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Freiheit, Toleranz oder Menschenwürde

Vier Jahre erforschten Wissenschaftler wie ein "Humanismus im Zeitalter der Globalisierung" aussehen könnte. Sie untersuchten, ob Werte universell und über Religionsgrenzen hinweg identisch seien.

Von Ingeborg Breuer | 20.01.2011
    "Es gibt weltweit so eine Haltung, das Gefühl der Untergeordnetheit. Wo man das Gefühl hat bei anderen Kulturen und gerade auch bei Intellektuellen, ... die Geschichte der überseeisch-europäischen Begegnung ist eine asymmetrische Geschichte, wo der Westen oben war und die anderen unten. Und das wirkt bis heute nach."

    Christoph Antweiler, Ethnologe an der Universität Bonn.

    "Wir haben in Kairo in der Bibliotheca Alexandria eine Tagung gemacht über das Thema "Humanismus im Islam". Und da musste ich die Erfahrung machen, dass es unter führenden Kollegen Ressentiments gegen den Westen gibt ... Das ging so weit, dass bei dieser Veranstaltung sogar Hassrede passieren konnte, so dass ich unter Protest fast den Saal verlassen habe."

    Jörn Rüsen, langjähriger Präsident des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen

    "Sie haben ja vorhin über die offizielle chinesische Position in der Menschenrechtsfrage gesprochen. Ein wichtiger Aspekt ist sozusagen die Retourkutsche. Zu sagen, was macht ihr denn eigentlich alles falsch, gerade gemessen am Maßstab der Menschenrechte? Und vor allem, was habt ihr historisch uns und den anderen angetan?"

    Heiner Roetz, Chinawissenschaftler an der Universität Bochum.

    Offensichtlich ist es nicht ganz einfach, andere Kulturen von 'unseren‘ Werten zu überzeugen. Denn die werfen 'dem Westen' vor, dass er seine Werte - Werte wie zum Beispiel Toleranz, individuelle Freiheit, die Menschenrechte - der ganzen Welt aufzwingen will. Sind unsere Werte also "eurozentrisch", wie der Vorwurf lautet? Oder muss man im Gegenteil an der universalen Verbindlichkeit dieser Werte festhalten, auch wenn sie sich - zufälligerweise? - im Westen entwickelt haben?

    Unter der Leitung des Historikers und Kulturwissenschaftlers Professor Jörn Rüsen erforschten Wissenschaftler vier Jahre lang, wie ein "Humanismus im Zeitalter der Globalisierung", aussehen könnte. Debattierten auf internationalen Konferenzen mit Kollegen aus aller Welt darüber, ob es kulturübergreifende humanistische Normen gibt. - Was aber ist überhaupt "Humanismus"? Es war vor allem die Aufklärung, die das, was den Menschen auszeichnet, deutlich formulierte:

    "Die klarste Antwort hat Kant gegeben: jeder Mensch ist nicht nur Mittel für die Zwecke anderer, sondern auch Zweck für sich selbst. Mit dieser Qualität kommt jedem Menschen Würde zu. Das ist für mich Humanismus.""

    Jedem Menschen? Auch Kant, der Philosoph der Aufklärung befand, dass, so Zitat, "die Negers von Afrika ... von der Natur kein Gefühl (hätten), welches über das Läppische stiege." Über Jahrhunderte bestimmte der Westen mit imperialer Gewalt, wer überhaupt als Mensch anzusehen war. Indianer und Afrikaner offensichtlich nicht, deswegen konnten sie ja dann auch versklavt werden. Es herrschte also die Meinung vor,

    "Unser Menschsein ist das wahre Menschsein, die anderen sind auch Menschen, aber nicht so richtig. Das ist im Westen evident, das nennt man Ethnozentrismus. Aber man sollte nicht übersehen, dass das in allen anderen Kulturen auch so war. Nur, wir hatten mehr Macht, die anderen für unterentwickelt zu halten. Nur ... das ist vorbei. Denn wenn das alle tun, dann bedeutet das, dass der andere der nicht ganz so menschliche Mensch ist. "

    Wenn man heute über gemeinsam geteilte - humanistische - Werte sprechen will, so darf man die Unterschiede in den Lebensformen, Religionen und Rechtssystemen nicht ausklammern. Zu glauben, man könne - wie der Theologe Hans Küng es etwa mit seinem Projekt "Weltethos" versucht - humanistische Ideen in allen Religionen und Kulturen finden und müsse daraus dann nur global verbindliche Regeln ableiten, hält Jörn Rüsen für verfehlt. Um vieles muss erst einmal gerungen werden, vieles muss erst einmal gemeinsam erarbeitet und dann - wenn es gut geht - akzeptiert werden.

    "Wir sind alle Brüder und Schwestern, nein! Es geht um Regeln, die wir akzeptieren können, weil sie das gemeinsame Überleben irgendwie sichern. Die kann man nicht aufschreiben, so wie im Projekt Weltethos. Da muss man arbeiten, die entstehen erst, wenn man sich produktiv unter dieser neuen Idee eines neuen inklusiven Humanismus zusammensetzt."

    Auch der Bonner Ethnologe Professor Christoph Antweiler, dessen Buch "Mensch und Weltkultur" gerade erschien, warnt davor, gemeinsam geteilte Orientierungen, Normen und Werte in andere Kulturen einfach "hineinzusehen". Er weist darauf hin, dass es sogar bei Werten, die der Westen für unverzichtbar hält, keineswegs globale Einigkeit gibt.

    "Ich würde sagen, man sollte ganz realistisch sein, dass es ein paar ganz heiße Eisen gibt, die bis heute nicht gelöst sind. Das ist zum Beispiel die Gleichheit zwischen Männern und Frauen, das ist die Frage, inwiefern Altersgruppen unterschiedlich behandelt werden. Da gibt's ein paar grundlegende Unterschiede, an denen muss man arbeiten. "

    Trotzdem möchte Christoph Antweiler keineswegs einem uferlosen Relativismus das Wort reden. Die Menschen leben nicht in voneinander getrennten, verschiedenen Welten. Sie leben vielmehr: verschieden in einer Welt.

    "Kulturen wie auch Religionen ...unterscheiden sich dadurch, dass sie bestimmte Fragen oder Probleme, die es bei allen gibt, unterschiedlich stark konturieren, bearbeiten. ... Es gibt grundlegende Gemeinsamkeiten zwischen Menschen und die hängen damit zusammen, dass wir Organismen sind, Organismen mit verschiedenen Bedürfnissen. Und Gesellschaften haben auch Bedürfnisse, die sich ähnlich sind."

    Als Organismen mit bestimmten körperlichen Bedürfnissen, meint der Bonner Völkerkundler, seien sich Menschen aller Kulturen weitgehend darüber einig, was Leiden ist. Tötung, Folter, Beraubung der Bewegungsfreiheit zum Beispiel sind schmerzliche Erfahrungen, die unmittelbar und sinnlich von allen Menschen geteilt werden. Ein Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit oder Freiheit von Unterdrückung sei deshalb allen Menschen gemeinsam. Und daraus könne man allgemeingültige Kernwerte ableiten, die letztlich zu einer Formulierung von Menschenrechten führten.

    "Das hängt damit zusammen, dass wir Organismen sind, dass wir bestimmte Bedürfnisse haben. Und deswegen glaube ich, dass so ein Kernwert (existiert), wie die körperliche Freiheit, wie die Freiheit davor, dass körperliche Rechte eingeschränkt werden, dass es keine Folter geben darf, keine Einschränkung der Bewegungsfreiheit geben darf. Also, körperliche Unversehrtheit ist ein Kernwert, von dem man zeigen kann, dass der in allen Kulturen wichtig ist."

    Zwar räumt Christoph Antweiler ein, dass bestimmte humanistische Positionen für ihn nicht in Frage zu stellen seien. Rassistische Ideen etwa, die andere Menschen herabsetzen oder die Ungleichbehandlung von Frauen seien für ihn unakzeptabel. Und dennoch könne man anderen Kulturen die eigenen Werte nicht einfach - sozusagen in imperialer Manier - aufzwingen. Sie verbreiteten sich vielmehr dadurch, dass man sie attraktiv mache und sie dann möglicherweise nachgeahmt würden. Oder man müsse über Werte "verhandeln": Argumente austauschen und gegeneinander abwägen, moralische Aussagen interpretieren und reinterpretieren.

    Mit Interpretation und Argument versucht auch Heiner Roetz, Professor für Geschichte und Philosophie Chinas, Vorstellungen individueller Menschenwürde in der chinesischen Tradition zu belegen. Mehr und mehr greife man in China auf die annähernd 2500 Jahre alten Lehren des Konfuzius zurück, um das dortige politische System zu legitimieren - da sich die sozialistische Ideologie bereits seit geraumer Zeit nicht mehr dazu eigne. Und das konfuzianische Menschenbild, so heißt es dann, hebe sich vom westlichen Individualismus deutlich ab.

    "Es wird häufig damit operiert, dass der Westen ein atomistisches Menschenverständnis habe. Und dann kommt man sofort zum Individuum, dessen Rechte geschützt werden müssen gegen das Kollektiv. Und in China soll es kein atomistisches Menschenbild geben, sondern ein gemeinschaftliches ... und daraus wird mehr oder weniger ein Primat von Gemeinschaftsinteressen gefordert."

    Der Primat von Gemeinschaftsinteressen erlaubt dann eine Engführung von Menschenrechten, die in der Tat seit 2004 in der chinesischen Verfassung verankert sind. Aber eben nur dergestalt, dass das fundamentale Menschenrecht das "auf Sicherstellung der materiellen Lebensgrundlagen" ist, bürgerliche Freiheitsrechte aber außen vor bleiben. Zu dem ergibt sich aus der Bestimmung des Menschen als vor allem soziales Wesen ein deutlich liberalerer Umgang mit Stammzellen und Embryonen.

    "Wenn der Mensch erst als soziales Wesen ein Mensch ist, dann kann man daraus die Folgerung ziehen, dass es vor der Geburt kein ethisches Problem gibt in dem Sinne, dass zum Beispiel Stammzellenforschung ethisch problematisch wäre. Sondern den Menschen gibt es ja noch gar nicht, wenn er erst als soziales Wesen da ist."

    Auch unter Sinologen ist die Meinung verbreitet, Konfuzius und seine Schule kenne den Begriff eines Individuums gar nicht, das als Träger von Rechten gegen den Staat oder das Kollektiv in Frage käme. Sogar der Träger des Friedensnobelpreises 2010 Liu Xiaobo vertritt die Auffassung, dass die chinesische Tradition wenig mehr hervorgebracht habe als eine konformistische Sklavenmoral - und bekennt sich deshalb ausdrücklich zu einer Art westlichem Werteimport. Heiner Roetz aber widerspricht der Auffassung, der Konfuzianismus sei lediglich eine ordnungsfromme Ethik der Anpassung gewesen.

    "Dass der Mensch immer in einer Gemeinschaft steht, gegenüber der er Verpflichtungen hat, indem er bestimmte Rollen spielt, das heißt nicht, dass er damit zu einem Rädchen reduziert würde. Sondern es ist insbesondere im frühen Konfuzianismus ein besonderes Bewusstsein dafür da, dass jeder einzelne auch für sich noch einmal eine Verantwortung für alles hat, die er nur wahrnehmen kann, weil er sich gar nicht darauf verlassen kann, dass die Gemeinschaft ohne seine eigene Individualität überhaupt funktioniert."

    Klar dürfte sein: der Humanismus geht ins Leere, wenn das, was unter "human" zu verstehen ist, in das Belieben partikularer Kulturen gestellt wird. Doch gleichzeitig wird klar, dass die unterschiedlichen Sichtweisen auf den Menschen - und seine Rechte - tief, sehr tief, sitzen. Und auf der anderen Seite sind auch unsere "westlichen" Vorstellungen von Menschenrechten - trotz der vermeintlichen Anerkennung kultureller Unterschiede - in der Praxis kaum verhandelbar. Für uns ist nicht verhandelbar, dass alle Menschen gleich sind. Dass Männer und Frauen gleiche Rechte haben. Dass Staat und Kirche voneinander getrennt sein müssen. Das sieht auch Jörn Rüsen so:

    "Moderner Humanismus kann nur ein Humanismus in den Grundlagen einer säkularen Bürgergesellschaft sein. Das wird natürlich von Staaten, die sich islamisch verstehen, bestritten und entsprechend von den dort maßgeblichen Intellektuellen. Nur, es gibt ja Argumente, die ich mit islamischen Theologen diskutiert habe. Ich sag, wie wollen wir verhindern, dass Menschen im Namen Gottes unmenschlich behandelt werden? Dazu brauchen wir eine säkulare Vorstellung, auf die wir uns berufen können, um die Unmenschlichkeit religiös motivierten Verhaltens kritisieren zu können. Darauf hat der nur gesagt, Sie haben Recht. Und ich hab gesagt, dann können wir miteinander ins Geschäft kommen."

    "Es gibt ja Argumente", wie Jörn Rüsen gerade sagte. Man kann ja diskutieren über einen zukünftigen globalen Humanismus. Erreicht ist er jedenfalls noch lange nicht. Vielleicht sogar weiter entfernt, als man es zum Beispiel nach dem Ende des Kalten Krieges angenommen hatte. Das "Humanismus-Projekt" war der Versuch, dem drohenden Kampf der Kulturen durch Dialog zu begegnen. Ob man sich dabei wirklich näher gekommen ist - das sieht auch Jörn Rüsen skeptisch - vorerst zumindest.

    "Spontan lautet meine Antwort, nein, wir sind einander nicht näher gerückt. Wir haben einander schärfer wahrgenommen in unseren Unterschieden und ich sehe Chancen dass in der Schärfe der Wahrnehmung von ethnozentrischen Tendenzen und auch der verbundene Kritik daran auch eine Chance besteht, das zu überwinden."