Freitag, 19. April 2024

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Freilassung von US-Pastor Brunson
"Noch ist die türkische Justiz in einem desolaten Zustand"

Die überraschende Freilassung des US-Pastors Brunson aus türkischer Haft habe wirtschaftliche Gründe, sagte der Politologe Yasar Aydin im Dlf. Im Falle eines Antrags auf Hilfen beim IWF brauche die Türkei die USA. Doch es gebe auch außenpolitische Gründe für die Annäherung.

Yasar Aydin im Gespräch mit Silvia Engels | 13.10.2018
    Das undatierte Foto zeigt den Türkeiforscher Yasar Aydin.
    Im Fall Khashoggi attestiert der Politologe Yasar Aydin der Türkei "außenpolitisches Kalkül" (Marie Staggat/SWP Stiftung Wissenschaft und Politik/dpa)
    Silvia Engels: Zwei Jahre lang war US-Prediger Brunson in Untersuchungshaft und Hausarrest. Der Vorwurf lautete Spionage und Unterstützung einer Terrororganisation. Die Behörden hielten ihm Nähe zu kurdischen Gruppen vor und zur Gülen-Bewegung. Diese Gruppe macht ja Präsident Erdogan für den Putschversuch 2016 verantwortlich. US-Präsident Trump verlangte seit Jahren Brunsons Freilassung und hatte deshalb Sanktionen gegen die Türkei verhängt. Gestern wurde der 50-Jährige dann verurteilt, aber dennoch freigelassen.
    Am Telefon ist Yasar Aydin. Er ist Sozialwissenschaftler und Politologe an der Evangelischen Hochschule Hamburg, und er ist Kenner der politischen Verhältnisse in der Türkei. Guten Tag, Herr Aydin!
    Yasar Aydin: Guten Tag!
    Konfrontationskurs mit den USA kann sich die Türkei nicht leisten
    Engels: Die türkische Regierung argumentiert ja, es sei eine freie Entscheidung türkischer Gerichte gewesen, den Prediger Brunson als angeblichen Sympathisanten für Terrorbewegungen zwar zu verurteilen, aber auf freien Fuß zu setzen. Beobachter sehen das etwas anders. Die sehen dahinter eine klare Weichenstellung der türkischen Regierung. Wieso kommt Brunson ausgerechnet jetzt frei, nach diesem jahrelangen Streit mit den USA?
    Aydin: Es gibt dazu zwei Erklärungen. Die eine Erklärung wäre, zwischen den USA und der Türkei finden diplomatische Verhandlungen statt. Es gibt strittige Themen auf der Agenda, zum Beispiel Sanktionen gegen Iran oder der Umgang mit der PYD, eine gemeinsame Politik in Syrien. Es ist durchaus möglich, dass beide Parteien da nähergekommen sind, dass sie einen partiellen Durchbruch erzielt haben.
    Und eine weitere Erklärung ist der Faktor Wirtschaft. Die türkische Wirtschaft befindet sich in einer Vorphase einer Wirtschaftskrise, und da kann sich die Türkei, kann sich die Regierung nicht leisten, sich mit den USA auf Konfrontationskurs zu begeben. Stichwort Währungsverfall – die türkische Lira hat an Wert verloren gegenüber dem US-Dollar, und dabei waren auch die US-amerikanischen Sanktionen mitverantwortlich. Und die Türkei weiß auch, im Falle, dass die Türkei Kredite vom IWF benötigt, da kommt es auf die USA an. Deswegen will die türkische Regierung diesen Konfrontationskurs nicht weiterführen. So erkläre ich mir die Freilassung von Brunson.
    Engels: Also eine sehr stark wirtschaftlich –
    Aydin: Politisch und wirtschaftlich.
    NATO-Mitgliedschaft der Türkei habe nie in Frage gestanden
    Engels: Politisch und wirtschaftlich begründete Umorientierung. Lässt sich denn daraus auch ein genereller Kurswechsel der türkischen Führung wieder hin in Richtung USA oder Westen ableiten?
    Aydin: Die Türkei hat sich nicht vom Westen abgewendet. Es ist ein Fehlschluss, zu sagen, die Türkei hätte sich in der Vergangenheit vom Westen abgewendet. Es gab Konflikte zwischen der Türkei und den westlichen Verbündeten, mit der EU, mit den USA. Strittige Themen waren der Umgang mit der PYD, der Umgang mit dem IS in Syrien. All diese Fragen, all diese Spannungen und Konflikte sind nicht mehr so scharf, sie sind ein Stück weit entschärft. Und das ermöglicht der Türkei, wieder auf die USA zuzugehen. Die Türkei ist ein NATO-Mitglied, und die NATO-Mitgliedschaft wurde auch in den vergangenen zwei, drei, vier Jahren nicht infrage gestellt. Die Türkei kam ihren Verpflichtungen, ihren militärischen Verpflichtungen nach.
    Aber jetzt wird die Türkei stärker auf Europa und die USA wieder zugehen, weil die Türkei in der Region, in der Nahostregion viele Rückschritte hinnehmen musste, diplomatische, außenpolitische Rückschläge erleiden musste. Und auch die schwächelnde Wirtschaft ist ja ein Anreiz für die Regierung, wieder stärker auf die EU und die USA zuzugehen.
    "Noch ist die türkische Justiz in einem desolaten Zustand"
    Engels: Herr Aydin, soweit wir sehen, hat sich ja der Umgang der Türkei mit ausländischen Inhaftierten generell in letzter Zeit etwas liberalisiert. Da gab es einige Freilassungen. Wie sieht es denn aber im Inland aus? Können denn die türkischen Kritiker Erdogans oder mutmaßliche Anhänger der Gülen-Bewegung mit etwas nachgiebigerem Handeln des Staats rechnen?
    Aydin: Es bleibt abzuwarten. Noch kann man von einer demokratischen Wende nicht sprechen. Es kamen auch einige türkische Journalisten und Journalistinnen frei. Aber noch ist die türkische Justiz in einem desolaten Zustand. Noch erwarte ich nicht eine radikale Wende in dieser Frage. Aber das hat sich ein bisschen gelockert, seitdem ja das System, das Präsidialsystem sich verfestigt hat. Nachdem Erdogan seine Macht verfestigt hat, ist die Türkei nicht mehr so streng gegenüber den Oppositionellen. Aber noch gibt es weitere Probleme, und noch sitzen sehr viele kritische Journalisten in der Haft, und deswegen würde ich sagen, es bleibt abzuwarten. Eine Lockerung kann man beobachten, aber noch sind die Probleme nicht behoben, noch ist die Rechtsstaatlichkeit auch nicht wieder hergestellt. Darüber sollten wir uns nicht hinwegsetzen.
    "Außenpolitisches Kalkül" im Fall Khashoggi
    Engels: Viele Beobachter waren ja auch überrascht, dass die Türkei plötzlich im Fall des verschwundenen saudischen Journalisten Khashoggi Bekenntnisse zu Rechten von Journalisten abgab. Was steckt denn da hinter?
    Aydin: Außenpolitisches Kalkül. Klar, es ist nicht hinnehmbar – falls Saudi-Arabien dafür verantwortlich ist, und es gibt einige Indizien dafür, – es ist natürlich nicht hinnehmbar, dass Saudi-Arabien auf türkischem Boden eine derartige Operation durchführt. Es ist nicht hinnehmbar. Da ist natürlich die Kritik der Türkei berechtigt. Aber auf der anderen Seite ist diese Kritik auch nicht sehr glaubwürdig, weil in der Türkei auch Journalisten im Gefängnis sitzen, kritische Journalisten im Gefängnis sitzen. Deswegen ist das nicht glaubwürdig. Aber ich gehe mal davon aus, dass die Türkei mit Saudi-Arabien Verhandlungen führen wird, und auch da gibt es Interessenkonflikte, und es ist eine Möglichkeit, um da einen Ausgleich herbeizuführen.
    !Engels:!! Yasar Aydin, Sozialwissenschaftler und Politologe an der Evangelischen Hochschule in Hamburg. Wir sprachen mit ihm über die jüngsten Entwicklungen rund um den Fall Brunson in der Türkei. Vielen Dank!
    Aydin: Sehr gern!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.