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Freiheit für Beat-Musik

Am 31. Oktober 1965 gingen in Leipzig Hunderte Teenager auf die Straße und protestierten gegen das kurz zuvor verhängte staatliche Verbot fast sämtlicher Beatbands der Region. Das Ereignis ist als "Leipziger Beataufstand" oder "Beatdemo vom Leuschnerplatz" in die Geschichte eingegangen. Zwar wurde das Thema von den Medien der DDR totgeschwiegen, doch in den Archiven der SED, der Stasi und der Volkspolizei ist viel darüber zu finden. Yvonne Liebing hat diese Quellen ausgewertet.

Von Michael Rauhut | 16.01.2006
    Ende 1965 landete ein erschütterndes Geheimdokument in Berlin. Es rapportierte den Freitod eines Leipziger SED-Genossen, dessen Sohn Flugblätter hergestellt hatte. "Freiheit für Beat-Musik" forderte er mit kindlicher Handschrift. Die Tat flog auf, der Junge wurde inhaftiert. Sein Vater vertraute sich dem Parteisekretär an, er ging zum Staatsanwalt und wurde dort, wie im Protokoll notiert, "nicht sehr gut behandelt". Danach fiel er in eine tiefe Depression und erhängte sich. Drei Tage später wurde sein Sohn aus dem Gefängnis entlassen. Der Bericht vermerkt lakonisch:

    "Der Junge soll an sich ein netter, sauberer Kerl gewesen sein mit einer Lehrstelle, also kein Gammlertyp."

    Sie haben nachhaltige Spuren hinterlassen, die Herbsttage von 1965 – Spuren in etlichen Biografien, aber auch im kollektiven Gedächtnis der Leipziger Beatfans. Ihre Stadt verwandelte sich über Nacht von einer Hochburg in musikalisches Ödland. Fast 90 Prozent der Leipziger Beatbands wurden im Oktober 1965 verboten. Ein Kahlschlag, der weitaus tiefere Ursachen hatte als den kulturellen Konflikt der Generationen. Die Jugendpolitik des Staates war nach einer kurzen Phase der Liberalisierung in eine neue Eiszeit gekippt; und die Beatmusik musste als populistisches Argument für das Wendemanöver herhalten. Die FDJ hatte die jungen Bands gefördert – nun blies sie zum Rückzug. Horst Schumann, 1. Sekretär des Zentralrates der FDJ, auf der berüchtigten 11. Tagung des ZK der SED im Dezember 1965:

    "Wir bemerkten schon im Sommer 1964 das Anwachsen der Zahl solcher Gruppen, und wir sahen auch, dass viele nachäfften, was aus dem Westen kam. Es gab lange Diskussionen und Konsultationen, nur entschieden wurde nichts. Und dann suchten Genossen im Zentralrat das Positive und verfielen, man kann das nicht anders nennen, in prinzipienlose Philosophiererei: Die Beatmusik sei eine internationale Welle, hinge mit der technischen Revolution zusammen und widerspräche nicht dem sozialistischen Lebensgefühl. Wir gaben damit, gewollt oder nicht, den Zurückgebliebensten die Bühne frei. Die Nachahmer der westlichen Dekadenz wurden ermuntert und zogen auch eine Reihe solcher mit, die gar nicht von Anfang an so liiert waren."

    In Leipzig tauchten Flugblätter auf:

    "Beat-Freunde! Wir finden uns am Sonntag, den 31.10.65, 10 Uhr auf dem Leuschnerplatz zum Protestmarsch ein."

    Der Aufruf verfehlte seine Wirkung nicht. Interne Berichte meldeten eine Ansammlung von etwa 2.500 Personen in der Leipziger Innenstadt.

    "Unter diesen befanden sich zahlreiche Genossen und FDJ-Funktionäre, Sicherheitskräfte in Zivil usw. Jugendliche Anhänger der Beat-Gruppen waren ca. 500 bis 800 anwesend."

    Beteiligte erinnern sich an eine friedliche und eher stille Zusammenkunft, die das Prädikat "Demonstration" gar nicht verdient. Doch der Staat reagierte mit Gewalt. Wolfram Koschek, damals 17 Jahre alt und einer von 16 Zeitzeugen, die für das Buch "All You Need Is Beat" interviewt wurden:

    "Jetzt kommen die mit Schützenpanzerwagen, mit Maschinenpistolen, die Planen ab, SMG oben drauf, es war schon so wie ein halber Kriegszustand. Wie man das vielleicht gesehen hatte in irgendwelchen Staaten, wenn wirklich, sagen wir mal, Randale war. Und ein Wasserwerfer, den ich vorher noch nie gesehen hatte – vielleicht mal im Ernst-Thälmann-Film."

    279 Jugendliche wurden verhaftet, acht von ihnen landeten hinter Gittern, 139 im Arbeitslager. Per Rundschreiben informierte Staatschef Walter Ulbricht alle Bezirkssekretäre der SED über die Vorkommnisse und stellte klar,

    "dass mit Hilfe der so genannten Beat- und Gammler-Gruppen ideologische Zersetzungsarbeit geleistet werden soll".

    Die Autorin Yvonne Liebing thematisiert mit ihrem Buch "All You Need Is Beat" die regionale Durchschlagskraft der großen Politik. Sie fügt der zentralen Perspektive, die in der Aufarbeitung von DDR-Geschichte dominiert, den Fokus der Mikroebene hinzu. Ihre Studie widmet sich jugendlichem Widerstand, wie er unter dem Einfluss von Rock ’n’ Roll und Beatmusik in den Fünfziger- und Sechzigerjahren Gestalt annahm. Der Leser erfährt eine Fülle von Details über den kulturellen Alltag jenseits der staatlich abgesteckten Bahnen. Er wird in Organisationsstrukturen des musikalischen Undergrounds eingeweiht, erhält Einblick in die Schlachtpläne von SED und Stasi und bekommt so manches Paradebeispiel für Verweigerung und Zivilcourage präsentiert. Bislang kaum bekannte Kapitel ostdeutscher Alltagsgeschichte widerlegen das Klischee der "durchherrschten Gesellschaft". Dazu gehören die Aktivitäten von Piratensendern an der Peripherie der Messemetropole, die Existenz von Jugendcliquen und deutsch-deutschen Fanclubs oder eine Demonstration für Elvis Presley. Im Mai 1958 zogen an die hundert Teenager mit einem Transparent durch die Straßen einer Kleinstadt im Bezirk Leipzig:

    "Elvis Presley – das Idol! Wir wollen nur noch Rock and Roll!"

    Yvonne Liebing hat in den einschlägigen Archiven recherchiert, Zeitzeugen befragt und die umfangreiche Sekundärliteratur ausgewertet. Sie behandelt ihre Quellen seriös und plädiert für einen sachlichen Ton. Überinterpretationen erteilt sie eine Absage.

    "Also vorher hieß es noch: "Beatfreunde, wir treffen uns zum Protestmarsch!" Und nachdem es sozusagen gewaltvoll beendet wurde, dann hieß es: "Nieder mit Ulbricht!" Dann wurde halt konkret das System angegriffen, und dann ist man halt einfach nur aus Provokation in die Rolle des Staatsfeindes getreten. Was man eigentlich aber nicht vorhatte.'"

    Yvonne Liebings Buch "All You Need Is Beat" ist eine Fleißarbeit. Der Untertitel, "Jugendsubkultur in Leipzig", suggeriert eine theoretische Fundierung, was aber nicht eingelöst wird. Mit der Kategorie "Subkultur", die in jahrzehntelangen Diskursen geschärft wurde, setzt sich die Autorin lediglich in einer Fußnote auseinander und verwendet sie eher in reduzierter Form, im Sinne von "subversiv". Unklar bleibt auch die Verwendung von Begriffen wie "Gegenkultur", "Beatniks" oder "Halbstarke". Skepsis ist ebenso bezüglich der von ihr präsentierten Zahlen angebracht. Die Verfasserin operiert eins zu eins mit Archivmaterial und fragt nicht, inwiefern etwa die Statistiken zur Jugendkriminalität auch politische Akzente tragen und von der Intensität der Wahrnehmung abhingen. Und wenn sie eine "totale Absage der SED an die Unterhaltungskultur des Westens in den Fünfzigerjahren" behauptet, offenbart das eine fatale Begrenztheit des Horizonts. Denn tatsächlich war die massenwirksamste populäre Musik, der Schlager, durch und durch westlich geprägt. Zweifelhaft ist auch das Ausschließlichkeitsprinzip der Interviews. Zu Wort kommen Beatfans, Musiker und Manager – die Gegenseite der Funktionäre und Sicherheitsleute wird komplett ausgespart. Und so bleiben etliche der alten, seit 15 Jahren immer wieder gestellten Fragen unbeantwortet. Die Idee der Leipziger Beatdemo entsprang den Köpfen frustrierter Teenager. Das ist mittlerweile belegt. Ob ihr Verlauf und Ausgang wirklich nach dem Zufallsprinzip funktionierte oder von langer Hand eingefädelt war, um die vermeintlichen "Anführer des Beatkults" kassieren zu können und Argumente gegen die jugendpolitische Liberalisierung zu sammeln, das bleibt weiterhin offen.

    Michael Rauhut über Yvonne Liebing : "All You Need Is Beat" Jugendsubkultur in Leipzig 1957 bis 1968. Das Buch kommt aus dem Leipziger Forumverlag, 152 Seiten zum Preis von 14 Euro und 80 Cent.