Donnerstag, 25. April 2024

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Freischwimmer

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, liebe Hörer, aber ich bin schon lange nicht mehr im Kino gewesen. Warum? Nun, das Kino meint mich nicht. Zwar verfehlt der verlockende Popcorngeruch durchaus nicht meine Nase, aber Popcorn kann man auch auf dem Rummelplatz essen, auf dem ich – zugegeben! – auch schon lange nicht mehr war. Der Rummelplatz meint mich nämlich ebenfalls nicht, die Zeiten, in denen mir die Geisterbahn einen heillosen Schrecken einjagte, liegen Jahrzehnte zurück. Also schiebe ich, übermannt mich das regressive Bedürfnis nach süßen Maisflocken, die entsprechenden Körner in die Mikrowelle und versorge mich selbst. Voilà: Kino ist etwas für die, die sich nicht selbst versorgen können. Mehr als 75% aller Kinogänger sind zwischen vierzehn und neunundzwanzig Jahren alt. Da es mittlerweile "comme il faut" geworden ist, das Ende der Pubertät auf die Vollendung des dreißigsten Lebensjahres zu datieren, bedient der Markt nur noch diese Alterskohorte mit seinen Instantprodukten. Das verbliebene Viertel an Erwachsenen weiß sich ohnehin selbst zu helfen und kann die Gefühls- und Identitätskrücken der Traumfabriken im Schrank verstauben lassen.

Florian Felix Weyh | 17.08.2000
    Die Rede ist von einem Buch, nicht von einem Film, aber die Parallelen bleiben überdeutlich. Auch die Verlagskonzerne schielen aufs magische Segment "14 bis 29", als seien diese jungen Menschen wahre Titanen der Informationsverarbeitung. Filme sollen sie schauen, Musik hören, am Computer spielen und dann auch noch lesen. "Easy reading" könnte man nennen, was seit Jahren für diese Altersgruppe auf den Markt gefeuert wird und unter diversen Labels den schönen Schein unzerkratzter Oberflächenpolitur darbietet. In diesem Chor bislang untergegangen ist die Stimme des Hamburgers Markus Seidel – wohl weil er nicht beim Boygroup-Impressario Kiepenheuer&Witsch erscheint, sondern im angegrauten Knaur Verlag. "Freischwimmer" heißt sein zweiter Roman und impliziert sofort die typische Kritikerfrage, wie man im seichten Gewässer überhaupt schwimmen kann? Die Geschichte des Berliner Buchhändlers Hannes ist symptomatisch für die "14 bis 29"-Kultur: Eines Morgens wacht er leidlich verstimmt auf, muß zu lange auf seinen Busenfreund im Café warten, findet obendrein noch einen Seitensprung implizierenden Zettel seiner Freundin vor und beschließt darob, sich eine Auszeit zu gönnen. Ein Erwachsener würde sich kurz grämen und dann mit dem gewohnten Leben fortfahren. Aber so ist sie, die im Dauermoratorium großgewordene Jugend der späten neunziger Jahre: null Frustrationstoleranz. So stößt Hannes bei seiner ziellosen Tour durch Berlin auf ähnlich haltlose Existenzen, deren Leben sich zwischen den Polen "ewige Jugend" und "erfüllte Sexualität" bewegt. Ein klassisches Party-Biotop – nur unwesentlich unterbrochen von Perioden der Erwerbsarbeit ... irgendwann hören die Eltern nämlich auf zu zahlen. Dann kellnert man oder jobbt in der Werbung, je nachdem ob man sich schon so früh auf ein Berufsfeld festlegen will.

    Bis auf den sozio-ökonomischen Status der Figuren gleicht diese Welt der Urzeugung aller "Popliteratur", Christian Krachts Roman "Faserland" von 1995. Bei Seidel hält sich der Drogen- und Alkoholkonsum freilich in Grenzen, der Held erscheint als melancholischer Taugenichts in Identitätswirren, dem nicht der kleinste Zynismus über die Lippen rutscht. Sein Leben ist ebenso okay wie das wohlstandsgesättigte Schlaraffia namens Bundesrepublik, und die in fünfundzwanzig Jahren angesammelte Halbbildung des Helden – hie eine Heidegger-Erwähnung, da eine Handke-Anmutung – bezeugt den ordnungsgemäßen Abschluß einer formalen Schulbildung. In einem Punkt freilich deckt die sorglos dahingetuschte Skizze auf, warum die Verlage vielleicht doch irren, wenn sie den Marketingstrategien Hollywoods folgen: Keiner unter denen mit so reicher Freizeit gesegneten Adoleszensverlängerern in Seidels Roman liest Bücher. Warum auch? Das Leben tanzt auf einem ganz anderen Parkett, und selbst "easy reading" nötigt einen zum Rückzug aus der Spaßgemeinde. Vielleicht, so stille Hoffnung des Kritikers, reguliert der Markt die Überschußproduktion von selbst, indem die Beschriebenen sich nicht mehr lesend wahrnehmen wollen.