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Freie Gedanken in strengen Formen

Weil er klassischen Formen folgte und mehr nach 18. als nach 19. Jahrhundert klang, erhielt er den Spitznamen "Zeitgenosse Haydns". Die Aufnahme des Trio Élégiaque zeigt aber: Napoléon-Henri Reber lehnte sich harmonisch nicht weit aus dem Fenster, war aber moderner als viele glauben.

Von Maja Ellmenreich | 11.08.2013
    Französischer Komponist mit fünf Buchstaben. Kreuzworträtselfreunde kennen ihn vielleicht, aber den meisten Musikliebhabern dürfte sein Name nicht bekannt sein. Die fünf Buchstaben? R-e-b-e-r. Napoléon-Henri Reber.

    Das Trio Élégiaque hat ihn aus den senkrecht und waagerecht angeordneten Kästchen befreit, denn Rebers Musik braucht Spielraum. Die Aufnahme seiner Klaviertrios 3, 5 und 7 ist jüngst bei dem CD-Label Timpani erschienen und heute Morgen unsere "Neue Platte".

    Reber: Trio für Klavier, Violine und Violoncello Nr. 3 g-Moll, op. 16, I. Allegro

    Ein Anfangssatz wie aus dem Lehrbuch: Los geht es mit einem kraftvollen ersten Thema, gefolgt von einem lyrischen zweiten. Aufbrausend und ernst das eine, besänftigend und nostalgisch das andere. Und weil’s so schön und eingängig war, wird die erste Vorstellungsrunde gleich noch mal wiederholt. Klassischer geht es eigentlich nicht!

    Doch für einen Klassiker – im musikalischen Sinne – ist Napoléon-Henri Reber schlichtweg zu spät geboren worden. 1807 kam er im elsässischen Mülhausen zur Welt und sollte, so war es der Wunsch der Eltern, eine Laufbahn in der Industrie einschlagen. Doch nach der Ausbildung besann er sich auf seine Bestimmung: Reber nahm 1828 am berühmten Pariser Konservatorium ein Musikstudium auf. Also in dem Jahr, in dem Franz Schubert starb, Ludwig van Beethoven schon ein Jahr tot war und ausgewiesene Romantiker wie Mendelssohn, Schumann und Chopin längst das Licht der Welt erblickt hatten und allmählich mit ihren Werken auf dem Weg ins Konzertleben waren.

    Auch Napoléon-Henri Reber bahnte ihn sich – mit Erfolg! Seine Kompositionen wurden in den großen Pariser Salons aufgeführt und mit lautem Beifall bedacht. Wertschätzung und Hochachtung wurde ihm zuteil, doch stets auch ein wenig Spott. Dass Rebers Musik streng den klassischen Formen folgte, harmonisch alles andere als experimentell daherkam und nach 18. und nicht nach 19. Jahrhundert klang, brachte ihm Spitznamen ein wie "Zeitgenosse Haydns" und "Boccherini unserer Tage".

    Reber: Trio für Klavier, Violine und Violoncello Nr. 7 a-Moll, op. 37, III. Scherzo

    "Mit seiner Vorliebe für die Vergangenheit und seinen höflichen Umgangsformen erinnerte Reber an vergangene Zeiten. Sein Haar sah aus, als wär‘ es gepudert. Er wirkte wie ein Mann, der aus dem 18. Jahrhundert übrig geblieben war, und der nun wie ein Zeitgenosse Mozarts durch das 19. Jahrhundert spazierte, überrascht und ein bisschen schockiert von unserer Musik."

    Mit ein paar Spitzen, aber durchaus liebevoll charakterisierte Camille Saint-Saёns seinen Kollegenfreund Reber. Auch wenn er ihn als eine Art Zeitreisenden wahrnahm, schmälert das nicht seinen Respekt vor Napoléon-Henri Reber. Saint-Saёns war sogar als Pianist an der Uraufführung von Rebers Klaviertrios beteiligt.

    Der Komponist mit dem patriotischen Vornamen Napoléon war – wie man heute sagen würde – gut vernetzt in der Pariser Kulturszene, pflegte regen Kontakt mit bildenden Künstlern und Musikern. Hector Berlioz, sein einstiger Mitstudent, war ein enger Freund; er und Chopin lobten Kammermusikwerke von Reber.

    Doch ihre Zahl ist überschaubar: Sieben Klaviertrios, zwei Streichquartette, Klaviermusik, hinzukommen vier Sinfonien, weltliche und geistliche Vokalmusik, Ballettmusik und ein halbes Dutzend Opern. Den Großteil seiner Zeit und sicher auch Energie verwendete Reber nicht aufs Komponieren, sondern auf das Unterrichten: Er kehrte 1851 als Professor für Harmonielehre an das Pariser Konservatorium zurück, elf Jahre später folgte eine Professur für Komposition. Zur gleichen Zeit erschien die Erstausgabe seiner berühmten Harmonielehre: "Traité de l’harmonie", ein knapp 300 Seiten starkes, detailreiches Lehrbuch, in dem Reber musiktheoretische Grundlagen erläuterte. Und auch hier wieder ohne die Ambition, das Neueste vom Neuen darstellen zu wollen. Vielmehr richtete Reber, wie schon in der Praxis, auch in der Theorie den Blick zurück in die Musikgeschichte. Im Vorwort seines Traktats schreibt er:

    "Der Verfasser ist davon überzeugt, dass die Schullehre dazu beitragen soll, weiterhin mit größtmöglicher Reinheit zu komponieren; deshalb respektiert er die Traditionen und allgemein üblichen Regeln, aus denen sich der Stil aller großen Meister gebildet hat."

    Rebers Harmonielehre wurde zum Standardwerk, um nicht zu sagen "zum Klassiker". Doch bei aller Rückbesinnung auf die alten Meister, ist Napoléon-Henri Reber mit seiner Musik nicht komplett aus der Zeit gefallen. Bei Harmonie, Form und Struktur hat er sich nicht weit aus dem Fenster gelehnt, doch inhaltlich war er sehr wohl im 19. Jahrhundert angekommen.

    Reber: Trio für Klavier, Violine und Violoncello Nr. 7 a-Moll, op. 37, IV. Allegro non troppo

    Emotionen im Überschwang, ein Ausbruch folgt dem nächsten im Schlusssatz von Rebers Klaviertrio Nr. 7. Auf die Anspannung folgt Entspannung: Lyrisch, geradezu volksliedartig wird der Erregung etwas entgegengesetzt.

    Reber: Trio für Klavier, Violine und Violoncello Nr. 7 a-Moll, op. 37, IV. Allegro non troppo

    Das "Trio Élégiaque" trägt seinen Namen zu Recht: Elegische Passagen spielt es mit besonderer Hingabe, doch in gleichem Maße stürzen sich die drei Preisträger großer internationaler Wettbewerbe in die turbulenten Ecksätze. Sie wissen das Besondere aus Rebers Musik herauszukitzeln, verblüffen mit rasenden Tempi, sorgen immer wieder für den adäquaten rhythmischen Kick. Kurzum: Der Pianist François Dumont, der Geiger Laurent Le Flécher und die Cellistin Virginie Constant – sie geben dem Affen Zucker und bewahren Rebers Musik davor, ins allzu Feine, Elegante, Salonhafte und womöglich Brave abzudriften. Und damit erweist das "Trio Élégiaque" den Werken von Napoléon-Henri Reber die Ehre, die ihnen gebührt. Es ist höchste Zeit, sie wiederzuentdecken, ganz egal, ob sie nun im 19. oder im 18. Jahrhundert geschrieben wurden. Das in Venedig beheimatete Zentrum für französische Musik der Romantik mit dem wohlklingenden Namen "Palazzetto Bru Zane" hat das offensichtlich erkannt und die Aufnahme des "Trio Élégiaque" gefördert. Vier weitere Klaviertrios von Reber gibt es. Hoffen wir also auf eine Fortsetzung der Zusammenarbeit des "Palazetto Bru Zane", des CD-Labels Timpani und des "Trio Élégiaque".

    Reber: Trio für Klavier, Violine und Violoncello Nr. 3 g-Moll, op. 16, II. Adagio cantabile

    Drei Klaviertrios von Napoléon-Henri Reber hat das "Trio Élégiaque" aus der Versenkung geholt, doch ihre neue Einspielung bei dem CD-Label Timpani ist keine bloße Repertoirepflege, sondern besitzt hohen interpretatorischen Eigenwert.


    Musik:
    Napoléon-Henri Reber - trios nos 3, 5 & 7 - Trio Élégiaque
    Interpret: Trio Élégiaque
    Label: Trimpani
    LC: 10902
    EAN-Nr.: 3377891312053
    Bestellnummer: Timpani 1C1205