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Freiheit, Gleichheit, Kunstraub

Kunstraub gab es schon zu biblischen Zeiten. Weitaus systematischer aber wurde Kunst nach den Revolutionskriegen geraubt - über den großen Beutezug für den Louvre berichtet Bénédicte Savoys neuestes Werk.

Von Günter Müchler | 11.04.2011
    Um es vorweg zu sagen: Dieses Buch ist ausgezeichnet, gut geschrieben und spannend zu lesen. Die beigefügte CD-ROM, auf der die Objekte der berühmten Pariser Beutekunstausstellung aus dem Jahre 1807 zu sehen sind, hat Eigenwert. Umso mehr schmerzt es, auf einen irreführenden Fehler zu stoßen, noch ehe die Lektüre beginnt. "Kunstraub. Napoleons Konfiszierungen in Deutschland und die europäischen Folgen", lautet der Titel der deutschen Ausgabe, und der ist falsch.

    Der Kunstraub des revolutionären Frankreich begann 1794. Zu diesem Zeitpunkt hatte Napoleon gerade seinen ersten militärischen Achtungserfolg bei der Belagerung von Toulon hinter sich und besaß weder Ehrgeiz noch Möglichkeit, sich zum Paten des organisierten Kunstraubs aufzuschwingen. Warum der Verlag die geschichtliche Abfolge so durcheinanderbringt, wissen die Götter. An der Autorin liegt es nicht. Sie weist überzeugend nach, dass Napoleon für die von ihm veranlassten Beutezüge Pfade benutzte, die längst eingetreten waren, von der Revolution nämlich.

    "Freiheit - Gleichheit – Französische Republik. Das dritte Jahr der Einen und Unteilbaren Republik, den 18. Vendémaire. Ich, P. Tinet, Mitglied der agence de commerce et approvisionnement, eingerichtet bei der Nordarmee und der Ardennenarmee auf Beschluss des Wohlfahrtsausschusses vom vergangenen 24. Floréal für die Extraktion von Objekten aus Handel, Wissenschaft und Kunst in den eroberten Ländern, habe mich in die Kirche Sankt Peter zu Köln begeben, um dort ein Gemälde von Rubens entfernen zu lassen, welches die Kreuzigung Petri darstellt. Es misst zehneinhalb Fuß in der Höhe sowie sieben Fuß und ein Zollbreit in der Länge ... ."

    Der Auszug eines Beschlagnahmeprotokolls vom 9. Oktober 1794. In diesen Tagen hatte sich die siegreiche Armee der Republik gerade Köln einverleibt. In ihrem Tross marschierten nicht nur Marketenderinnen, sondern auch Kommissare sogenannter Extraktions-Behörden. Diese hatten den Auftrag, im eroberten Gebiet Schlösser und Kirchen nach interessanten Kunstgegenständen zu durchforsten. Bei dem Beutezug, an dem jener Monsieur Tinet beteiligt war und in dessen Verlauf Aachen, Köln, Bonn und Koblenz heimgesucht wurden, fiel reiche Beute an:

    "Mehrere tausend Drucke und Handschriften, mehr als 6.000 Meisterzeichnungen und 20.000 druckgraphische Blätter, antike Säulen, Münzen und Medaillen, römische Sarkophage, alte Artilleriestücke, wertvolle Steine und andere minderalogische Objekte."

    Der Raubzug war ganz anders motiviert als frühere, sagen wir, Umsiedlungen von Kulturgut im Gefolge von Kriegen. Nicht Raffgier leitete Monsieur Tinet und die übrigen Kommissare an. Es jagten nicht uniformierte Glücksritter nach Trophäen. Hier raubten Staatsbedienstete im Auftrag der Revolutionsregierung und als Agenten der Freiheit. Rechtfertigende Doktrin war die des "befreiten Kulturerbes". Dieses theoretische Konstrukt verlangte nach den Worten der Autorin,

    "dass die Meisterwerke der Kunst vom Joch der Tyrannen zu befreien seien und ihre Verschickung nach Frankreich für sie einer Rückkehr ins Leben gleichkomme".

    Es waren der Messianismus der Revolution und ihr Universalitätsanspruch, die dem Kunstraub den ideologischen Überbau und damit seine Einzigartigkeit gaben. Ob die Gesetzgeber im Konvent oder die ausführenden Kommissare wirklich glaubten, dass Kunstwerke sich gleichsam "enttyrannisieren" lassen, steht dahin. Der Idealismus, der in den ersten Jahren nach dem Bastillesturm vorhanden war und der den Revolutionsarmeen ungeahnte Kräfte zuführte, schmolz im Laufe der Jahre dahin wie der Schnee unter der Sonne. Am Ende dienten die Ideale nur noch als Tarnung für das, worum es wirklich ging: um das Recht des Stärkeren.

    Das Recht des Stärkeren praktizierte auch Napoleon. Als neuer Oberbefehlshaber der Italien-Armee griff er 1796 in das Geschäft des Kunstraubs ein. Obwohl ihm der Missionsgeist der Revolution fremd war, scheute er sich nicht, das Befreiungspathos für seine Zwecke einzusetzen. Das konnte der Zahlungsmoral der Befreiten nur auf die Sprünge helfen. Denn zahlen mussten sie, allen voran die reichen piemontesischen Städte, weil das Direktorium Geld brauchte.

    Als Konsul und Kaiser setzte Napoleon den Kunstraub fort, als Fortsetzer der Revolution. Sein Kunstbeauftragter war Dominique-Vivant Denon. Er hatte Napoleon schon bei der Expedition nach Ägypten begleitet. In der Kaiserzeit durchforstete er als "Auge Napoleons" die unterworfenen oder in Abhängigkeit gebrachten Länder, erst Deutschland, dann Spanien, schließlich Österreich. Was er einsammelte, wurde der revolutionären Gemäldesammlung im Louvre einverleibt, die Denon zum weithin bewunderten Musée Napoléon ausbaute. Unter anderem "erleichterte" er das Kasseler Fridericianum um die kostbarsten Gemälde. Eines davon, Rubens "Triumph des Siegers" kürte der Kaiser der Franzosen zu seinem Lieblingsbild.

    Bénédicte Savoy, die sich in ihrem Kunstraub-Tableau auf Deutschland beschränkt, arbeitet sehr genau Motive, Phasen und Akteure der Raubpolitik heraus. Ein großes Kapitel ist der Restitution der Beute gewidmet, die 1814/15 mit dem Fall des Empire einsetzte. Am interessantesten ist der Abschnitt über die Wechselbeziehungen zwischen Eroberern und "Lieferanten". Die Autorin legt dar, dass - mangels öffentlicher Meinung und weil ein Sinn für das Kulturerbe noch gar nicht existierte - die Beutezüge zunächst schulterzuckend hingenommen wurden.

    Friedrich Schlegel durchwanderte enthusiastisch das Musée Napoléon. Er war nicht der einzige deutsche Intellektuelle, der die Zentralisation so vieler Kulturgüter in Paris ohne Einschränkung bejahte. Es war die List der Geschichte, die dieser kosmopolitischen Haltung den Boden entzog: So wie die Besatzungspolitik der selbst ernannten Befreier bei den Befreiten den aggressiven Nationalgeist weckte, so weckte der Kunstraub bei den Beraubten das Bewusstsein dafür, dass Bilder, Statuen und Bibliotheken zur nationalen Identität gehören. Das Kulturerbe wird zum nationalen Proprium. Also verlangten die Sieger nach der Niederwerfung Napoleons ihre Kunst zurück, schon der Rache wegen.

    Selbst der alte Blücher griff zu. Des Kunstsinns unverdächtig, ließ er, als Besatzer in Paris, Davids "Bonaparte beim Überschreiten der Alpen am Großen Sankt Bernhard" mitgehen – wahrscheinlich, weil dem Reitergeneral das Ross gefiel, das in Wahrheit ein Maultier war. Die Heimholung der nach Preußens Katastrophe von 1806 vom Brandenburger Tor abmontierten Quadriga wurde zum preußisch-nationalen Hochamt. Gefeiert wurde auch in Köln. Am 18. Oktober 1815, am Jahrestag der "Völkerschlacht" von Leipzig, kehrte die "Kreuzigung Petri" zurück, die Monsieur Tinet namens des Wohlfahrtsausschusses 21 Jahre zuvor in der Kirche Sankt Peter beschlagnahmt hatte.

    Benedicte Savoy: Kunstraub.
    Napoleons Konfiszierungen in Deutschland und die europäischen Folgen.

    Böhlau Verlag, 529 Seiten, € 49,00
    ISBN 978-3-205-78427-2