Dienstag, 19. März 2024

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Franz Camille Overbeck und Friedrich Nietzsche
Der Theologe und der „Anti-Christ“

Zehn Jahre lehrte Friedrich Nietzsche als Professor an der Basler Universität. In dieser Zeit lernte er den evangelischen Theologen Franz Overbeck kennen. Die außergewöhnliche Freundschaft entwickelte sich zu einer anti-religiösen kirchenkritischen „Waffengenossenschaft“ der beiden großen Denker.

Von Alfried Schmitz | 18.02.2020
Zeitgenössisches Porträt des deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche
Als junger Philologie-Professor lernte Friedrich Nietzsche seinen langjährigen Weggefährten, den Theologen Franz Overbeck kennen (picture alliance / Bifab)
Betritt man den großen Hauptraum des gotischen Kirchengebäudes, fallen einem sofort mehrere Bildschirme auf - mit Sprüchen wie: "Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit" oder "Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getötet!". Zitate von Friedrich Nietzsche. Sie sollen provozieren, neugierig machen, zum Nachdenken und Nachfragen anregen.
Benjamin Mortzfeld, Historiker und Literaturwissenschaftler, ist Kurator der Sonderausstellung über den radikalen Denker, der durch seine religionskritisch-philosophischen Schriften den Ruf des Anti-Christen erlangte. "Gott bedeutet den Menschen immer weniger und Gott ist immer weniger moralische Instanz, stellt Nietzsche als Zeitdiagnose fest. Insofern ist Gott tot, dass nämlich die Menschen ihr Leben nicht mehr an Gott und der Bibel und biblischen Geboten ausrichten. Wenn diese Regeln alle wegfallen, dann sind wir in einer gewissen Leere. Und das ist dann das - nicht nur von Nietzsche, aber auch von ihm - diagnostizierte Zeitalter des Nihilismus. Und in diese Freiräume der Moral und der Werte kann sich insbesondere der Übermensch entfalten, der nämlich diese Leere überwindet und aus sich heraus neue Werte, Normen und Moral und Anschauungen schafft", sagt Mortzfeld.
Zarathustra - der Übermensch
Der Begriff des Übermenschen ist keine Erfindung von Nietzsche, sondern wurde bereits Mitte des 17. Jahrhunderts geprägt – und zwar von einem evangelischen Theologen: von Heinrich Müller. Danach sprachen Dichter und Denker wie Goethe und Herder in verschiedenen Zusammenhängen vom Übermenschen. Auch in Schriften der Antike lässt sich bereits ein "Homo Superior" entdecken. Doch Nietzsches Konzeption vom Übermenschen ist die wohl bekannteste. Er entwickelt sie in seiner Basler Zeit in der philosophischen Schrift "Menschliches, Allzumenschliches". Einige Jahre später macht er sie populär, in seinem Werk "Also sprach Zarathustra". Für den Rassenwahn der Nationalsozialisten wird der "Übermensch" zum ideologischen Schlagwort.
"Unheimlich ist das menschliche Dasein und immer noch ohne Sinn […]. Ich will die Menschen den Sinn ihres Seins lehren: welcher ist der Übermensch, der Blitz aus der dunklen Wolke Mensch."
Lässt Nietzsche den Protagonisten seines Buches sagen, das er 1885 vollendet. Zarathustra ist eine fiktive Person, ein Religionsstifter im alten persischen Reich, der seine Vision vom Übermenschen predigt.
Nietzsches Weg nach Basel
1844 wird Friedrich Nietzsche im preußischen Röcken geboren. Sein Vater ist Pfarrer. Als der mit 35 Jahren stirbt, ist der kleine Friedrich gerade einmal vier Jahre alt. Die Mutter zieht mit ihren beiden Kindern nach Naumburg. Dort erhält der hochbegabte Friedrich 1858 einen Platz in einem Elite-Internat. Der junge Mann entwickelt eine besondere Beziehung zur Literatur, zu alten Sprachen und zur Musik. Nach dem Abitur geht Friedrich Nietzsche nach Bonn, studiert klassische Philologie und der Familientradition folgend, evangelische Theologie. Allerdings nur ein Semester. Dann konzentriert er sich auf alte Sprachen und wechselt an die Universität Leipzig. Wie dann sein Weg nach Basel führt, zeigen Originalhandschriften in der dortigen Nietzscheausstellung.
"Dass die Basler Universität einen neuen Professor sucht für klassische Philologie. Die Universität ist sehr klein. Sie hat so etwa 120 Studenten und sie hat sehr wenig Geld. Und deswegen verlegen sie sich darauf, möglichst junge Talente, bevor sie einen großen Namen haben, nach Basel zu holen", sagt Mortzfeld. "Und so schreibt man Briefe nach Deutschland zu den besten Philologen der Zeit und des Fachs. Darunter Friedrich Ritschl, einer der ganz großen Philologen des 19. Jahrhunderts, und fragt sie, wer wird denn nun der neue große Star der Philologen. Und Ritschl antwortet lang und breit, fünf Seiten lang, dass das auf jeden Fall sein Student Friedrich Nietzsche sei. Und sie verpflichten ihn dann direkt von der Uni weg, vom Studenten zum Professor, mit 24 Jahren in Basel."
Nietzsche tritt seinen Dienst in Basel ohne Doktortitel und Habilitationsschrift an. Da er sich keine große Wohnung leisten kann, bezieht er ein möbliertes Zimmer. Ein paar Monate später bekommt er einen neuen Zimmernachbarn. Eine Zufallsbekanntschaft, die sich zu einer Schicksalsgemeinschaft entwickelt. Ein zeitgenössisches Ölgemälde in der Ausstellung zeigt den Mann, der prägend wird für Nietzsches Basler Jahre: Franz Overbeck.
Der Theologe und der "Anti-Christ"
"Das ist so der wichtigste und treueste und langjährigste Freund Nietzsches überhaupt", sagt Mortzfeld. "Overbeck fängt etwa zeitgleich mit ihm seine Professur an. Er ist Theologe. Und jetzt fragen Sie sich vielleicht: Der Theologe und der Anti-Christ, wie passt das denn nun zusammen, wieso verstehen sie sich?"
Overbeck stammt, anders als der kleinbürgerliche Nietzsche, aus einer polyglotten Familie. Als Sohn eines deutsch-britischen Kaufmanns und einer französisch-stämmigen Mutter wird er 1837 in Sankt Peterburg geboren. Overbeck studiert in Leipzig, Göttingen, Berlin und Jena evangelische Theologie. Nach seiner Promotion und Habilitation arbeitet er sechs Jahre als Privatdozent in Jena, bis er 1870 die Professur in Basel erhält. Overbeck gilt, beeinflusst durch die fortschrittlich denkenden Theologen Ferdinand Christian Baur und Carl Heinrich Wilhelm Schwarz, als Freigeist in seinem Fach. Für die Universität Basel scheint Overbeck somit eine Idealbesetzung, wie der Freiburger Philosophieprofessor Urs Sommer sagt.
Büste von Friedrich Nietzsche in der Ausstellung "Übermensch – Friedrich Nietzsche und die Folgen" im Historischen Museum Basel
Büste von Friedrich Nietzsche im Historischen Museum Basel (Deutschlandradio / Alfried Schmitz)
"Bis dahin war die theologische Fakultät in Basel dominiert von Professoren, die eine orthodoxe Position vertreten haben oder gelegentlich auch eine pietistische Position", sagt Sommer. "Overbeck sollte nun von den liberalen Kräften, theologisch installiert, eine etwas freiere Art der Theologie praktizieren, aber doch innerhalb der Theologie bleiben. Er hält seine Antrittsvorlesung über die Entstehung und das Recht einer rein historischen Betrachtung der neutestamentlichen Schriften, also ein radikalhistorischer Zugang. Und man könnte sagen, dass Nietzsche und Overbeck gegenseitige Radikalisierungsgehilfen sind und gerade im Blick auf das Thema Religion oder - breiter gefasst - auf das Thema Weltanschauung einander gegenseitig inspirieren."
Waffengenossenschaft zweier Religionskritiker
Die anti-religiöse Kumpanei von Nietzsche und Overbeck bezeichnet der Freiburger Philosoph Urs Sommer als Basler "Waffengenossenschaft". Er hat darüber ein Buch geschrieben: "Der Geist der Historie und das Ende des Christentums". Nietzsche und Overbeck sind beide Anhänger der französischen Aufklärungsphilosophie und stimmen auch in vielen Punkten den religionskritischen Äußerungen eines Arthur Schopenhauer zu. Overbeck geht in seinen Ausführungen dann sogar so weit zu sagen, dass die Theologie die christliche Religion komplett infrage stelle.
"Nämlich mit einer Schrift über die ‚Christlichkeit unserer heutigen Theologie‘ von 1873. Und diese Schrift ist der Totenschein für die Theologie in bisheriger Form. Insofern er versucht zu zeigen, dass weder die liberale, noch die konservative Theologie dem, was ursprüngliches Christentum war, nämlich Eschatologie und Weltverneinung, gerecht werden können. Dass Theologie ein Versuch ist, Religion christlicher Ausprägung in der Welt möglich zu machen, wo es aber eigentlich ein solches Möglichmachen in der Welt nicht gibt", sagt Sommer.
Eine These, die an Radikalität kaum zu überbieten ist und die interessante Parallelen zu Nietzsches Religionsauffassung aufweist, wie der evangelische Theologe und Kirchenhistoriker Hermann-Peter Eberlein sagt.
"Nietzsche konstatiert: Es gab einen Glauben an Gott, aber den haben wir nicht mehr, wir haben ihn getötet, weil wir an ihn nicht mehr glauben. Der eine nennt es Tod Gottes, Overbeck nennt es Finis Christianismi – das Ende des Christentums. Alles, sagt er, was danach kommt und sich Christentum nennt, hat mit dem ursprünglichen Christentum, das das Weltende unmittelbar vor sich sah, eigentlich nur noch sehr wenig zu tun", sagt Eberlein. "Für Overbeck ist das Christentum im zweiten Jahrhundert verschwunden. Danach kommt etwas anderes. Wobei ich das Problem finde, dass er dieses Andere als dann auch nicht mehr relevant betrachtet. Da steckt ein bisschen alter Protestantismus drin: Der Anfang ist gut, alle andere ist Verfall. Man könnte ja auch sagen: Nun gut, es gibt ein Christentum späterer Zeit und das ist halt anders. Da ist er ein bisschen aufs Urchristentum fixiert."
Porträt von Franz Camille Overbeck
Franz Camille Overbeck (Deutschlandradio/Alfried Schmitz)
Freundschaft bis in den Tod
Nach zehn Jahren muss Nietzsche aus gesundheitlichen Gründen seine Lehrtätigkeit in Basel aufgeben. Er wird zum unruhigen Geist, zieht von einer Stadt zur anderen, vertieft sich immer mehr in seine philosophischen Studien, ohne jedoch von der Fachwelt als Philosoph anerkannt zu werden. Dazu fehlt ihm die akademische Grundlage. Er wird zum Misanthrop, wird seelisch krank und verfällt schließlich dem Wahnsinn. Sein Freund Overbeck steht ihm auch in dieser Phase zur Seite. Er kümmert sich um seine Geldgeschäfte und sorgt dafür, dass Nietzsche einen Platz in einer "Irrenanstalt" in Basel bekommt. Am 25. August 1900 stirbt Nietzsche im Alter von 55 Jahren im Haus seiner Schwester in Weimar. Overbeck stirbt fünf Jahre später in Basel, wo er auch begraben ist. Als Inschrift auf seiner Grabplatte hat er bewusst auf die Bezeichnung Theologe verzichtet. "Kirchenhistoriker" schien im angemessener.
"Er selber hat einmal gesagt, er habe nichts gegen das Christentum", sagt Eberlein. "Das sei immerhin eine Religion, für die Menschen gestorben seien und die versuche, Menschen zu trösten über die Sterblichkeit und über den Tod. Nur er selber fände die Todesbetrachtung Montaignes und Spinozas, also die Ergebung in die Endlichkeit, für sich angemessener. Er wollte auch keine Predigt an seinem Grab, sondern nur ein stilles Gebet für einen Menschen, der da nun gegangen ist. Er teilte den Glauben des Urchristentums auf ein zukünftiges Leben nicht."
Und so waren Overbeck und Nietzsche nicht nur Freunde in Basel, sondern auch geistige Waffenbrüder bis in den Tod hinein.
Die Ausstellung "Übermensch – Friedrich Nietzsche und die Folgen" im Historischen Museum am Basler Barfüsserplatz ist noch bis zum 22. März 2020 zu sehen.