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Freiheit im Internet

Dass in Russland eine äußerst repressive Medienpolitik herrscht, ist bekannt. Anders das Internet. Hier entwickelte sich in den letzten Jahren eine sehr aktive Blogger-Szene, weitaus aktiver als die im Westen. Fast jeder namhafte Journalist oder Künstler betreibt einen Blog, in dem er gesellschaftliche und politische Ereignisse kommentiert. Das Internet gilt in Russland als weitgehend frei von staatlichen Eingriffen - und wird so zum Hoffnungsträger.

Von Annette Bräunlein | 09.12.2009
    Zum dritten Mal tippt Anton Nosik heute einen Eintrag in sein Blog. In einer Hotel-Lobby in der südrussischen Stadt Rostow am Don wartet er darauf, dass die Podiumsdiskussion beginnt, auf der er einmal mehr über die russische Blogosphäre reden wird.

    Denn Anton Nosik ist einer der bekanntesten russischen Blogger. Seit über zehn Jahren betreibt der 43-Jährige sein Netz-Tagebuch. Außerdem entwarf der Online-Journalist einige der führenden Nachrichten-Webseiten Russlands. Mit Laptop und Handy ist Nosik ständig online. Gerade notiert er, dass auch der armenische Präsident im Hotel zu Gast ist. Doch neben Alltäglichem spricht er in seinem Web-Tagebuch auch Themen an, über die sonst nur wenige zu schreiben wagen: die ausufernde Bürokratie, Gesetzesverstöße der Miliz und die allgegenwärtige Korruption. Zum Beispiel bei der Vergabe von staatlichen Aufträgen an Privatunternehmen.

    "Der Staat ist verpflichtet, öffentliche Aufträge im Internet auszuschreiben. Aber die Beamten wollen natürlich keinen Wettbewerb, sie wollen, dass der Auftrag an den geht, der sie besticht. Deshalb haben sie in den Texten einzelne kyrillische Buchstaben durch lateinische ersetzt, damit man den Auftrag bei der Internetsuche nicht findet. Die Blogger haben sich darüber beim Präsidenten beschwert. Der ließ Aufträge noch mal neu ausschreiben. Und die gingen dann an Unternehmen, die beim ersten Mal nicht dabei waren, weil sie nichts davon wussten."

    Die Zeitungen griffen das Thema erst auf, als es in der Blogosphäre schon bekannt war. Rund eine halbe Million Blogger gibt es in Russland, statistisch gesehen einen auf rund 300 Einwohner. Doch die Szene ist sehr agil, die Autoren rund dreimal so aktiv wie ihre Kollegen im Westen. Eine der ersten, die sich wissenschaftlich mit dieser Szene beschäftigt, ist Ljudmila Fadeewa, Professorin für Politologie an der Universität Perm. Seit drei Jahren beobachtet sie die russische Blogosphäre:

    "Die Leute fühlen sich freier als in den offiziellen Medien. Außerdem sind sie wendiger, schneller. Deshalb gibt es sehr große Hoffnungen, dass sich die Blogosphäre zu einem alternativen Massenmedium entwickelt. Aber inwieweit das tatsächlich Wirklichkeit wird, ist bislang noch schwer zu sagen, weil sich die meisten Blogger nichtgesellschaftlichen, nichtpolitischen Themen widmen."

    Nur etwa zehn Prozent von ihnen beschäftigen sich mit politischen Fragen. Aber die sprechen Missstände umso offener an. Jüngstes Beispiel: die Kommentare zum programmatischen Brief "Vorwärts Russland!" von Präsident Medwedew an sein Volk, in dem der eine Modernisierung von Gesellschaft und Wirtschaft anmahnt:

    "Einige kritisieren diesen Brief sehr scharf, sprechen von Demagogie, Verlautbarungen und Geschwätz; dass der durchschnittliche russische Bürger angesichts der Äußerungen des Staates nur Ohnmacht und Sorge um sein Land empfindet. In den meisten offiziellen Medien könnte man so etwas nicht schreiben."

    Gänzlich frei ist allerdings auch das russische Internet nicht. Provider müssen dem Inlandsgeheimdienst Zugriff zu allen Daten gewähren. Immer wieder werden Überlegungen der Regierung publik, das Internet stärker zu kontrollieren. Obwohl es bereits einzelne Urteile gegen Blogger gab, macht sich Anton Nosik keine Sorgen. Wie viele seiner populären Kollegen schreibt er unter seinem eigenen Namen:

    "Ich sehe keine Beispiele dafür, dass jemand ernsthaft gelitten hätte für das, was er schreibt; dass er getötet worden wäre, entführt oder ins Gefängnis gesteckt. Wir leben eben doch nicht in China und nicht im Iran."

    Das größte Hindernis für eine alternative Öffentlichkeit im russischen Internet ist momentan der Zugang dazu. 95 Prozent der Nutzer leben in den wenigen großen Ballungszentren, wie Moskau oder St. Petersburg. Im Rest des weiten Landes ist ein Netzanschluss meist sehr teuer und langsam. Blog-Forscherin Ljudmila Fadeewa:

    "In einer kleinen Siedlung kostet ein Internet-Anschluss meist tausend Rubel, das ist für viele überhaupt nicht bezahlbar, das ist oft ungefähr ein Monatseinkommen."

    Unter anderem deshalb vergleichen manche die heutige russische Blogosphäre mit den sowjetischen Küchen, in denen die machtlose Intelligenzija saß und Partei und Regierung kritisierte. Doch Anton Nosik hofft, dass sich das Internet weiter so rasant verbreitet wie in den vergangenen Jahren. Schon heute sind die Blogger für ihn alles andere als ohnmächtig.

    "Viele Prozesse werden transparenter. Wenn eine Geschichte, die im Geheimen abläuft, plötzlich öffentlich wird, wenn die Leute anfangen, über sie zu sprechen, die Zeitungen beginnen, über sie zu schreiben, dann haben Blogs einen Einfluss, auch auf das Bewusstsein der Leute."

    Anton Nosik und Ljudmila Fadeewa hoffen, dass solche Erfahrungen langfristig über die Blogosphäre hinaus wirken: dass die Gesellschaft demokratischer wird und damit letztlich auch die Presse freier.