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Frantz Fanon. Ein Porträt

Simbabwe, Ruanda und Nigeria, Algerien, der Sudan, Somalia: Auch Jahrzehnte, nachdem die Imperialmächte ihre ehemaligen Eroberungen in die Selbständigkeit entließen, gärt es im Süden der Welt. Religiöser Fundamentalismus, ethnischer Fanatismus, heimtückisch wiederbelebter Rassenhass, Zusammenbruch der Staatsgewalt: Wie auf keinem anderem Kontinent ist in Afrika die Gewalt zu Hause. Unter den verschiedensten Vorwänden richten die Bewohner dieses riesigen Erdteils die Waffen gegen einander.

Kersten Knipp | 14.11.2002
    So war es eine andere Zukunft, die sich die Freiheitskämpfer und Revolutions-Theoretiker vorstellten, als sie in den 50er, 60er, 70er Jahren für die Unabhängigkeit ihrer Länder kämpften: charismatische Figuren, die, wie Felix Moumie in Kamerun oder Patrice Lumumba im damaligen Belgisch-Kongo, ihren Kampf mit dem Leben bezahlten - oder, wie Robert Mugabe in Zimbabwe, selbst zu Herrschern von Unrechtsstaaten wurden. Was also lief schief, nachdem die afrikanischen Staaten die Unabhängigkeit erreichten? Wo lagen die politischen Fehler, die zu den Missständen von heute führten? Es lohnt darum, die von der französisch-algerischen Psychiaterin Alice Cherkri verfasste Biographie Frantz Fanons auch im Hinblick auf die Gegenwart zu lesen.

    Der 1925 auf der Karibikinsel Martinique geborene, während der wichtigsten Phase seines Lebens aber in der damals noch zu Frankreich gehörenden Kolonie Algerien tätige Psychiater Fanon galt bereits in den 50er Jahren als eine zentrale Gestalt der afrikanischen Unabhängigkeitsbewegung. Und nicht zuletzt dank der wirkmächtigen Hymnen eines Jean-Paul Sartre wurde er nach seinem frühen Tod 1961 für die mit den Unabhängigkeitsbewegungen der Dritten Welt sympathisierenden europäischen Linken zu einer regelrecht mythischen Figur. Zudem wurde er, wie Cherkri in ihrer gründlich recherchierten Wirkungsgeschichte berichtet, mit seinen beiden bekanntesten Werken, "Schwarze Haut und Weiße Masken" sowie vor allem "Die Verdammten der Erde" zu einer zentralen Bezugsperson der US-amerikanischen Black-Power-Bewegung der späten 60er und frühen 70er Jahre.

    Ob die kolonisierten Völker wirklich "Verdammte" waren, wie es der schmissige Titel suggeriert, sei dahingestellt. Auf jeden Fall zeigt Cherkris anschauliche Porträt Algeriens vor der Unabhängigkeit, welche schreiende Missstände und Ungerechtigkeiten in dem Lande herrschten. So heißt es über die damalige Situation:

    Jeder, der in Algier ankommt, muss es zugeben: Algerien ist nie wirklich französisch gewesen. Vor allem wegen seiner Bevölkerung, denn mehr als neun von zehn Einwohnern sind keine Europäer. Ende der 40er Jahre hat Algerien etwa mehr als zehn Millionen Einwohner. Auf ungefähr eine Million schätzt man die Europäer ... Doch fast neun Millionen Araber nennt man unterschiedslos "die Araber", ob es arabisierte Berber sind oder nicht. Man nennt sie so, gleich welcher Sprache sie angehören, welcher sozialen Schicht und sogar welchen Zugang zur französischen Bildung sie haben, manchmal auf Kosten ihrer doppelten Kultur, weil sie Moslems und französische Nicht-Bürger sind.

    Es ist die gleiche Situation, die Fanon zuvor auch auf Martinique kennen gelernt hat. Die französische Kultur ist alles - der Rest ist nichts. Eben aus dieser Erfahrung stammt auch das Gefühl der Minderwertigkeit, das die kolonisierte Bevölkerung so tief empfindet. So sehr Fanon sich als Psychiater auch für das individuelle Schicksal seiner Patienten interessiert, so sehr bringt er es in seinen Schriften doch mit der Erfahrung des Unterworfen-Seins zusammen, des geringen politischen und kulturellen Status, den die Kolonisierten in ihren eigenen Ländern erdulden. "Die Psychiatrie muss politisch sein", laut darum Fanons vornehmstes Credo. Denn der Kolonisierte erleidet ein Gefühl des Mangels, eines Ausgeschlossen-Seins, das umschlagen kann in Aggression gegen sich selbst. So heißt es in "Die Verdammten der Erde":

    Gegenüber der kolonialen Ordnung befindet sich der Kolonisierte in einem Zustand permanenter Spannung. Die Welt des Kolonialherren ist eine feindliche Welt, die ihn zurückstößt, aber gleichzeitig ist sie eine Welt, die seinen Neid erregt. Der Kolonisierte träumt davon, sich an die Stelle des Kolonialherren zu setzen. Nicht, ein Kolonialherr zu werden, sondern den Platz des Kolonialherrn einzunehmen. Dessen feindselige, drückende, aggressive Welt erscheint der kolonisierten Masse, die von ihr gewaltsam ausgeschlossen bleibt, nicht als Hölle, der man so schnell wie möglich entkommen möchte, sondern als ein Paradies in greifbarer Nähe, bewacht von furchteinflößenden Bluthunden.

    Die Kolonisierten empfinden ein Gefühl von Vergeblichkeit. Es gilt darum, ein eigenes, ihr eigenes Wertesystem zu erschaffen. In ihrer Biographie erwähnt Cherkri ein eindrucksvolles Beispiel, wie Fanon seine theoretischen Überlegungen praktisch umsetzte. Bei seiner Arbeit in der psychiatrischen Arbeit von Blida, einer Stadt im Norden Algeriens, spannt er als Chefarzt die europäischen Insassen seiner Klinik in die tägliche Arbeit ein. Es entstehen Strick- und Schneiderwerkstätten, es gibt Kinovorführungen, kurz: Der bis dahin auf bloße Verwahrung der Patienten ausgerichtete Betrieb gewinnt an Leben. Und innerhalb kürzester Zeit verringert sich die bis dahin geläufigste Ausdrucksweise der Patienten, der Tobsuchtsanfall, auf ein Minimum. Bald wird das gesamte zu ihrer Bändigung notwendige Zwangsmaterial an die Verwaltung zurückgegeben. Als er das gleiche Programm nun auf die arabischen Patienten anwendet, bleibt der Erfolg aus: Die Insassen boykottieren sein Angebot. Fanon, resümiert Chekri, dieses Experiment, ist bald klar, warum.

    Wenn die Organisation der Feste scheitert, dann weil sie 1953 nur in einem religiösen Rahmen sinnvoll wären. Wenn es schwierig ist, einen Chor zusammenzustellen, dann, weil im algerischen Milieu Schauspieler oder Sänger Professionelle sind, die außerhalb der Gruppe bleiben, oder gar, wie ... in den Zeltdörfern der Nomaden, Wandererzähler. Wenn die Korbflechterwerkstatt leer bleibt, dann, weil die Herstellung von Körben von alters her eine Tätigkeit der Frauen ist.

    Man braucht demnach nur die kulturellen Vorzeichen zu ändern, um auch die arabischen Patienten in das neue Programm einzubinden. Mit dieser Erkenntnis widerlegt Fanon die französischen Ärzte, die die arabischen Patienten als Menschen der anderen Art betrachtet hatten. Doch während derartige Einsichten heute selbstverständlich scheinen, waren sie 1953 geradezu revolutionär. Um so weitsichtiger, betont Cherkri, ist Fanons Weigerung, der Kultur absolute Bedeutung beizumessen, die schwarze gegen weiße Hautfarbe bedingungslos auszuspielen. In "Schwarze Haut, weiße Masken" schreibt er:

    Ich, ein Farbiger, habe nicht das Recht, zu ergründen, inwiefern meine Rasse einer anderen Rasse überlegen oder unterlegen ist. Ich ein Farbiger, habe nicht das Recht, mir zu wünschen, dass sich beim Weißen ein Schuldgefühl ob der Vergangenheit meiner Rasse herauskristallisiert.... Es gibt keine schwarze Mission. Es gibt keine weiße Bürde. Der Neger ist nicht. Ebenso wenig der Weiße. Beide müssen wir die unmenschlichen Wege unserer Vorfahren verlassen, damit eine wirkliche Kommunikation entstehen kann.

    Doch Papier ist geduldig. In seinem letzten Text, unter dem Eindruck des nahenden Todes stehend, schilderte der an Leukämie erkrankte Fanon den neuen Menschen dann doch als einen, der das europäische Modell hinter sich gelassen haben muss.

    Los, meine Kampfgefährten, es ist besser, wenn wir uns sofort entschließen, den Kurs zu ändern. ... Verlassen wir dieses Europa, das nicht aufhört, vom Menschen zu reden, und ihn dabei niedermetzelt, wo es ihn trifft, an allen Ecken seiner eigenen Straßen, an allen Ecken der Welt.... Wenn ich in der europäischen Technik und im europäischen Stil den Menschen suche, stoße ich auf eine Folge von Negationen des Menschen.... Europa hat getan, was es tun musste, und alles in allem hat es seine Sache gut gemacht. Hören wir auf, es anzuklagen, aber ... für Europa, für uns selbst und für die Menschheit, Genossen, müssen wir eine neue Haut schaffen, ein neues Denken entwickeln, einen neuen Menschen auf die Beine stellen.

    Das klingt nicht extremistisch. Es lässt sich aber extremistisch deuten. Und schaut man auf die Kämpfe des heutigen Afrikas, scheint dies nur allzu oft der Fall zu sein. Ethnische und religiöse Verschiedenheiten werden böswillig aufgebläht, Differenzen verabsolutiert. Kriege sind in Afrika - wie überall - eine Sache des Kalküls. Dies ist vielleicht die ernüchterndste Lektion des postkolonialen Afrikas.

    Deren oft deprimierende Wirklichkeit hat Fanon nicht mehr erlebt. Er starb, mit 36, Jahren, im Oktober 1961 an seiner Krankheit. Fanons Werk in seinen historischen Hintergrund eingearbeitet, den Mann in seine Zeit gestellt und so verständlich vorgestellt zu haben, ist das große Verdienst von Cherkris ebenso gründlicher wie nüchternen Biographie dieses Vordenkers der Unabhängigkeit.