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Frauenpower

Die Künstlerin Tracey Emin fungierte als Skandalnudel bei der "Britart". Weniger bekannt ist, das Emin auch eine große Poetin der Kunst ist. In einer Werkschau in der Londoner Hayward Gallery kann man das jetzt wieder einmal nachvollziehen.

Von Hans Pietsch | 19.05.2011
    Ein aus altem Bauholz roh zusammengezimmerter Steg begrüßt den Besucher - die Nachbildung eines verfallenen Vergnügungspiers in Tracey Emins Heimatort, dem Seebad Margate, für den Besucher nicht begehbar. Und an den Wänden ein Dutzend mit Worten, Sätzen und Bildern bestickte Decken, die nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden wollen.

    So beginnt Tracey Emins Werkschau in der Hayward Gallery, die sie nach dem Refrain eines Songs von Mark Bolan "Love Is What You Want” nennt, "Liebe ist, was Du möchtest”. Ihre allererste Soloschau bei ihrer Galerie White Cube 1993 nannte sie "Meine große Retrospektive 1963 bis 1993”, damit andeutend, dass ihre Kunst schon mit ihrer Geburt begann. Seither ist viel Zeit vergangen, doch als Künstlerin ist sie sich gleich geblieben: eine geborene Geschichtenerzählerin, die sich selbst, ihre Biografie zum Thema ihrer Kunst macht.

    An Exhibitionisten ist die Kunstgeschichte ja nicht gerade arm, doch "Tracey aus Margate” - so steht es auf einer ihrer Decken - schießt den Vogel ab. Ihr radikaler Exhibitionismus wirft über den Haufen, was man gelernt hat: Kunst nicht aus ihrem Schöpfer heraus zu verstehen. Bei ihr geht das nicht: sie ist ihre Kunst.

    Von Raum zu Raum rollt sie ihr Leben auf, ihre Familie, ihre Liebschaften, ihre Höhen und Tiefen, ihre geheimsten Wünsche und Sehnsüchte. Provokativ, traurig, voller Humor, aber auch Selbsthass - eine Decke heißt "Ich hasse Frauen wie Dich”. Ein verdunkelter Raum versammelt eine Reihe ihrer Neonarbeiten mit melancholischen Sprüchen wie "Diejenigen, die Liebe erleiden” oder "Ich flüstere meine Vergangenheit an”. Ein weiterer Raum heißt "Trauma”, ein immer wiederkehrendes Thema ihrer Bekenntniskunst - Vergewaltigung im Alter von 14 Jahren und zwei Schwangerschaftsabbrüche. Eine in einem Knäuel steckende Häkelnadel verweist nicht nur auf entstehende Babykleidung, sondern auch auf die Verwendung solcher Instrumente bei illegalen Abtreibungen, mit Deckeln versehene Schubladen werden zu Kindersärgen.

    Erstaunlich der Unterschied zwischen beiden Stockwerken der Hayward Gallery. Unten sind vor allem Arbeiten aus der Zeit zu sehen, da sie noch ein Enfant terrible war, ein Liebling der Regenbogenpresse. Ihre Kunst hier ist laut, manchmal schreit sie. Oben dagegen stellt sich eine gereifte Künstlerin vor. Ihre Themen haben sich nicht verändert, immer noch kehrt sie ihr Inneres nach außen, doch nun ist sie leise, nachdenklich.

    Zwei kürzlich entstandene Gemälde machen das deutlich. Beide semi-abstrakt, aus nahezu monochrom-weißem Hintergrund treten geisterhaft Worte und Bilder hervor, schemenhafte Farbschlieren gliedern die Leinwand. Und ihre bisher komplexeste Neonarbeit "White Rose” von 2007 ist eine spinnwebartige Form, die von Blumen, aber auch von Fruchtbarkeit spricht. Das Herz der weißen Rose erinnert an einen Fötus.

    Hier stehen auch weitere Skulpturen. "Salem” von 2005, wieder aus Bauholz gezimmert, ragt wie ein Scheiterhaufen auf, in seiner Mitte züngelt ein Neonstab - Hexenverbrennungen werden heraufbeschworen. Daneben "Somewhere Else”, entstanden in diesem Jahr - auf Hockern und Podesten platzierte Alltagsgegenstände, eine aus zusammengehörenden, trotzdem disparaten Mitgliedern bestehende Familie.

    Auf ihren zarten Zeichnungen, die eigentlich Monotypien sind, zeigt sie sich immer wieder nackt auf dem Boden liegend, masturbierend. Der aus 200 solchen Blättern bestehende Trickfilm "Those Who Suffer Love” von 2009 ist gleichzeitig humorvoll und geradezu schmerzhaft traurig. Diese letztendlich kathartische Mischung durchzieht die gesamte Schau. "Liebe bis zum Ende” steht auf einer ihrer bestickten Decken.