatten.
    "Damals habe ich gesagt: Genießen Sie Ihre Wohnungen, solange sie stehen. Die Lage war kritisch. Wir mussten in aller Eile einen neuen Deich bauen, der uns heute noch schützt. Aber dieser Deich kann Lacanau und seine Strandpromenade nicht dauerhaft retten."
    Forschungsprojekt, um die Erosion besser zu begreifen
    Inzwischen hat das Rathaus einen Aktionsplan entwickelt. Kostenpunkt: zwei Millionen Euro. Die Region, der Staat und Europa greifen mit in die Tasche. Im Mittelpunkt steht die Forschung. Die Küste von Lacanau wird vermessen, mit Sonaren abgehorcht und mit Drohnen gefilmt - in der Hoffnung, die komplexen Bewegungen von Sand und Strömungen zu begreifen. Der Bürgermeister hat Geografen, Ingenieure, Meerestechniker und einen Ozeanografen versammelt, die dem Publikum Rede und Antwort stehen.
    In vorderster Reihe sitzt ein stämmiger Mann mit leuchtend blauen Augen und Drei-Tage-Bart. Hervé Cazenave ist beigeordneter Bürgermeister für die Küste und somit auch für die Zukunft der strandnahen Viertel zuständig.
    Nach dem Forum kehrt er im "Kayok" ein. Das Restaurant ist berühmt, weil es zuvorderst auf der Düne steht. Es ist Flut, und die Wellen schlagen an den Deich. Cazenave nippt an einem Minzsirup, guckt den Surfern in der Brandung zu, und erklärt, warum sich Lacanau als "ville pilote" bezeichnet:
    "Als Versuchsstadt wollen wir vorausschauend handeln und konstruktive Vorschläge machen, die auch anderen Städten helfen können."
    Dieser Deich kann die Uferzeile von Lacanau nicht auf Dauer schützen, sagt Hervé Cazenave, beigeordneter Bürgermeister für die Küste. In dem Badeort sind tausend Wohnungen und hundert Geschäfte durch Meeresanstieg und Erosion bedroht.
    "Wir wollen vorausschauend handeln", sagt Hervé Cazenave. Er ist beigeordneter Bürgermeister für die Küste in Lacanau. (Deutschlandradio / Bettina Kaps)
    Weitblickend, sagt er, war beispielsweise die große Studie, die Lacanau im Auftrag des Umweltministeriums erarbeitet hat: Er war selbst Mitglied einer Kommission aus Einwohnern, Geschäftsleuten, Experten und örtlichen Politikern. Gemeinsam haben sie Szenarien entwickelt, wie sich die Stadt mittelfristig gegen die Erosion wappnen kann. Drei von vier Modellen kamen zu dem Schluss, dass die Uferzeile auf Dauer nicht zu retten sei.
    Das Szenario des strategischen Rückzugs
    Die Kommission spielte den so genannten "strategischen Rückzug" durch. Überlegte, wie Lacanau mehr als 1.000 Wohnungen und rund 100 Geschäfte aufkaufen, abreißen und das Ufer an die Natur zurückgeben könnte. Geschätzte Kosten: 300 bis 600 Millionen Euro – Summen also, die Lacanau mit seinen 4.500 Einwohnern unmöglich schultern kann.
    Das radikale Planspiel hat den kleinen Badeort im In- und Ausland bekannt gemacht. Der Staat habe allerdings nie auf die von ihm bestellte Studie reagiert, bedauert Cazenave:
    "Heute ist nichts beschlossen. Niemand hat zu den verschiedenen Hypothesen Stellung bezogen. Bevor die Einwohner eines Tages zwischen Verteidigung und Rückzug wählen können, muss der Staat handeln. Er muss Gesetze erlassen, die es uns überhaupt erst erlauben, tätig zu werden. Er muss entscheiden, wer zur Kasse gebeten wird: Die Betroffenen selbst? Versicherungen? Vielleicht ein spezieller Fonds? Das ganze System muss auf die Beine gestellt werden."
    Trotzdem will das Rathaus jetzt schon Zeichen setzen. Die große Parkzone auf der Meerespromenade und die zentrale Rettungswache sollen beseitigt werden, sagt Cazenave. Dadurch werde Platz gewonnen – möglicherweise für einen neuen, höheren Deich. Oder aber, um das Ufer eines Tages aufzugeben. Der Anfang-50-Jährige war früher selbst Rettungsschwimmer, er hat in der Wache am Strand gearbeitet.
    "Aber bei Hochwasser haben wir jetzt keinen Strand mehr, das Gebäude ist nutzlos geworden. Wir müssen die Rettungsdienste in Zukunft anders organisieren."
    Er leert sein Glas, bricht zur Arbeit auf. Cazenave wartet Swimmingpools, im Sommer hat er Hochbetrieb, im Winter kann er sich dafür umso besser um die Küste kümmern.
    "Langfristig ist der Rückzug viel vernünftiger"
    Ein paar Meter vom "Kayok" entfernt steht Gerard Depeyris in seinem Geschäft und verkauft Surfbretter. Der 60-Jährige war einer der Ersten, die das Wellenreiten in Lacanau unterrichtet haben.
    Gerard Depeyris verkauft Surfbretter in Lacanau. Er plädiert dafür, die Häuser und Geschäfte von der Uferzeile rasch ins Landesinnere zu verlegen. Weil er verhindern will, dass zukünftige Generationen die Fehler der Vergangenheit ausbaden müssen.
    Gerard Depeyris verkauft Surfbretter im vom Meer bedrohten Lacanau. Er plädiert dafür, die Häuser und Geschäfte rasch ins Landesinnere zu verlegen. (Deutschlandradio / Bettina Kaps)
    Auch Depeyris hat sich in der Kommission engagiert und über die Zukunft der Stadt nachgedacht. Obwohl er vom Surftourismus lebt, ist die Umsiedlung für ihn unausweichlich:
    "Wir sehen das Beispiel von Benoit Bartherotte an der Spitze von Cap Ferret. Er hat Millionen in seinen Deich investiert, er kann nicht mehr zurück. Aber so ein Deich muss immer unterhalten werden. Langfristig ist der Plan zum Rückzug viel vernünftiger und nicht unbedingt teurer. Wir müssen genau überlegen, was wir den zukünftigen Generationen hinterlassen wollen."