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Frédéric Martel
"Sodom. Macht, Homosexualität und Doppelmoral im Vatikan"

Kein Sex vor der Ehe, keine Scheidung, Homosexualität ist Sünde, deshalb gibt es auch keine "Ehe für alle" – in der katholischen Kirche. Doch Anspruch und Wirklichkeit klaffen auseinander. Der französische Soziologe Frédéric Martel schreibt über ein System der Vertuschung.

Von Ina Rottscheidt | 07.10.2019
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Schweigen und Tabus haben Geschichte im Vatikan (S. Fischer Verlag / dpa/ Boris Roessler)
Manche Anekdote klingt fast zu schräg, um wahr zu sein. Wie die über den päpstlichen Mitarbeiter, dem italienische Zeitungen den Spitznamen "Monsignore Jessica" verpassten:
"Dieser nutzt die regelmäßigen Besuche des heiligen Vaters in der Kirche Santa Sabina in Rom, dem Sitz der Dominikaner, um den jungen Mönchen seine Visitenkarte zu geben. Über seine 'pickup line' oder Cruising-Technik wurde auf der ganzen Welt gespottet [...]: Er versuchte, die Seminaristen abzuschleppen, indem er anbot, ihnen das Bett von Johannes XXIII. zu zeigen!"
Dass es homosexuelle Geistliche gibt, ist kein Geheimnis. Im Vatikan seien sie jedoch eine große und mächtige Mehrheit. Das behauptet Frédéric Martel in seinem Buch "Sodom - Macht, Homosexualität und Doppelmoral im Vatikan".
Demnach war schon Papst Paul VI. schwul - besser bekannt als "Pillen-Paul". Ebenso der heute über 90-jährige Angelo Sodano, einst Kardinalstaatssekretär und wichtigster Mann hinter Papst Johannes Paul II. Und auch der US-amerikanische Kardinal Raymond Burke. Das macht Martel an seiner Vorliebe für üppige Gewänder fest. Dass Burke selbst Homosexualität immer wieder als schwere Sünde geißelt, dient Martel dabei nur als weiterer Beleg:
"Je lautstarker ein Prälat die Schwulen kritisiert, je stärker seine homophobe Obsession ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass er unaufrichtig ist, und desto vehementer versteckt er etwas vor uns."
Martel will nicht outen, sondern das System entlarven
Vier Jahre hat Martel nach eigenen Angaben für sein Buch recherchiert, über tausend Informanten befragt, auch zahlreiche Kardinäle und Bischöfe. Dennoch bleibt vieles in seinem Buch vage, so etwa die steile These, dass 80 Prozent der Kurie im Vatikan schwul seien. Sie beruht auf der Aussage eines einzigen Informanten - Statistiken, die dies belegen, gibt es natürlich nicht.
Martel hat eine Agenda: In Frankreich setzt er sich seit Jahren für die Rechte Homosexueller ein. Die Regierung hat er beraten, als diese die eingetragenen Partnerschaften einführte. Martel ist selbst schwul, aber um das Outing Einzelner gehe es ihm nicht, sagte er in einem Interview im französischen Fernsehen:
"Es geht nicht um den Skandal. Es ist nicht meine Absicht, diese Männer zu kritisieren oder sie zu Lebzeiten zu outen. Ich möchte ganz klar sagen, dass ein Priester oder ein Kardinal sich in meinen Augen überhaupt nicht schämen sollte, homosexuell zu sein. Doch ist es notwendig, ein System zu entlarven."
Martels Buch liest sich unterhaltsam, doch oftmals vermischt er Fakten und Gerüchte. Und sicher erklärt sich die jüngere Kirchengeschichte auch nicht ausschließlich über ihre rigide Sexualmoral.
Die Kirche als Nische
Doch es gibt Muster, die plausibel erscheinen und da wird das Buch interessant: Was zum Beispiel treibt Schwule ausgerechnet in die Arme der katholischen Kirche, die Homosexualität nach wie vor verurteilt? Martels Erklärung ist einleuchtend:
"Bis Anfang der 1970er-Jahre war die Kirche ein Zufluchtsort für Homosexuelle, die draußen diskriminiert wurden. [...] Alles ist leichter, wenn ein ungeouteter Schwuler dem Klerus beitritt: Er lebt unter Männern und trägt prächtige Gewänder; man fragt nicht mehr, ob er eine Freundin hat; seine Schulkameraden, die schlechte Witze auf seine Kosten rissen, sind beeindruckt; er, der Verspottete, kommt zu höchsten Ehren."
Doch in einem System, das Moral und Keuschheit verlangt und Homosexualität verurteilt, geraten viele unter Druck. Und das ist eine Erklärung dafür, wieso Missbrauch in der katholischen Kirche so lange gedeckt und vertuscht wurde.
"Hinter den meisten Missbrauchsfällen stehen Priester und Bischöfe, die die Täter aufgrund ihrer eigenen homosexuellen Orientierung schützen, weil sie Angst vor der Entdeckung und einem Skandal haben. Eben jenes Klima, in dem Geheimnisse kultiviert wurden und gediehen, das notwendig war, um den hohen Anteil an Schwulen in der katholischen Kirche zu verschweigen, hat die Verbrechen und das Vertuschen von sexuellem Missbrauch möglich gemacht."
Und Papst Franziskus? Er weiß sehr wohl um die Probleme, immer wieder kritisiert er die Heuchelei und Doppelmoral in den eigenen Reihen. Doch er kann oder will nicht durchgreifen. Denn längst hat sich aus diesem Geflecht aus Sexualmoral, Homophobie und Angst ein System entwickelt – so die These von Frédéric Martel – das selbst der Papst nicht mehr im Griff hat:
"Die heimlichen Homosexuellen sind in der Mehrheit, mächtig und einflussreich, und sie tun, jedenfalls die 'rigidesten', ihre homophoben Positionen lautstark kund. Soviel also zum Papst. Er residiert mittlerweile in Sodom. Bedroht, angegriffen von allen Seiten, kritisiert, lebt Franziskus, wie gesagt wurde, 'unter Wölfen'. Doch das trifft es nicht ganz: Eigentlich lebt er unter Tunten."
Frédéric Martel: "Sodom. Macht, Homosexualität und Doppelmoral im Vatikan",
S. Fischer, 671 Seiten, 26 Euro.