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Frédéric Brun: „Perla“
Porträt eines Schattens

Sie entging nur knapp dem Tod in Auschwitz und schwieg darüber ihr Leben lang: Die Mutter des französischen Autors Frédéric Brun steht im Zentrum seines Debütromans „Perla“. Darin spürt er ihrer Geschichte nach - und findet Trost über den Zivilisationsbruch ausgerechnet bei den deutschen Romantikern.

Von Cornelius Wüllenkemper | 15.05.2020
Der französische Schriftsteller Frédéric Brun
Der französische Schriftsteller Frédéric Brun erzählt in seinem Debüt auch von der tröstenden Kraft der Literatur (Verlag Faber & Faber / Maurice Rougemont / Opale)
Sieben Monate hat Perla, die jüdische Mutter des Autors Frédéric Brun, im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau verbracht. Am 31. Juli 1944 wurde sie in Paris von einer Miliz aufgegriffen und in einen Güterwagon verfrachtet. 726 der 1.300 Deportierten des Konvois, darunter 300 Kinder aus einem jüdischen Pensionat, wurden gleich bei ihrer Ankunft im Lager in den Gaskammern ermordet. Perla überlebte.
"Unmittelbar nach ihrer Ankunft trat sie jenem Mann entgegen, den man Mengele nannte. [...] Mengele sah sie kurz an. Nach einer Schnellinspektion des Gesundheitszustandes, die nicht den Begriff Untersuchung verdiente, war das Schicksal eines Häftlings besiegelt. Perla war gesund, hatte aber einen kleinen Pickel im Gesicht. Er zögerte, wies lässig mit der Hand nach rechts. Er änderte seine Meinung. Der Schönheit wird ja so viel Nachsicht entgegengebracht. Er wies mit dem Finger nach links."
Banalität der Barbarei
Nach der Befreiung des Lagers nur wenige Monate später beginnt für Perla ein Leben, das zutiefst von der Erfahrung der Entmenschlichung geprägt ist, wenngleich sie über das Trauma bis zu ihrem Tod kaum je ein Wort verliert. In seinem Erinnerungsbuch nähert Frédéric Brun sich den Erlebnissen seiner Mutter mittels anderer Berichte über die Zivilisationskatastrophe. Mit Primo Levi untersucht er die "Schuld der Überlebenden", versucht, sich mit Charlotte Delbo den Transport zu vergegenwärtigen, zieht Berichte von Jorge Semprún, Simon Wiesenthal oder Robert Antelme zurate. Seine Erkenntnis: die Banalität der Barbarei, das Grauen von Auschwitz sind nicht nachzuempfinden. Seiner Mutter Perla, die nach der Befreiung an Depressionen erkrankte, fehlten die Worte, um über ihre Erlebnisse zu sprechen.
"Perla verzichtete in ihrer Depression auf das Leben. Das war ihre Art, das Unverständnis über die Welt sichtbar werden zu lassen. Was gibt es nach Auschwitz noch zu erklären? Was ich davon in Erinnerung behalte, ist ihre Krankheit. Ich habe den Eindruck, dass sich meine Mutter so verständlich machen wollte, weil sie nicht fähig war, das Erlebte anders zu artikulieren, davon zu sprechen oder ein Buch zu schreiben. Die Depression war umso vieles eindeutiger als alles Reden."
Buchcover: Frédéric Brun: „Perla“ und Stacheldrahtzaun vor dem Konzentrationslager Auschwitz
Das Leben von Frédéric Bruns Mutter war zutiefst von ihren Erlebnissen in Auschwitz geprägt. (Buchcover: Verlag Faber & Faber, Hintergrund: dpa / Kay Nietfeld)
Frédéric Bruns Buch, das als "Roman" verkauft wird, ist, so ist es im selbigen zu lesen "kein Roman, kein Tagebuch, keine Autofiktion". Genau das macht seinen Reiz aus. Der Autor collagiert Leseeindrücke, Erinnerungen, Vorstellungen und Reflektionen in einem Text, an dessen Grund eine scheinbar einfache Frage liegt.
"Wie ist es möglich, dass Novalis, die deutschen Dichter und die Hitlergeneräle den gleichen Stammbaum haben? Die germanische Seele verweist uns auf die Natur, auf die Unendlichkeit, auf eine reine Rasse, [...] auf halbnackte Elfen auf der Suche nach einem Ideal, einem Absoluten. Victor Klemperer analysiert in LTI: Die Sprache des Dritten Reichs das Verb sich entgrenzen, welches bedeutet, alle Grenzen seiner Persönlichkeit zu zerschlagen, im All aufzugehen, sich zu übertreffen, seine Ketten zu sprengen und sich in aller Freiheit zu entwickeln. Diese Worte führen uns zum Faschismus und zur Romantik gleichermaßen!"
Streben nach der absoluten Wahrheit
Brun, ein erklärter Bewunderer des deutschen Idealismus, findet Zugang zum Menschlichsten und Unmenschlichsten, indem er sich mit den Helden des romantischen Entwicklungsromans identifiziert. Um den "Weltgeist" zu spüren, müssen sie erst Zweifel und Zwänge überwinden, um dann zu ihrer wahren Bestimmung als Künstler zu gelangen. Melancholisch merkt Brun in seinem sehr persönlich gehaltenen Text immer wieder an, dass dieses Streben nach der absoluten Wahrheit, nach der Selbstüberwindung des Menschen und der "wunderbaren Einheit des Alls" im Sinne der deutschen Romantik in der Gegenwart keine Rolle mehr spiele.
"Der Lärm, die Geschwindigkeit, die nicht enden wollenden technologischen Erfindungen, das grenzenlose Streben nach Reichtum. Der Individualismus, der zügellose Kampf gegen die Zeit werden mir immer unerträglicher. Sich in der Masse zu verlieren, ist eine Art, seine Langweile totzuschlagen, als ob man ständig online oder im Internet sein müsste, mit etwas oder jemandem verbunden. In den großen Konsumtempeln füllen wir unsere Taschen mit Büchern und CDs, kiloweise. Wir wollen glauben, dass sich Wissen kaufen lässt. Gegenstände aus Papier zu besitzen, verleiht uns den Anschein, gebildet zu sein. Ich will mich anschließen, aber ganz bestimmt nicht an die Leere meiner Epoche."
Den Schmerz zulassen, um das Glück zu spüren
Seinen sehnsuchtsvollen Text hat Brun in einer persönlichen Krise geschrieben, daraus macht er kein Geheimnis. Nicht nur hat der Tod seiner Mutter ihm deren verdrängte Vergangenheit und auch die schwierigen Seiten ihrer Persönlichkeit schlagartig zu Bewusstsein gebracht. Nur kurze Zeit später stirbt auch Bruns Vater, wird die Wohnung seiner Kindheit samt ihrer Gerüche und tausender sinnlicher Erinnerungen aufgelöst. Dazu kommt die unverhoffte Schwangerschaft von Bruns Frau. Zu viel für einen Mann, der dem Lärm der Welt entfliehen und sich auf die Suche nach dem "Weltgeist" begeben möchte. Der Autor gibt sich seinem Schmerz hin, um das Glück neu spüren zu können. "Perla" erzählt nicht nur vom Schicksal einer Jüdin, sondern ist zugleich die Entwicklungsgeschichte eines Autors, der im Schreiben Rettung findet.
"Ich war von Verzweiflung heimgesucht, aber das Leid reinigt uns. Es entfernt uns auch von Unwesentlichem. Es hilft uns auch, das dunkle Reich seines Ichs zu verlassen, wo alles erlaubt zu sein scheint. Es schärft das Bewusstsein und gibt dem Leben einen neuen Sinn. Es lässt uns von bestimmten Ideen und Ideologien Abstand nehmen und bringt uns anderen näher. Es offenbart uns auch, wie unzulänglich wir uns zuweilen verhalten. Es verführt uns zum Schreiben und verstärkt vielleicht auch unsere Introvertiertheit. Es pflanzt uns aber auch eine neue Existenz ein."
Am Ende erkennt Brun, dass er die "unwahrscheinliche Realität" der Lager zwar nie nachempfinden und auch den Tod seiner Mutter nie verwinden können wird. Aber er akzeptiert, dass der Tod ein Teil des Lebens und die Barbarei ein Teil der Menschheit ist. Wie Brun in diesem leisen, sanften Gedankenprotokoll die losen Enden seiner Betrachtungen Stück für Stück verknüpft und sich trotz des Schmerzes dem Glück erneut öffnet, ist ein eindringlicher Beweis für die tröstende Wirkung der Literatur.
Frédéric Brun: "Perla"
Aus dem Französischen von Christine Cavalli.
Faber & Faber Verlag, Leipzig.
128 Seiten, 20 Euro.