Freitag, 19. April 2024

Archiv

"Freischütz"
Geisterreigen ohne Wald

Von Julia Spinola | 19.01.2015
    Ungestümer, schroffer und dramatischer als an diesem musikalisch sensationellen Premierenabend hat man die "Freischütz"-Musik kaum je gehört. Sebastian Weigle fächert den Klang der fabelhaft gestisch spielenden Staatskapelle zu einem Kaleidoskop der Hölle auf. In die wilde Streicher-Hetzjagd am Ende der Wolfsschlucht-Szene blitzen gleißende Bläserakzente hinein wie Spukerscheinungen. Doch nicht nur hier, in dieser Paradeszene der Schauerromantik, zeigt der Schrecken seine Fratze. Er lauert schon in den abgründigen Eintrübungen der Ouvertüre, durchzittert das vermeintliche Biedermeieridyll von Agathes Stube und verwandelt sogar den strammen Jägerchor in ein schier überschnappendes Ansingen gegen die Angst.
    Passend zu Weigles schonungsloser Zuspitzung der Musik inszeniert Michael Thalheimer die beliebteste deutsche Oper als apokalyptisches Endspiel. Alles, was der kriegstraumatisierten "Freischütz"-Gesellschaft in der Oper noch einen, wenn auch dubiosen, Halt bietet, hat der für seine Verdichtungen berühmte Schauspielregisseur rabiat getilgt. In seinem "Freischütz" gibt es keinen deutschen Wald, keine Jägerromantik und keine anheimelnde Forsthausszenerie. Stattdessen sind wir optisch im schrundigen Leib eines Gewehrlaufs gefangen, dessen Schussloch aufs hintere Bühnenende zielt. Schließlich hängt das Glück von Max und Agathe ja vom Gelingen des Probeschusses ab. Der schwarze Jäger Samiel treibt als düsteres Rumpelstilzchen permanent sein Unwesen in diesem Albtraum-Szenario, das kahl und gottlos wirkt, wie nach einem Atomschlag. Er ist der Strippenzieher und so etwas, wie das fleischgewordene Verdrängte dieser Gesellschaft: das Böse, das Lüsterne, das Ungebärdige. Das lebensfrohe Ännchen, fabelhafte gesungen von Anna Prohaska, steht sogleich unter seinem erotisierenden Bann, wenn es seine Ariette vom hübschen, schlanken Burschen anstimmt.
    Die Musik hat Thalheimer nicht angetastet, dafür aber die Dialoge beinahe komplett gestrichen. Übrig bleibt eine Aufführungsdauer von zwei Stunden. Gespielt wird ohne Pause. Derart abrupt aneinander gereiht und ohne die Übergänge der handlungstragenden Dialoge muten auch die Musiknummern eigentümlich versprengt und surreal an. Das ist interessant, aber es funktioniert nicht wirklich. Denn der "Freischütz" ist bei aller Modernität und trotz der Ästhetik des Romantisch-Abgründigen, eben dennoch kein "Wozzeck". Das wahre Unbehagen über das Zerbrechen der Konventionen stellt sich in dieser Oper erst auf der Folie einer scheinbaren Normalität ein. Lässt man, wie Thalheimer, die Konventionen von vorneherein weg, dann fehlt die Pointe. Streckenweise kippt seine Intention, den "Freischütz" zu radikalisieren, gar ins Gegenteil. Die Beziehungslosigkeit zwischen den Figuren etwa, die Thalheimers Regie zeigen will, hat zur Folge, dass die Sänger immer wieder ermüdend lange an der Rampe singen. Glücklicherweise profitiert der Abend von durchweg glanzvollen Sängerleistungen. Dorothea Röschmann ist mit ihrem jugendlich-dramatischem Soprantimbre eine ergreifende Agathe, Burkhard Fritz ein immerhin stimmlich heldenhafter Max, Falk Struckmann ein imposanter Kaspar. Nur vergisst man stellenweise das ganze Schauer-Dekor einfach und fühlt sich wie in einer konzertanten Aufführung.