Doris Simon: Heute zieht zum ersten Mal eine Frau in den Präsidentenpalast in Neu-Delhi ein. Die neue Präsidentin von 1,1 Milliarden Indern heißt Pratibha Patil, sie ist 72 Jahre alt, davon hat sie 45 für die regierende Kongresspartei in der Politik verbracht. Heute wird Pratibha Patil in ihr neues Amt eingeführt, das vor allem repräsentativer Natur ist.
Am Telefon ist nun Hans-Georg Wieck, er ist langjähriger Präsident der Deutsch-Indischen Gesellschaft. Herr Wieck - bei Indien denkt man nicht sofort an Frauenemanzipation, zugleich aber haben dort viele Jahre lang Frauen die Geschicke des Landes bestimmt, Indira Gandhi als Premierministerin, ihre Schwiegertochter Sonia als Vorsitzende der Kongresspartei. Wie ordnen Sie da die neue Präsidentin Patil ein?
Hans-Georg Wieck: Ja, Frau Patils Wahl ist, setzt ein Zeichen. Und man wird sehen, wie Frau Patil dieses Zeichen umsetzt. Die Frauenemanzipation in Indien ist natürlich auch ein Thema. Vielleicht nicht in der Wohlstandsgesellschaft, in der die Frauen in vielerlei Beziehung in gleicher Weise am allgemeinen Geschehen teilnehmen wie die Männer, aber dahinter verbirgt sich doch ein in dieser Frage rückständiges Land, denn die meisten der Analphabeten sind Frauen. Und nicht ohne Grund hat das Parlament vor mehr als einem Jahrzehnt ein Gesetz verabschiedet, mit dem sichergestellt wird - es wird also eine Quote geschaffen -, dass ein Drittel aller Sitze in den Gemeinderäten und in den Kreisräten von Frauen zu stellen sind, weil diese Benachteiligung, meist gestützt auf Traditionen, zum Tagesgeschehen gehört. Also, hier wird ein Zeichen gesetzt, um den Frauen in allen Teilen des Landes eine volle Mitwirkung am sozialen und wirtschaftlichen Geschehen zu eröffnen.
Simon: Die Wahl von Frau Patil war ja umstritten, die hindu-nationalistische Opposition hatte ihr finanzielle Unregelmäßigkeiten und Vetternwirtschaft vorgeworfen. Ist das ein Problem für die indische Politik?
Wieck: Natürlich ist Korruption und sind Clans ein Problem für die indische Politik, für autoritäre Systeme wie für demokratische, und in demokratischen wird darüber offen gesprochen, das ist ein großer Vorteil. Sie wird sich ihrer Haut zu erwehren wissen, denke ich, aber das bleibt abzuwarten. Aber ein Thema ist es auch mit ihrem starken politischen und auch wirtschaftlichen Engagement während ihrer Berufszeit, während ihrer Tätigkeit, aber kaum jemand ist davon ganz frei, aber wichtig ist auch der Hinweis in diesem Zusammenhang, dass es sich um eine beruflich und politisch erfahrene Frau handelt, die in dieses Amt einsteigt, und daher mit allen Wassern gewaschen ist.
Simon: Herr Wieck, Indien wird oft in einem Atemzug mit China genannt, wenn es um die Wirtschaft geht. Wie äußert sich diese rasante Entwicklung im Land?
Wieck: Ja, das Land hat nach der Liberalisierung, die Anfang der 90er Jahre eingeleitet wurde, enorme wirtschaftliche Fortschritte gemacht und hofft, mit den Zuwachsraten von 8-10 Prozent des Bruttosozialprodukts pro Jahr auch die Armut beseitigen zu können. Das ist ein Programm für alle Parteien, inwieweit es zu realisieren ist in 20 Jahren, das bleibt abzuwarten, aber auf der Tagesordnung jeder Regierung auf allen Ebenen, ob auf dem Bund oder bei den Bundesländern oder auch auf der untersten Ebene, steht dieses Armutsproblem, das ein Problem von Jahrzehnten, Jahrhunderten ist und bewältigt werden muss. Aber die Schwierigkeit besteht nicht so sehr in der Willenskundgebung, in der Umsetzung, sondern in den Defiziten der Infrastruktur.
Simon: Was heißt das?
Wieck: Das heißt, es fehlen Straßen, es fehlen Verkehrsverbindungen, Kommunikationsmittel, Krankenhäuser, Schulen, Einrichtungen, dieser verkehrsbezogenen Art, in den Häfen, in den Straßen und das wirkt sich natürlich bei einer Wirtschaftsentwicklung mit 8-10 Prozent sehr schnell als störend und als ein Hindernis aus, das dazu beitragen kann, dass das Land von dem Fortschritt noch nicht erfasst worden ist. Dazu braucht man neue Programme, jeder hat da Vorstellungen, ich habe auch Vorstellungen, wie man das machen könnte, aber es bleibt abzuwarten, wie es umgesetzt werden kann. Nur - in dieser Hinsicht ist China nicht viel besser dran. Auch China hat ein Armutsproblem.
Simon: Wie wird das das indische Wirtschaftswunder, was Sie angesprochen haben, beeinflussen, wenn diese zunehmende Spaltung in arm und reich nicht wirklich energischer angegangen wird?
Wieck: Ja, die Demokratie in Indien, und das ist ein ganz wichtiger Faktor in diesem Zusammenhang, die Demokratie in Indien bedeutet die schrittweise Integration aller, auch der benachteiligten Kreise in die Gesellschaft. Die so genannten Dalits also, die aus der religiösen Tradition kommenden, unterklassigen Menschen ...
Simon: ... die man früher die Unberührbaren nannte ...
Wieck: ... die Unberührbaren, und Mahatma Gandhi hat sie die Kinder Gottes genannt, diese sitzen, haben Quoten für Ausbildungsplätze, haben Quoten in den staatlichen Institutionen, und vor kurzem hat in einer Wahlkoalition zwischen dieser, einer solchen Dalit-Partei und den Brahmanen-Partei, der BJP, also, den Konservativen, eine Dalit-Frau das Amt des Ministerpräsidenten im bevölkerungsreichsten Bundesland Uttar Pradesh eingenommen und gewonnen. Das heißt, die Partizipation, die Integration in die politische, die wirtschaftliche Struktur, ist der entscheidende Durchbruch. Der mag in das letzte Dorf kommend noch Zeit brauchen, aber in der Wertschätzung und Einschätzung der Menschen als Staatbürger gleicher Art liegt die Chance der Überwindung von Armut und Diskriminierung.
Simon: Herr Wieck, Sie sind Präsident der Deutsch-Indischen Gesellschaft. Was erwarten Sie von der Indienpolitik der Bundesregierung? Die ist ja, anders als die Chinapolitik, die ja laufend diskutiert wird, nicht so sehr Gegenstand der öffentlichen Diskussion.
Wieck: Na, die deutsch-indische Politik ist natürlich nicht problematisierbar, denn es ist die Zusammenarbeit zwischen zwei Demokratien. Da gibt es unterschiedliche Meinungen, zum Beispiel bei der Frage der Hinwendung auch Indiens zum Aufbau einer nuklearen Militärmacht, aber grundsätzlich sind dieses analoge Wertstrukturen. Und das ist eine Basis, die ist mit China nicht vorhanden, und daher wird das kontroverse diskutiert. Heute hat sich auch die Bundesrepublik dahin durchgerungen, mit Indien normale Rüstungsbeziehungen zu haben. Das ist mit China nicht möglich aus Gründen, die wir hier jetzt nicht diskutieren müssen. Zudem gibt es eine jahrhundertealte kulturelle und auch wirtschaftliche Verbindung zwischen Indien und dem deutschsprachigen Raum. Hermann Hesses Siddhartha, das ist Weltliteratur, überall bekannt hier. Die Goethe-Institute in Indien heißen nicht Goethe-Institute, sie heißen Max-Müller-Gebäude, weil ein Max Müller, der hier überhaupt nicht bekannt ist, im 19. Jahrhundert in Oxford die geistigen, literarischen Grundlagen des alten Indien aus der Versenkung wieder ans Tageslicht gebracht hat und dafür in Indien hoch geschätzt und geehrt wird. Das ist hier gar nicht bekannt.
Also, die kulturellen Verknüpfungen zwischen Indien als Zivilisations- und Kulturbasis und Deutschland und deutschsprachigem Raum und Europa als Kulturbasis, die sind lange, haben lange bestanden und bestehen auch heute in all der Breite weiterhin. Sie sind ein bisschen verdrängt durch den Umstand, dass Indien als erste Fremdsprache, eigentlich schon als eine eigene Sprache, Englisch auch hat und daher die große Masse der Bevölkerung, wenn sie mit dem Ausland kommuniziert, Englisch kommuniziert und daher in erster Linie dann mit englischsprechenden Ländern. Aber das soll nicht bedeuten, dass nicht das deutsch-indische Verhältnis tief auch in den Herzen und Köpfen der Inder ist.
Simon: Hans-Georg Wieck war das, der Präsident der Deutsch-Indischen Gesellschaft. Herr Wieck, herzlichen Dank und auf Wiederhören.
Wieck: Bitteschön, auf Wiederhören.
Am Telefon ist nun Hans-Georg Wieck, er ist langjähriger Präsident der Deutsch-Indischen Gesellschaft. Herr Wieck - bei Indien denkt man nicht sofort an Frauenemanzipation, zugleich aber haben dort viele Jahre lang Frauen die Geschicke des Landes bestimmt, Indira Gandhi als Premierministerin, ihre Schwiegertochter Sonia als Vorsitzende der Kongresspartei. Wie ordnen Sie da die neue Präsidentin Patil ein?
Hans-Georg Wieck: Ja, Frau Patils Wahl ist, setzt ein Zeichen. Und man wird sehen, wie Frau Patil dieses Zeichen umsetzt. Die Frauenemanzipation in Indien ist natürlich auch ein Thema. Vielleicht nicht in der Wohlstandsgesellschaft, in der die Frauen in vielerlei Beziehung in gleicher Weise am allgemeinen Geschehen teilnehmen wie die Männer, aber dahinter verbirgt sich doch ein in dieser Frage rückständiges Land, denn die meisten der Analphabeten sind Frauen. Und nicht ohne Grund hat das Parlament vor mehr als einem Jahrzehnt ein Gesetz verabschiedet, mit dem sichergestellt wird - es wird also eine Quote geschaffen -, dass ein Drittel aller Sitze in den Gemeinderäten und in den Kreisräten von Frauen zu stellen sind, weil diese Benachteiligung, meist gestützt auf Traditionen, zum Tagesgeschehen gehört. Also, hier wird ein Zeichen gesetzt, um den Frauen in allen Teilen des Landes eine volle Mitwirkung am sozialen und wirtschaftlichen Geschehen zu eröffnen.
Simon: Die Wahl von Frau Patil war ja umstritten, die hindu-nationalistische Opposition hatte ihr finanzielle Unregelmäßigkeiten und Vetternwirtschaft vorgeworfen. Ist das ein Problem für die indische Politik?
Wieck: Natürlich ist Korruption und sind Clans ein Problem für die indische Politik, für autoritäre Systeme wie für demokratische, und in demokratischen wird darüber offen gesprochen, das ist ein großer Vorteil. Sie wird sich ihrer Haut zu erwehren wissen, denke ich, aber das bleibt abzuwarten. Aber ein Thema ist es auch mit ihrem starken politischen und auch wirtschaftlichen Engagement während ihrer Berufszeit, während ihrer Tätigkeit, aber kaum jemand ist davon ganz frei, aber wichtig ist auch der Hinweis in diesem Zusammenhang, dass es sich um eine beruflich und politisch erfahrene Frau handelt, die in dieses Amt einsteigt, und daher mit allen Wassern gewaschen ist.
Simon: Herr Wieck, Indien wird oft in einem Atemzug mit China genannt, wenn es um die Wirtschaft geht. Wie äußert sich diese rasante Entwicklung im Land?
Wieck: Ja, das Land hat nach der Liberalisierung, die Anfang der 90er Jahre eingeleitet wurde, enorme wirtschaftliche Fortschritte gemacht und hofft, mit den Zuwachsraten von 8-10 Prozent des Bruttosozialprodukts pro Jahr auch die Armut beseitigen zu können. Das ist ein Programm für alle Parteien, inwieweit es zu realisieren ist in 20 Jahren, das bleibt abzuwarten, aber auf der Tagesordnung jeder Regierung auf allen Ebenen, ob auf dem Bund oder bei den Bundesländern oder auch auf der untersten Ebene, steht dieses Armutsproblem, das ein Problem von Jahrzehnten, Jahrhunderten ist und bewältigt werden muss. Aber die Schwierigkeit besteht nicht so sehr in der Willenskundgebung, in der Umsetzung, sondern in den Defiziten der Infrastruktur.
Simon: Was heißt das?
Wieck: Das heißt, es fehlen Straßen, es fehlen Verkehrsverbindungen, Kommunikationsmittel, Krankenhäuser, Schulen, Einrichtungen, dieser verkehrsbezogenen Art, in den Häfen, in den Straßen und das wirkt sich natürlich bei einer Wirtschaftsentwicklung mit 8-10 Prozent sehr schnell als störend und als ein Hindernis aus, das dazu beitragen kann, dass das Land von dem Fortschritt noch nicht erfasst worden ist. Dazu braucht man neue Programme, jeder hat da Vorstellungen, ich habe auch Vorstellungen, wie man das machen könnte, aber es bleibt abzuwarten, wie es umgesetzt werden kann. Nur - in dieser Hinsicht ist China nicht viel besser dran. Auch China hat ein Armutsproblem.
Simon: Wie wird das das indische Wirtschaftswunder, was Sie angesprochen haben, beeinflussen, wenn diese zunehmende Spaltung in arm und reich nicht wirklich energischer angegangen wird?
Wieck: Ja, die Demokratie in Indien, und das ist ein ganz wichtiger Faktor in diesem Zusammenhang, die Demokratie in Indien bedeutet die schrittweise Integration aller, auch der benachteiligten Kreise in die Gesellschaft. Die so genannten Dalits also, die aus der religiösen Tradition kommenden, unterklassigen Menschen ...
Simon: ... die man früher die Unberührbaren nannte ...
Wieck: ... die Unberührbaren, und Mahatma Gandhi hat sie die Kinder Gottes genannt, diese sitzen, haben Quoten für Ausbildungsplätze, haben Quoten in den staatlichen Institutionen, und vor kurzem hat in einer Wahlkoalition zwischen dieser, einer solchen Dalit-Partei und den Brahmanen-Partei, der BJP, also, den Konservativen, eine Dalit-Frau das Amt des Ministerpräsidenten im bevölkerungsreichsten Bundesland Uttar Pradesh eingenommen und gewonnen. Das heißt, die Partizipation, die Integration in die politische, die wirtschaftliche Struktur, ist der entscheidende Durchbruch. Der mag in das letzte Dorf kommend noch Zeit brauchen, aber in der Wertschätzung und Einschätzung der Menschen als Staatbürger gleicher Art liegt die Chance der Überwindung von Armut und Diskriminierung.
Simon: Herr Wieck, Sie sind Präsident der Deutsch-Indischen Gesellschaft. Was erwarten Sie von der Indienpolitik der Bundesregierung? Die ist ja, anders als die Chinapolitik, die ja laufend diskutiert wird, nicht so sehr Gegenstand der öffentlichen Diskussion.
Wieck: Na, die deutsch-indische Politik ist natürlich nicht problematisierbar, denn es ist die Zusammenarbeit zwischen zwei Demokratien. Da gibt es unterschiedliche Meinungen, zum Beispiel bei der Frage der Hinwendung auch Indiens zum Aufbau einer nuklearen Militärmacht, aber grundsätzlich sind dieses analoge Wertstrukturen. Und das ist eine Basis, die ist mit China nicht vorhanden, und daher wird das kontroverse diskutiert. Heute hat sich auch die Bundesrepublik dahin durchgerungen, mit Indien normale Rüstungsbeziehungen zu haben. Das ist mit China nicht möglich aus Gründen, die wir hier jetzt nicht diskutieren müssen. Zudem gibt es eine jahrhundertealte kulturelle und auch wirtschaftliche Verbindung zwischen Indien und dem deutschsprachigen Raum. Hermann Hesses Siddhartha, das ist Weltliteratur, überall bekannt hier. Die Goethe-Institute in Indien heißen nicht Goethe-Institute, sie heißen Max-Müller-Gebäude, weil ein Max Müller, der hier überhaupt nicht bekannt ist, im 19. Jahrhundert in Oxford die geistigen, literarischen Grundlagen des alten Indien aus der Versenkung wieder ans Tageslicht gebracht hat und dafür in Indien hoch geschätzt und geehrt wird. Das ist hier gar nicht bekannt.
Also, die kulturellen Verknüpfungen zwischen Indien als Zivilisations- und Kulturbasis und Deutschland und deutschsprachigem Raum und Europa als Kulturbasis, die sind lange, haben lange bestanden und bestehen auch heute in all der Breite weiterhin. Sie sind ein bisschen verdrängt durch den Umstand, dass Indien als erste Fremdsprache, eigentlich schon als eine eigene Sprache, Englisch auch hat und daher die große Masse der Bevölkerung, wenn sie mit dem Ausland kommuniziert, Englisch kommuniziert und daher in erster Linie dann mit englischsprechenden Ländern. Aber das soll nicht bedeuten, dass nicht das deutsch-indische Verhältnis tief auch in den Herzen und Köpfen der Inder ist.
Simon: Hans-Georg Wieck war das, der Präsident der Deutsch-Indischen Gesellschaft. Herr Wieck, herzlichen Dank und auf Wiederhören.
Wieck: Bitteschön, auf Wiederhören.