Freitag, 19. April 2024

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Frauenwahlrecht
Schweizer Autorinnen würdigen 50. Jubiläum

50 Jahre Demokratie feiere die Schweiz in diesem Jahr, so heißt es im Vorwort der beiden Herausgeberinnen Isabel Rohner und Irène Schäppi des Sammelbandes "50 Jahre Frauenstimmrecht". Denn ein System, das die Hälfte der Bevölkerung von Wahlen ausschließt, dürfe sich nicht demokratisch nennen.

Von Ramona Westhof | 04.01.2021
Hintergrund: Mit Plakaten werben Frauen des Aktionskomitees "Ein Ja für die Frau" am 5. Februar 1971 in der Schweiz für das Frauenstimmrecht. Vordergrund: Buchcover
Nach jahrzehntelangem Kampf erhielten die Schweizer Frauen 1971 die volle politische Gleichberechtigung auf Bundesebene (KEYSYTONE/dpa - Report & Limmat Verlag)
Als die Schweiz 1971 das Frauenwahlrecht einführte, war sie damit reichlich spät, das drittletzte Land in Europa. Warum die Schweiz damit eine Sonderrolle einnimmt, beschreiben die Herausgeberinnen in ihrem Vorwort:
"Im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern hat ein großer Teil der heute lebenden Schweizerinnen die Einführung des Frauenstimmrechts noch selber erlebt, hat vielleicht auch selber dafür gekämpft. […] Und die Frauen in der Schweiz können ihre Väter oder Großväter, ihre Onkel, vielleicht auch noch ihre Brüder darauf ansprechen, wie sie 1971 abgestimmt haben. Denn das Frauenstimmrecht wurde damals nur mit einer Zweidrittelmehrheit angenommen: Ein Drittel der Männer, die damals zur Wahl gegangen sind, haben auch noch 1971 mit Nein gestimmt."
Wieso tat sich gerade die Schweiz so schwer mit diesem Schritt? Und vor allem: Wie steht es heute um die Gleichberechtigung im Land? Der Sammelband "50 Jahre Frauenstimmrecht" lässt in Interviews, Essays, Portraits oder auch einem Comic und einem Protestsong 25 Schweizerinnen zwischen 18 und 87 auf diese Fragen antworten. Unternehmerinnen, Journalistinnen, Politikerinnen, Künstlerinnen, Aktivistinnen und Wissenschaftlerinnen.

Volksentscheid der männlichen Bevölkerung

Andrea Maihofer, Professorin für Geschlechterforschung, sucht in ihrem Text nach Gründen für die späte Einführung des Frauenwahlrechts. Formal, schreibt sie, war dafür eine Verfassungsänderung nötig und damit ein Volksentscheid. Oder anders ausgedrückt: Die männliche Bevölkerung entschied.
"Wäre das in anderen Ländern nötig gewesen, wer weiss, ob es dort nicht ebenfalls länger gedauert hätte."
Bei einer ersten Abstimmung 1959 sprach sich eine große Mehrheit der Schweizer gegen das Frauenstimmrecht aus. Und auch 1971 war das Ergebnis knapp. Die Professorin begründet das mit der damals noch sehr traditionellen Rollenteilung in der Schweiz. Der öffentliche Raum und damit die Politik war den Männern vorbehalten. Die Schweiz habe sich als "Männerstaat" verstanden.

Politikerin oder Protokollantin?

Die Erzählungen der ersten Politikerinnen der Schweiz, von denen im Buch einige zu Wort kommen, sind dementsprechend gleichermaßen beeindruckend und erschreckend angesichts der Widerstände, die sie als Frauen in einer Männerwelt zu bekämpfen hatten.
Elisabeth Kopp, ab 1970 Lokalpolitikerin und 1984 bis ´89 erste Bundesrätin der Schweiz erzählt im Interview von ihrem politischen Werdegang, berichtet aber auch, wie sie als frisch gewählte Gemeindepräsidentin von einem Kollegen für die Protokollantin gehalten wurde:
"Erst wollte ich wütend werden und ihn fragen, ob er eigentlich keine Zeitung liest. Dann habe ich es aber anders gemacht und gesagt, dass ich sehr gerne bereit bin, in der ersten Hälfte das Protokoll zu schreiben, wenn er es in er zweiten Hälfte übernimmt. […] Er wurde rot wie ein Granatapfel."
Ein großer Teil des Buches lässt schließlich Frauen zu Wort kommen, die heute Machtpositionen innehaben: Politikerinnen, Chefinnen, Unternehmerinnen. Viele von ihnen erwähnen ganz nebenbei eigene Mechanismen, mit solchen Mikroaggressionen, die es auch heute noch gibt, umzugehen.

Feminismus hat viele Gesichter

Die Themen ihrer Texte sind eigentlich andere: die gläserne Decke, Repräsentation von Frauen in den Medien und in Museen, wie umgehen damit, immer wieder auf Äußerlichkeiten reduziert zu werden. Auch auf die Vorteile von Gleichberechtigung für Männer wird immer wieder hingewiesen.
Nicht alle Frauen im Band würden sich als Feministinnen bezeichnen. Es gibt eine Bandbreite: Lifestyletexte, die auch hohe Designerschuhe als Emanzipation verstanden wissen wollen, neoliberale Karrieretipps, die erklären, wie man erfolgreich wird, indem man den Stil der Männer möglichst gut kopiert. Und Texte, die das Gegenteil behaupten. Nathalie Wappler etwa, Chefin vom Schweizer Radio und Fernsehen SRF, widerspricht:
"Das sehe ich inzwischen anders. Man muss heute nicht mehr mitspielen. Man muss die Muster erkennen und die Spielchen benennen."
Für deutsche Leserinnen und Leser dürfte zudem die sprachliche Gestaltungen des Buches ungewohnt sein. Die meisten Texte sind zwar auf Deutsch, es gibt aber Ausnahmen. So unterhält sich die Unternehmerin Adrienne Corboud Fumagalli mit ihrer Tochter auf Französisch über Karrierechancen damals und heute und Serpentina Hagner sammelt in ihrem Comic in schweizer Dialekt Aussagen einer fiktiven Straßenumfrage zum Frauenwahlrecht.

Die letzten Hürden fürs Stimmrecht

Ein letzter Text schließlich sei hier aufgrund seiner schieren Absurdität erwähnt: Isabel Rohner erzählt die Geschichte der Appenzellerin Theresia Rohner, die noch Ende der 80er-Jahre das lokale Frauenstimmrecht in ihrem Kanton erkämpfen musste. Das Thema wurde hitzig diskutiert. Theresia Rohner stand zeitweise unter Polizeischutz. Die Argumente einiger Herren gegen das Frauenstimmrecht waren hanebüchen: Nur faule Frauen wollten wählen, die den ganzen Tag im Café säßen und dann kurz vor zwölf eine Dose Ravioli öffneten.
Andere hatten praktische Einwände, für die man wissen muss: In Appenzell gibt es eine sehr spezielle Form der Abstimmung, für die sich die Wählenden auf dem sogenannten Landsgemeindeplatz versammeln und per Handzeichen oder durch Heben des Säbels ihre Stimme abgeben:
"[Der Platz] sei viel zu klein, wenn auch Frauen dabei wären. Und zudem: Viele Männer würden mit dem Säbel abstimmen. Womit sollten die Frauen das tun – etwa mit der Scheide? Grölendes Gelächter und erbostes Kopfschütteln in den Wirtshäusern."
Die Herren stimmten 1990 im Kanton Appenzell-Innerrhoden übrigens zunächst gegen das Frauenstimmrecht. Das Ergebnis wurde schließlich als diskriminierend und verfassungswidrig gekippt.
Mittlerweile haben die Schweizerinnen und Schweizer in Sachen Gleichberechtigung aber gut aufgeholt. Auch das zeigt das Buch: Es gibt viele kluge, engagierte und mächtige Frauen in der Schweiz. Es gibt Initiativen, die sich für mehr Expertinnen in Talkshows und mehr Politikerinnen im Parlament einsetzen. Und das mit Erfolg – der Frauenanteil im schweizer Nationalrat liegt seit 2019 bei über 40 Prozent.
Isabel Rohner und Irène Schäppi (Hg.): "50 Jahre Frauenstimmrecht. 25 Frauen über Demokratie, Macht und Gleichberechtigung"
Limmat-Verlag, 256 Seiten, 34 Euro.